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Körner vertritt mit selten gewordener Entschiedenheit den Primat des Ästhetischen, man kann auch sagen: er vertritt die Autonomie der Kunst. Aber dieser Ausdruck ist missverständlich. Er bedeutet nicht, dass Künstler tun und lassen können, was sie wollen, oder dass im Bereich der Kunst ›alles möglich ist‹. Wäre im Bereich der Kunst alles möglich, dann sollte es auch möglich gewesen sein, die mehr oder minder plausiblen Ansprüche von Feierabendlesern, Zensoren, Polizeispitzeln, Westredakteuren, Parteikontrolleuren und Stasi-Überwachern wenn schon nicht zu befriedigen, so doch wenigstens so weit in die eigene Arbeit einzubeziehen, dass einer wohlwollenden Aufnahme, sei es im Osten, sei es im Westen, nichts im Wege gestanden wäre. Dass dem nicht so war, hat im gegebenen Fall einen einzigen Grund. Das Konzept, dem Körner sich verschreibt, fordert die totale Überschreibung der Selbstbeschreibung des Gemeinwesens, des ›gemeinen Wesens‹, das zugleich das ›böse‹ ist, wie es süffisant zu Beginn des Fragments vom Mensch mit einem Nietzsche-Zitat heißt.
"Die wichtigste, schwärendste Portion des Ungeschriebenen und sein entscheidender Einfluss auf die Springprozession des Schreibens liegt nach meinem Eindruck in dem, was dringend dran wäre, gedacht, gesagt und geschrieben zu werden, und was sich dem entzieht. Ist es zu schwer, zu sperrig, zu komplex? Womöglich sind ja die Arme unseres Geistes nicht kräftig genug, das eigentlich Benötigte zu stemmen."
Die Grenzen der Welt
(2008)
Ein junger Dozent der Philosophie reist im Mai 1941 ins besetzte Paris. Eingeladen hat ihn die kulturpolitische Abteilung der deutschen Botschaft, das Deutsche Institut. Im Jahr darauf erscheint der Pariser Vortrag bei Vittorio Klostermann unter dem Titel Volk und Geschichte im Denken Herders. Man liest dort, Herder betreffend: »So sieht er (und nimmt darin eine Einsicht vorweg, die uns aus Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung über den »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« geläufig ist): jedes Leben hat einen geschlossenen Horizont, um in dieser »Mäßigung des menschlichen Blickes (die »Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit« gegen das Ungleichartige und Fremde der Vergangenheit zur Folge hat) mir auf dem Mittelpunkte Genüge zu geben, der mich trägt.« In einem auf seine Vorurteilslosigkeit stolzen Jahrhundert erkennt Herder die Kraft des Vorurteils, glücklich zu machen, indem es »Völker in ihrem Mittelpunkte zusammendrängt«.
Die moderne Lyrik gilt als die Erfindung eines französischen Lyrikers: Charles Baudelaire (1821–1867). Das muss ungewohnt klingen, wenn man die Geschichte der Literatur seit dem 17. Jahrhundert als eine Geschichte der Modernisierungen begreift. ›Modern‹ muss hier etwas anderes bedeuten als etwa bei Charles Perrault (1628 – 1703), der sich in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, der Auseinandersetzung um den Vorrang der ›alten‹ (antiken) oder der ›neuen‹ Kultur, nachdrücklich auf die Seite der ›Modernen‹ geschlagen hatte. Die moderne Lyrik gehört in den Zusammenhang jener literarischkünstlerischen Moderne, deren Anfänge in der Literaturwissenschaft auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert werden. Sie setzt die spezifische Modernität der romantischen und bürgerlich-realistischen Poesie bereits voraus und negiert sie. Damit muss sie genauer jener Krise der ›neuzeitlichen‹ Moderne zugerechnet werden, die im ›Fin de siècle‹ und schließlich in und nach dem Ersten Weltkrieg für eine Reihe extremer Umbrüche im kulturellen ›Design‹ Europas steht. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, dass während mehrerer Jahrzehnte Gedichte zu den erregendsten Hervorbringungen der europäischen Intellektuellenkultur zählten. Eine Frage ist, wie groß die Zahl der ›Gebildeten‹ war, die an diesem Abenteuer des Geistes Anteil nahmen, eine andere die nach der Intensität dieser Erfahrungen und ihrer Ausstrahlung in andere Bereiche.
Paul Mersmann, Europäer
(2008)
Der Surrealismus, die europäische Sprachschule der Zwischenkriegszeit, ist nicht tot. Er hat die leichtgewichtigen Werke Bretons und Aragons überlebt, das Ende der Ismen und den neuen Verismus, weil er in der Werbung und der Politik mächtige und prinzipiell unabschaffbare Verbündete besaß. Er musste sie nicht erst lang überzeugen. In ihm fanden sie willkommene Werkzeuge ihrer Überzeugungsarbeit. Der elitäre Kommunarismus, der massendemokratische Elan, der jede einzelne Handlung mit einer Zukunft verbindet, die weiß und offen in einem kochenden Weltall schwebt – Blochs Feuertopf (»Die Materie ist ein Feuertopf«) mitsamt dem rituellen Kopfschütteln, das er hervorruft, ist sein Erzeugnis. Der Surrealismus der Tat scheut die Macht, die er sucht. Er sucht nicht ihre Nähe, sondern sie selbst, er will sie, aber im Modus des Nichtbesitzens. Er will nicht als ihr Inhaber gelten, sondern als ihr Zerstäuber. Dazu bedarf es einer Gesellschaft von Gleichgesinnten, die es nicht gibt, die sich von Fall zu Fall erfinden muss, um den, der die Gunst der Stunde nützt, um sich in den Besitz des Zaubermittels zu setzen, wieder zu entzaubern und, wenn möglich, von der Bühne zu vertreiben.
Ein Gotteskrieger – whatever the case may be – in ›einem der ärmsten Länder der Erde‹ fordert die ›einzige verbliebene Weltmacht‹ heraus. Selbstverständlich wird er in dem mutwillig angezettelten Duell unterliegen. Aber alle kennen auch die Stimme aus dem Inneren, die unaufhörlich sagt, dass Hochmut vor dem Fall kommt, dass Weltreiche periklitieren und es sehr wohl möglich sei, dass hier und heute – hier hält sie inne, die Stimme aus dem Inneren, ein wenig erschrocken, denn sie weiß sehr wohl, dass alles, was sie zu sagen wüsste, im Aussprechen schal werden müsste: einerseits dem Gelächter preisgegeben aufgrund der allzu großen Disproportion zu dem, was wir ›Wirklichkeit‹ nennen, andererseits kaum mehr wert als ein Achselzucken, weil es den Grund der Welt berührt, der, wie man weiß, in allen Dingen derselbe ist und deshalb keine präzise Auskunft über das, was nächstens geschieht, ermöglicht.
George ist nicht klug. Er ist ein Fanatiker. Sein Fanatismus lässt sich in vier Wörtern zusammenfassen: Ich bin ein Dichter. Dieses Ich Georges – den Nachgeborenen erscheint es wie eine Maske, in die sich notfalls jedermann zwängen könnte. Die Not – eine Spielart jenes ominösen ›Bewusstseins von Nöten‹, das Theodor W. Adorno zufolge die moderne Kunst begleitet – scheint groß gewesen zu sein. Wer sich einliest, beginnt bald zu begreifen, dass Georges Gedichte von kaum etwas anderem sprechen. Seine Poesie ist Zwang. Nicht passiv notierter, sondern gelebter Zwang, geübt und erfahren. Das hat den Verfasser dieser Verse als einen verdächtig gemacht, der sich gewaltsam dort Zutritt verschafft, wo, der Übereinkunft nach, alle Gewalt endet: in der Dichtung. Der Verdacht ist die Kehrseite der Faszination, die von der Gestalt ausgeht. Er schimmert durch; er grundiert sie. Verständlich also, dass der Mann die Phantasie stärker beschäftigt als das ›Werk‹, auf das er vergeblich alle Blicke hinlenkt, in dem er aufzugehen gedachte wie sein Gesicht in der Totenmaske, dem bekanntesten Zeugnis, das von ihm existiert.
Die Zähmung des Zeichens
(2008)
Das Gedächtnis des Lesers, sonst eher regelscheu, besitzt eine Vorliebe für bestimmte Erzähldetails: in ihnen kondensiert sich die Kraft der Vergegenwärtigung, ohne die eine gehabte Lektüre nichts weiter meint als eine verflossene. In Raabes Odfeld ist es der zeichenhafte Naturlaut: jenes erste, »rauh, heiser und klagend« vorgetragene »Krah!«, mit dem sich der schwarze Invalide der Rabenschlacht in der Studierstube seines Retters bemerkbar macht. Ein erstes, wohlgemerkt, dem ein zweites, drittes und viertes auf dem Fuß folgt – jedesmal dann, wenn in dieser unruhigen Nacht vom vierten auf den fünften November 1761 ein Rat oder Unterschlupf Suchender die Zelle des »letzte[n] wirkliche[n] Kollaborator[s] der wirklichen Großen Schule von Amelungsborn«, des emeritierten Magisters Noah Buchius, betritt.
Holocaustum
(2008)
In Soziale Systeme (1987) rät Luhmann, ›Rationalität‹ – den Begriff und die Sache – nicht allzu willig preiszugeben, wie es überall dort geschehen sei, wo an ihre Stelle ›Selbstreferenz‹ gesetzt wurde: "Selbstreferenz ist Bedingung für Steigerungen, für Steigerung der Einschränkbarkeit, für Aufbau von Ordnung durch Reduktion von Komplexität". Zeitweise war diese Einsicht in der Form von natürlicher Selbstliebe, in der Form von sich selbst begründender Vernunft oder dann in der Form des Willens zur Macht, also in anthropologischen Verpackungen, an die Stelle des Rationalitätsprinzips getreten. Dies kann heute als eine spezifisch europäische Geste gesehen werden, die den parallellaufenden Zerfall der Rationalitätssemantik zu kompensieren versucht.