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"Weimar" war die am häufigsten gebrauchte Chiffre im Selbstfindungsprozess der Deutschen nach 1945. Dort wollte man wieder "anknüpfen", aber auch lernen, was vermieden werden sollte. Weimar, das waren Nationalversammlung und Verfassungsgebung, die "goldenen Zwanziger", die Inflation, die Blockierung der Politik, der "Parteienstaat", die Koalition der "Systemfeinde", das war leuchtendes Vorbild, aber auch Chaos und Vorhölle zum NS-Staat. Christoph Gusy hat auf seiner Bielefelder Tagung daraus die Frage formuliert, wie die frühe Bundesrepublik mit Traum und Trauma von "Weimar" umgegangen ist, wie sie die Aneignung von Historie betrieben und in Politik umgesetzt hat. Auf diese Fragen antworten zunächst Wolfram Pyta mit einem souveränen Überblick über den jahrzehntelangen schrittweisen Prozess der Historisierung von Weimar, sodann Elke Seefried über die Grübeleien der Exilpolitiker, was "falsch gelaufen" und künftig zu vermeiden sei – überraschend antiparlamentarische und autoritäre Grübeleien übrigens. ...
Während des Kalten Kriegs, in den späten fünfziger Jahren, gab es DDR-Kampagnen gegen die "Blutrichter" des NS-Staates, die in der Bundesrepublik wieder in ihre Ämter als Richter und Staatsanwälte gelangt waren. Bald folgten auch in Westdeutschland Ausstellungen, Vorlesungsreihen und eine unübersehbare Zahl von Publikationen, in denen nicht nur die personellen Kontinuitäten skandalisiert, sondern auch weiterwirkende Denkmuster der Rechtsprechung selbst behauptet wurden. Die sowjetische Besatzungszone, die nach 1945 alle bürgerlichen Richter, von denen etwa 80% NSDAP-Mitglieder gewesen waren, entlassen hatte, gab sich vor diesem Hintergrund selbstzufrieden als "antifaschistischer" Staat. Die NSDAP-Mitgliedschaft zahlreicher eigener Kader hielt sie verborgen. ...
Das seit etwa zwanzig Jahren gesteigerte internationale Interesse an der Geschichte des Völkerrechts ist offenbar der wissenschaftliche Reflex einer geänderten Weltlage. Wo neue staatliche und nichtstaatliche Akteure auftreten und die gewohnten räumlichen Grenzen sich auflösen, wo Kriege mit neuen Mitteln geführt und nicht mehr in klassischer Weise begonnen und beendet werden, verschiebt sich auch der Normenkomplex des Völkerrechts. Seine akademischen Vertreter registrieren eine Auflösung der alten Epocheneinteilung, die dem Zug der Welt- bzw. Kolonialreiche folgte, ein Wiederaufflammen der Figur des "gerechten Kriegs" sowohl im Namen der Religion als auch der "humanitären Intervention". Neben den Tendenzen zur Universalisierung der Menschenrechte und zur Konstitutionalisierung der Weltordnung gibt es eine robuste Rückkehr zu nationalstaatlichen Egoismen und autoritären Regimen, die sich jede Einmischung in innere Angelegenheiten verbitten. ...
Grégoire Bigot, Rechtshistoriker an der Universität Nantes, ist wie Pierre-Laurent Frier und François Burdeau, denen er beiden verbunden ist, Spezialist für die Geschichte der französischen Verwaltung und des Verwaltungsrechts vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine beiden Bände "L’Administration française" sind heute das maßgebende Handbuch für die Zeit bis 1944 – ein dritter Band wird erwartet. Im vorliegenden Sammelband vereint er nun acht große Artikel aus den Jahren 2000 bis 2012, die sich mit Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart befassen. In einer sehr informativen Einleitung von fast 50 Seiten werden das Forschungsfeld selbst sowie dessen Wissenschaftsgeschichte entfaltet. Die Studien sind nicht europäisch vergleichend angelegt, sondern – von kurzen Seitenblicken auf Italien und Deutschland abgesehen – ganz auf Frankreich konzentriert. ...
Täglich nutzen wir Einrichtungen, die uns selbstverständlich geworden sind. Sie gehören uns, den Bürgern, nur in einem übertragenen Sinn, und wir beherrschen sie auch nicht. Die hinter ihnen stehenden technischen und politischen Voraussetzungen verstehen wir meist nur ansatzweise. Wir verbrauchen Strom und Trinkwasser, werden mit Fernwärme, Erdgas oder Öl "versorgt", informieren uns (man beachte die Wassermetaphern) "aus allgemein zugänglichen Quellen" einschließlich des "Surfens" im Internet (Art. 5 Abs. 1 GG), steigen in öffentliche Verkehrsmittel, fahren über wohlgeglättete Straßen oder fliegen mit gebremsten Angstgefühlen von Kontinent zu Kontinent. Währenddessen werden unsere Abwässer geklärt und wird unser Müll entsorgt. Dies alles vollzieht sich durch gewaltige Netzwerke, Röhrensysteme und Kabel im Untergrund sowie über der Erde auf Verkehrsflächen und Schienen, durch Überlandleitungen, Versorgungs- und Entsorgungseinrichtungen, die wir kaum noch wahrnehmen. Wir sind auf sie angewiesen und bezahlen sie auch, mehr oder weniger stillschweigend, über Gebühren oder Steuern. Wir erwarten, dass ein weit verstandener "Staat" oder eine von ihm kontrollierte Privatwirtschaft dies alles unterhält und finanziert, einschließlich ehrgeiziger Großprojekte wie "Stuttgart 21", "Flughafen Berlin" oder "Elbphilharmonie". Was seit Ernst Forsthoffs berühmter Studie von 1938 "Daseinsvorsorge" genannt und ständig erweitert wurde, heißt seit den fünfziger Jahren – vermittelt über den Wortgebrauch der NATO – "Infrastruktur". In ihr versammeln sich alle Garantien unseres Lebensstils, aber sie bilden zugleich das "Gehäuse unserer Hörigkeit" wie man mit Max Weber sagen könnte. Insgeheim fürchten wir die damit verbundenen Abhängigkeiten, die alltäglichen Risiken, die Gefahren des Kollapses und die Verletzlichkeit gegenüber externen Angriffen. ...
Zugegeben, ich habe mich einmal lustig gemacht über die wachsende Zahl der "Handbücher", habe über die jedermann altersgemäß zukommende Festschrift gespottet, aber gleichzeitig an Handbüchern und Festschriften mitgearbeitet. Den darin steckenden Widerspruch kann ich nicht auflösen. Doch loben darf man, wenn es etwas zu loben gibt: Das vorliegende dreibändige Handbuch verdient große Bewunderung. Seine 2538 Seiten geben einen bisher nicht möglichen Überblick über die äußere und innere Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit im In- und Ausland. Die Bände sind übersichtlich gegliedert. Der erste Band enthält in kleinen, monographisch gestalteten Aufsätzen die "Vorgeschichte" im Alten Reich und im 19. Jahrhundert (Teil I), dann – nach 1871 – die ersten reichsweiten Verwaltungskontrollen, im Schwerpunkt aber in 17 Abschnitten die Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeiten aller deutschen Länder und der Hansestädte bis zur Gegenwart (Teil II). Dabei steht Baden bekanntlich an der Spitze, und Preußen mit seinem Oberverwaltungsgericht bildet das Schwergewicht. Wir erfahren auf dem Weg über Hessen-Darmstadt, Württemberg und Bayern, Sachsen und Thüringen bis in die letzten Winkel kleinstaatlicher Verhältnisse, wie es unter den besonderen staatsrechtlichen Bedingungen des deutschen Föderalismus dazu kam, das noch in der Paulskirche favorisierte justizstaatliche Modell (§ 182) schrittweise durch eigenständige Verwaltungsgerichte zu ersetzen und die dort zunächst noch kompromisshaft zugelassene erstinstanzliche Dominanz der Verwaltung abzubauen. Dieser Prozess war langwierig. Nicht nur der Problemdruck der Streitfälle war in Preußen, Bremen oder Mecklenburg unterschiedlich, ebenso die Verfassungslage von Reich und Ländern nach 1871 und 1918, die parteipolitische Landschaft war ungleich, und es fehlte lange an einer obersten Instanz auf Reichsebene. Das nach dem "Anschluss" Österreichs von 1938 und dann 1941 noch gegen die NSDAP geschaffene, aber mit einem Mann aus dem "Braunen Haus" unglücklich besetzte Reichsverwaltungsgericht konnte diese Vereinheitlichung nicht leisten. ...
Die Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts, ein noch schwaches Pflänzchen im Garten der Rechtsgeschichte, kann erfreuliche Zuwächse verzeichnen, und zwar aus der Schweiz. Zum einen sind in Band 130 (2011) der Zeitschrift für Schweizerisches Recht zwei große, fast Buchformat erreichende Aufsätze erschienen, von Anne-Christine Favre, Cent ans de droit administratif: de la gestion des biens de police à celle des risques environnementeaux, 227–330 sowie von Benjamin Schindler, 100 Jahre Verwaltungsrecht in der Schweiz, S. 331–437. Zum anderen gibt es das hier zu würdigende Werk von Andreas Kley, der in Zürich Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie lehrt. Nimmt man diese drei Arbeiten zusammen und fügt noch die Verfassungsgeschichte der Schweiz des unvergessenen Alfred Kölz (1944–2003) hinzu, dann kann geradezu von einem Quantensprung gesprochen werden. ...
Die Lektüre des Buchs beginnt mit dem Titel. Er ist offenbar bewusst vage gehalten. "Die Juristen", als Gattung oder Stand, als Denktypus, als wissenschaftliche Formation? Geht es um Juristen aller Herren und Länder? Und was bedeutet "kritische Geschichte" – ist eine unkritische denkbar? Handelt es sich um eine soziologische historische Studie zur Ausbreitung der Juristen und eine Analyse ihres Einflusses? "The Jurists" ist also ein anspruchsvolles Portal, hinter dem sich jedenfalls kein Juristenlexikon verbirgt. Treten wir also ein und sehen wir zunächst, welchen Ballast Gordley abwerfen musste, um sein Schiff flott zu bekommen. ...
Die Studie der Frankfurter Historikerin ruht auf ihren früheren Arbeiten über frühneuzeitliche politische Predigten, vor allem in den Forschungsbibliotheken Gotha und Wolfenbüttel, sowie auf einem Projekt im Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen". Ein Forschungskonzept "Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit" lag bereits seit 2007 vor. Daraus ist nun ein Buch geworden, an dem man aus mehreren Gründen die innere Balance vermisst und das viel enger zugeschnitten ist, als der weite Titel verheißt. Die Autorin möchte in der vielstimmigen religiös-politischen Semantik des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts jene Position besonders herausheben, die als "politica christiana", "Christliche Politik" oder "Christen-Staat" bezeichnet wurde. Sie unterstreicht, im Einklang mit der neueren Forschung, dass solche christlichen und naturrechtlichen Begründungen eines Widerstandsrechts und die Betonung der Frömmigkeit für Herrschende und Beherrschte keine Außenseiterpositionen und keine Spezialität des Luthertums waren, sondern in Europa konfessionsübergreifend diskutiert und weitgehend akzeptiert wurden. Das Thema eines möglichen Widerstands gegen eine religiös-konfessionell unterdrückerische Obrigkeit ist nur ein Aspekt jener weiter gefassten "christlichen Politik". Dass auch die Lutheraner über das Widerstandsrecht diskutierten, vor allem im 16. Jahrhundert, ist unbestreitbar. Sie taten dies ebenso wie Katholiken oder Calvinisten, wenn sie konfessionspolitisch in Bedrängnis waren. Das war naheliegend. Aber genügt es, um den vielfach bestätigten Gesamtbefund, das Luthertum habe aufgrund seiner an die weltliche Obrigkeit angelehnten Struktur auch stärker obrigkeitlich gedacht, zum Vorurteil zu erklären? ...
Vom "Staat der Mitte" zum "Reich der Mitte" scheint es nicht weit zu sein. Aber so, dass die Bewohner des "Staates der Mitte" sich als Zentrum der Welt und die am Rande wohnenden Völkerschaften als Barbaren betrachten, möchte der Osnabrücker Staatsrechtler seine Verfassungsgeschichte nicht verstanden wissen. Deutschland ist ihm vielmehr die geographische und historisch-politische Mitte zwischen Ostund West-, Nord- und Südeuropa, aber auch das Gemeinwesen "mittlerer" konsensorientierter Lösungen zwischen Etatismus und Civil Society, und als föderativer Staat ein Gebilde in der Mitte zwischen Einheitsstaat und Staatenbund. ...
Aussagen über den "Zustand" der Rechtsgeschichte in verschiedenen Ländern sind schwer zu gewinnen und zu gewichten. Akademische Fächer als reale Verbandspersönlichkeiten sind ohnehin eine luftige Konstruktion. Die Zahlen der Professuren in Relation zur Zahl der Universitäten, die Abschlussexamina der Juristenausbildung (mit oder ohne rechtshistorischen Anteil, mit oder ohne Bologna-Modell), die Zahl der Dissertationen, die Ausstattung der Bibliotheken und viele andere Daten lassen sich natürlich erheben. Aber schon die Ausgangspunkte sind unterschiedlich. In den meisten Ländern widmen sich die Rechtshistoriker nur ihrem Fach, während sie in Deutschland in der Lehre auch geltendes Recht vorzutragen und im Examen zu prüfen haben. ...
Von Inter- und Transdisziplinarität wurde und wird viel gesprochen. Die oft karikierte "Antragslyrik" zur Gewinnung von Drittmitteln lebt davon. Eine wirkliche Durchdringung verschiedener Fächer findet dagegen nur selten statt, und zwar nicht nur aus Trägheit oder mangelnder Kompetenz. Spezialisierung und entsprechende Blickverengung, Fachsprachen, unterschiedliche Arbeitsziele und -bedingungen machen den Blick über den Tellerrand tatsächlich schwer. Aber gelegentlich gelingt doch etwas. Der Öffentlichrechtler Erk Volkmar Heyen, Emeritus der Universität Greifswald, hatte sich vorgenommen, die europäische Malerei daraufhin zu mustern, ob sich in ihr Motive finden, die sich auf gute und schlechte Politik, weltlichen und religiösen Staat, Verwaltung, Städte, Freiheit und Zwang, Wohlfahrt und Fürsorge, Juristen und anderes Staatspersonal beziehen, kurzum auf alles, was ein Gemeinwesen oder einen Staat ausmacht. Er hat dies, wenn auch mit vielen dankbar genannten Helfern, im Alleingang realisiert und auf diese Weise Interdisziplinarität wirklich praktiziert. ...
Die deutsche Debatte um die Geschworenengerichte mit ihren Höhepunkten im Vormärz sowie nach der Reichsgründung von 1871 gehört zu den besonders interessanten wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen. Sie ist ein Fenster zur Rechts- und Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, aber auch wissenschaftsgeschichtlich eine Fundgrube für die Vermengung rechtshistorischer Erkenntnisinteressen mit politischen Nebenabsichten. ...
Rezension von: Barbara Wolbring: Trümmerfeld der bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945 –1949). Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 87, Göttingen 2014, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-5253-6014-9 488 Seiten, 69,99 Euro.
"Mit dem Erscheinen des vorliegenden Registerbandes ist das 'Historische Wörterbuch der Philosophie' abgeschlossen", so Gottfried Gabriel in der Vorbemerkung. Freilich ist ein wirklich "abgeschlossenes" Lexikon nur schwer vorstellbar. Es ist eine in Stichworte gedrängte Verkürzung eines bestimmten Segments der Welt. Die Auswahl der Stichworte zeigt implizit, was eine Redaktion, aber auch eine ganze Autorengeneration "in ihrer Zeit" für wichtig hielt. Zwischen den Stichworten gibt es Leerräume, die in immer feinerer Differenzierung gefüllt werden könnten. Neue Begriffe tauchen ständig auf. Der philosophische Diskurs fließt. Nachtragsbände müssten sich anschließen, das Ganze würde im Internet als "lebendiges Lexikon" mit fortwährenden Ergänzungen sozusagen als "philosophia perennis" im Sinne von Joachim Ritter fortbestehen. Käme es zu einer zweiten Auflage, dann würde man die Feldarbeit von tausendfünfhundert Autoren nochmals aufnehmen und mit Sicherheit ergäben sich viele Verschiebungen und Ergänzungen. Mit anderen Worten: Kaum hat der Stein den Gipfel erreicht, stürzt er wieder abwärts. Lust und Verzweiflung der Lexikographen. ...
Auf dem von Sabine Holtz bearbeiteten Feld kreuzen sich Forschungslinien der württembergischen Landesgeschichte, der Bildungs- und Sozialgeschichte, der Geschichte des Beamtentums und der Rechtswissenschaft. Es geht, ähnlich wie in Rudolf Stichwehs Buch "Der frühmoderne Staat und die europäische Universität" (1991), um die "Interaktion von Politik und Erziehungssystem". Um die Fragen konkreter zu machen, werden Begrenzungen eingeführt, nicht nur territorial und zeitlich auf das Württemberg des 17. Jahrhunderts, sondern auch durch Konzentration auf die 418 Beamten der Zentralbehörden des Herzogtums. Was haben diese Kanzler und Vizekanzler, Landhofmeister, Oberräte, Regierungsratssekretäre, Kanzleiadvokaten, Rentkammerräte, Rentkammer-Expeditionsräte, Kirchenräte und Kirchenratsadvokaten studiert? Waren es Landeskinder, sind sie in Lateinschulen oder Gymnasien vorbereitet worden, und schließlich, wie haben sie gelebt? ...
Wer an die allmähliche Verbesserung der Menschheit durch den "Fortschritt" glaubt, muss das immer wieder auftauchende Verbrechen für die letzte Bastion des Irrationalen halten. Je mehr man über Kriminalität weiß, desto größer wird die Herausforderung ihrer Beseitigung. Seit der Mitte des fortschrittstrunkenen 19. Jahrhunderts entsteht deshalb nicht nur der Kriminalroman, sondern es bemächtigen sich auch die Naturwissenschaften des Verbrechens und der Verbrecher. Das Rätsel Kriminalität scheint lösbar durch Biologie, Medizin, Eugenik und Psychiatrie. Schädel werden vermessen, man sucht Merkmale für "geborene Verbrecher", streitet um die Merkmale "geistiger Minderwertigkeit" und kombiniert dies mit Kriminalstatistiken und Milieustudien der beginnenden Soziologie. Die Juristen spüren, dass der ganze Sanktionsapparat von Schuld und Vergeltung durch die Aufdeckung determinierender Faktoren ins Wanken kommt. Setzen sie nicht mehr auf die Freiheit, sondern auf den Schutz der Gesellschaft, dann haben sie Schwierigkeiten zu begründen, dass der Schutz irgendwo aufhören muss, da man nicht alle "Minderwertigen" vorsorglich einsperren kann. Also erwägt man (neben anderen Schutzmaßnahmen) deren Sterilisation. Wenn es "geborene Verbrecher" gibt, dann sollte sich doch, so meinte man, wenigstens auf diesem Weg die nächste Generation dieser unerwünschten Variante des Menschseins verhindern lassen. ...
"Die Frage nach Rollen, Handlungsräumen und Deutungen von Frauen und Männern in der sozialen Praxis politischer Geschichtsprozesse wurde bisher kaum untersucht." So schwungvoll und unzutreffend steht es in der Einleitung dieser Untersuchung. Die Verfasserin mag aber damit Recht haben, wenn sie sich den Untersuchungsgegenstand in bestimmter Weise zurechtlegt. Das geschieht so: Sie richtet ihr Hauptaugenmerk auf die "geschlechter- und alltagsgeschichtliche Perspektive", untersucht nur die "Hochverratsverfahren gegen den linken Widerstand" und sie sortiert vor allem die in Frage kommenden 258 Prozesse vor dem Volksgerichtshof in der Weise, dass herauskommt, was herauskommen soll. Die Autorin sagt es selbst: "Ausschlaggebend war … mein Ziel, Frauen soweit wie möglich selbst als Handelnde ins Blickfeld zu rücken und sie nicht von vornherein nur als Begleiterinnen des männlichen Widerstandes zu verstehen". ...
Raul Hilberg ist heute einer der bekanntesten Holocaust-Forscher der Welt. Er hat Preise und Orden bekommen, zuletzt in Deutschland die höchste Stufe des Verdienstordens der Republik und den Geschwister-Scholl-Preis 2002. Seine Anfänge waren eher mühsam. Seit 1948 studierte der 1938 mit seinen Eltern aus Wien in die USA geflohene Hilberg die Akten, die papierne Hinterlassenschaft des großen Mordens. Jahrzehntelang lehrte und schrieb er an der kanadischen University of Vermont. 1961 erschien sein dreibändiges Hauptwerk "The Destruction of European Jewry". Eine erste deutsche Ausgabe blieb fast unbeachtet. Die Taschenbuchausgabe von 1990 brachte den Durchbruch. Nun wurden auch die übrigen Bücher erfolgreich (Sonderzüge nach Auschwitz, Mainz 1981; Täter, Opfer, Zuschauer, Frankfurt 1992; Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt 1994). ...
Man erwartet einen der spannendsten Briefwechsel der deutschen Staatsrechtslehre des 20. Jahrhunderts, den zwischen der großen "bête noire" Carl Schmitt und seinem neben Ernst Rudolf Huber wohl bedeutendsten Schüler Ernst Forsthoff. Erhalten sind Briefe, Briefentwürfe, Postkarten und Telegramme, 218 von Forsthoff und 141 von Schmitt. Doch ist schon die Verteilungskurve dieser Korrespondenz merkwürdig. Die ersten 16 Nummern liegen in den Jahren 1926 bis 1934, dann folgen nur noch eine Gratulationskarte (1936) und ein Kondolenzbrief (1942). Mit anderen Worten: Fast die gesamte NS-Zeit bleibt eine große weiße Fläche. Das mag daran liegen, dass es im August 1933 eine schwere Störung des Verhältnisses gab, weil Forsthoff sich für die Unterstützung des "Halbjuden" Arnold Ehrhardt eingesetzt, Schmitt aber Hilfe verweigert hatte. Die Tagebücher scheinen dies, wie deren Herausgeber Wolfgang Schuller berichtet, zu bestätigen. Möglicherweise ist aber auch viel an kompromittierendem Material vernichtet worden. Vor allem Briefe von Schmitt fehlen, auch aus der Nachkriegszeit. Schon im ersten Brief von 1948 spielt Forsthoff auf einen vorhergehenden Brief Schmitts an ("meine Briefschuld Ihnen gegenüber"), den wir aber nicht kennen. ...
Zu berichten ist über ein bedeutendes, in langjährigen Studien des Heidelberger Kirchenhistorikers entstandenes Buch. Seine Entstehungsorte waren unter anderen die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel sowie die Johannes a Lasco Bibliothek in Emden. Über den Namensgeber der letzteren, Johannes a Lasco (1499–1650), einen "polnischen Baron, Humanisten und Reformator", hat Christoph Strohm einen eigenen Tagungsband herausgebracht (Tübingen 2000). Bedeutend ist "Calvinismus und Recht" aus mehreren Gründen. Es geht dem Zusammenhang von Bekenntnis und Jurisprudenz im 16. und 17. Jahrhundert nach und fragt speziell nach den Verbindungsfäden zwischen französischem und deutschem Humanismus mit dem Calvinismus sowie nach den Entstehungsgründen des Faches Öffentliches Recht ab etwa 1600. Hatte die Ablösung vom mos italicus, die Hinwendung zur modernen Systembildung und zum Naturrecht, die Betonung historischer Textstufen im römischen Recht und die Publikation mittelalterlicher papstkritischer Traktate etwas mit dem reformierten, lutherischen oder katholischen Bekenntnis zu tun? Wie gingen die Juristen mit den theologischen Hauptstücken des Bekenntnisses um, mit Taufe, Ehe und Abendmahl, wie standen sie zum Widerstandsrecht und zu den Befugnissen der Obrigkeit, die rechte Lehre zu garantieren? Ganz entscheidend kam es darauf an, ob Zwang in Glaubensdingen erlaubt sei. ...
Friedrich Gaus (1881–1955) war Leiter der Rechtsabteilung des deutschen Auswärtigen Amtes von 1922 bis 1943, ein juristischer Fachmann des Völkerrechts par excellence. Als promovierter Assessor war er 1907 in das Amt eingetreten, wo er vom Legationsrat zum Ministerialdirektor aufstieg. Bei allen wichtigen Verträgen Deutschlands war er dabei, von Brest-Litowsk bis Versailles, vom Schieds- und Vergleichsvertrag mit der Schweiz zum Vertrag von Rapallo, vor allem aber bei dem Vertrag von Locarno und bei Deutschlands Eintritt in den Völkerbund. Gaus galt als das juristische Gehirn der auswärtigen Politik. Er begleitete Stresemann bis zu dessen Tod 1929 und war bei seiner Diplomatie stets "der im Mittelpunkt stehende juristische Experte". ...
Der italienische Büchertisch ist reich gedeckt. Enger wohl als anderswo ist die Verbindung zwischen der Welt der Gelehrten, der Universitätsausbildung und dem breiten Publikum. Es ist nicht anstößig, ein großes Thema auf hundert Seiten gemeinverständlich zu behandeln, nur die wichtigste Literatur zu verzeichnen und das Ganze in gefälliger Form unter die Leute zu bringen. Der Verlag Laterza hat mit seiner kleinformatigen Serie "Universale" gerade die Nr. 856 erreicht, in einer parallelen "Biblioteca Essenziale" die Nr. 56. Dort gibt es Klassikertexte, "Einführungen" in alle Künste und Wissenschaften, aber auch zugespitzte Thesen, aus der Rechtsgeschichte etwa von Bretone und Talamanca "Il diritto in Grecia e a Roma" oder Grossis "Prima lezione di diritto". Auch die beiden letzten Bändchen beider Reihen, die hier vorgestellt werden, stammen von bekannten Rechtshistorikern. ...
Und noch ein Buch zu Carl Schmitt! Diesmal ein Reisebericht eines Schriftstellers, der als junger Mann einmal Kontakt zu Schmitt gesucht hatte, nun aber dreißig Jahre später mit der Regionalbahn von Hagen ins Sauerland fährt, um dort den 1985 verstorbenen Wortund Ideenzauberer, das Chamäleon, das "Ungeheuer", den intellektuellen Spieler noch einmal zu imaginieren. Linder fährt also über Finnentrop in das schon sagenhaft gewordene Plettenberg, liest sich gründlich in Schmitts Œuvre ein, spricht mit allen Personen, die den kleinen Professor noch gekannt haben, vor allem seinem treuen Eckermann Ernst Hüsmert, fotografiert das Sauerland bei dem Dorf Pasel, sammelt Fotos und Faksimiles und umkreist Schmitt auf eine originelle Weise, die weit entfernt ist vom Üblichen. Linder schreibt weder ein rechtswissenschaftliches Buch noch eine chronologisch geordnete historische Biographie, sondern einen poetischen Streifzug mit einer gehörigen Portion Sympathie, aber keineswegs unkritisch. Quellenzitate aus Briefen, Tagebüchern und dem Œuvre Schmitts werden mit erfundenen, aber passenden Zitaten überblendet. ...
Seit Mitte der Sechzigerjahre gab es vielerorts Ringvorlesungen zum Thema Rechtsordnung und Juristen im Nationalsozialismus (Gießen, München, Tübingen, Berlin, später in Frankfurt, Kiel und Münster), kirchliche Akademien veranstalteten zahllose entsprechende Wochenenden. Auch die Richterakademien in Trier und Brandenburg nahmen sich schließlich der Thematik an. Das Leitwort war "Vergangenheitsbewältigung", meist eine solche der Zivil- und Strafjustiz, aber auch der Rechtswissenschaft und ihrer, wie man sagte, "Verstrickungen". Göttingen veranstaltete nun im Wintersemester 2006/07 zum zweiten Mal – nach Ralf Dreier und Wolfgang Sellert (1989) – eine solche Ringvorlesung. ...
Das hier zu besprechende Buch des an der Yale-University lehrenden Rechtshistorikers James Q. Whitman ist in Amerika mit großer Zustimmung besprochen worden, und zwar mit Recht, besonders wegen seiner Fragestellung und der Sorgfalt ihrer Bearbeitung. Der deutsche Leser gewinnt dabei den Eindruck, dass die inneramerikanische Zustimmung den Nebensinn hat, die amerikanische Gesellschaft solle nicht nur auf das rassistische Nazi-Deutschland zeigen, sondern auch die eigene Vergangenheit und Gegenwart kritisch reflektieren. ...