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Forschungsbedarf. Wenn man die mathematische Entwicklung in der frühen Kindheit als einen ganzheitlichen Prozess betrachtet, so gilt es, die Forschungsperspektive für unterschiedliche Lernorte zu öffnen. Einer dieser Lernorte ist die Familie, in welchem mathematische Bildungsprozesse der frühen Kindheit entscheidend von elterlichem Support beeinflusst werden. Bei der Untersuchung dieses Lernortes ist in der deutschsprachigen Mathematik-didaktik bisher eine Beschränkung auf Interviewstudien zu beobachten, in denen die Vorstellungen und Überzeugungen der Eltern zum Mathematiklernen und zur Mathematik rekonstruiert werden. Beobachtungsstudien, welche unabhängig von der Perspektive der Eltern Realisierungen von Support untersuchen, liegen bisher nicht vor. Die vorliegende Dissertation liefert einen Beitrag zur Bearbeitung dieses spezifischen Forschungsbedarfs in der deutschsprachigen Mathematikdidaktik.
Die Studie. Die durchgeführte, längsschnittlich angelegte Videostudie, die der Dissertation zugrunde liegt, ist der rekonstruktiven Sozialforschung und im Speziellen der Interpretativen Forschung in der Mathematikdidaktik zuzuordnen. Es wurden zehn Vorschulkinder und ihre Mütter ein Jahr lang in offenen Vorlese- und Spielsituationen begleitet. Als Grundlage der Analyse dienen Transkripte von ausgewählten Szenen. Die Transkriptanalyse ist durchgehend am Prinzip der Komparation orientiert und erfolgt zweischrittig: In einer Interaktionsanalyse wird zunächst die interaktionale Entwicklung des mathematischen Themas in der jeweiligen Szenen nachgezeichnet; darauf aufbauend wird die Diskursszene in einer Support-Fokussierung im Hinblick auf das hergestellte Support-System ausgedeutet.
Der Forschungsgegenstand. Gemäß der Verortung in der Interpretativen Forschung wird der Forschungsgegenstand aus sozialkonstruktivistisch-interaktionistischer Perspektive betrachtet. Demzufolge ist der Support in mathematischen Mutter-Kind-Diskursen kein einseitiges Helfen der Mutter, sondern ein von Mutter und Kind gemeinsam in der Interaktion hergestelltes Support-System.
Ergebnisse. Der Support in mathematischen Mutter-Kind-Diskursen wird in der vorliegenden Dissertation als ein Mathematics Acquisition Support System (MASS) beschrieben und aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
Die erste Perspektive ist eine allgemein sozialisationstheoretische und zeigt, dass das MASS in mathematischen Mutter-Kind-Diskursen auf unterschiedliche übergeordnete Aufgaben ausgerichtet sein kann: auf ein Mitmachen, auf einen Entwicklungsfortschritt oder auf eine freie Erkundung des Kindes. Diese Typisierung von Support-Jobs verdeutlicht, dass sich Support-Systeme gegenstandsspezifisch unterscheiden. Während das Discourse Acquisition Support System (DASS), welches im Hinblick auf die Entwicklung von Erzählkompetenz beschrieben
wurde (vgl. Hausendorf und Quasthoff 2005), ausschließlich auf eine übergeordnete Aufgabe ausgerichtet ist, kann das MASS über die Arbeit an unterschiedlichen Support-Jobs hergestellt werden. So sind Vorschulkinder im familialen Kontext in mathematische Diskurse eingebunden, die an unterschiedlichen Support-Jobs ausgerichtet sind. Dieses Ergebnis gewinnt dadurch zusätzliche Bedeutung, dass die Support-Jobs in den mathematischen Mutter-Kind-Diskursen als charakterisierend für die jeweiligen Mutter-Kind-Paare rekonstruiert werden konnten. Sowohl in Komparationen über die Zeit als auch in solchen über das Material etablieren und bearbeiten Mutter und Kind mit einer gewissen Stabilität einen spezifischen Support-Job. Die Biographie von Vorschulkindern als Mathematiklerner wird in der Familie also auf spezifische Weise geprägt.
Die zweite Perspektive ist eine genuin mathematikdidaktische und gliedert sich in zwei Teilperspektiven auf. Eine fokussiert auf das Mathematiklernen, die andere auf die Mathematik. In der Perspektive des Mathematiklernens werden Realisierungen von alltagspädagogischen Konzepten typisiert. Dabei zeigt sich, wie unterschiedlich Vorschulkinder als Mathematiklerner in Support-Systeme eingebunden werden: als Sachkundiger, als Wissender und als Denker (vgl. Olson und Bruner 1996). Anhand dieser gebildeten Typen wird das Forschungsfeld dahingehend strukturiert, welchen Konzepten vom Mathematiklernen und -lehren Vorschulkinder im familialen Kontext begegnen. In der Perspektive der Mathematik wird schließlich erarbeitet, wie Vorschulkinder und ihre Mütter in und mit ihrem je spezifischen MASS die Mathematik in den Sinnbereich ihres Alltags einbinden (vgl. Bachmair 2007): als Hilfsmittel, als Lernstoff und als Beschreibungs- und Denkmittel. Damit sind drei Typen mathematischer Sozialisation im familialen Kontext beschrieben.
Insgesamt macht die Verbindung aus einer allgemein sozialisationstheoretischen und einer mathematikdidaktischen Perspektive umfassend beschreibbar, wie Kinder im familialen Kontext in Support-Systeme zum Mathematiklernen eingebunden sind. Die Bildung unterschiedlicher Typen konnte sowohl im Hinblick auf die allgemeine Fokussierung des MASS als auch im Hinblick auf die damit realisierten Konzepte von Mathematiklernen und Mathematik vor-genommen werden. Damit ist der Lernort der Familie für die frühe mathematische Bildung und den Forschungsgegenstand des Supports strukturiert und anhand von Fallstudien beschrieben. Dieses Forschungsergebnis ist eine neue Einsicht über den bisher nur wenig erforschten Lernort der Familie und gleichzeitig eine Herausforderung für den Mathematikunterricht der Grundschule. Denn im Sinne einer Passung zwischen Familie und Schule gilt es, an die jeweiligen Interaktionserfahrungen der Kinder anzuknüpfen.
In this thesis, the focus is on the actions of primary school children using digital and analogue materials in comparable mathematical situations. To emphasise actions on different materials in the mathematical learning process, a semiotic perspective according to C. S. Peirce (CP 1931-35) on mathematics learning is adopted. This theoretical research perspective highlights the activity itself on diagrams as a mathematical activity and brings actions to the forefront of interest. The actions on comparable digital and analogue diagrams are the basis for the reconstruction of mathematical interpretations of learners in 3rd and 4th grade.
The research questions investigate to what extent possible differences between the reconstructed interpretations of the learners can be attributed to the different materials and what influence the material has on the mathematical relationships that the learners take into account in their actions to manipulate the diagram.
For the reconstruction of the diagram interpretations based on the learners' actions on the material, a semiotic specification of Vogel's (2017) adaptation of Mayring's (2014) context analysis is used. This specification is based on Peirce's triadic theory of signs (Billion, 2023). The reconstructed interpretations of the analogue and digital diagrams are compared in a second step to identify possible differences and similarities.
The results of the qualitative analyses show, among other things, that despite the different actions of the learners on the digital and analogue diagrams, it is possible to reconstruct the same diagram interpretations if the learners establish the same mathematical relationships between the parts of the diagrams in their actions. There are also passages in the analyses where the same diagram interpretations cannot be reconstructed based on the actions on the digital and analogue materials. If the digital material acts as a tool and automatically creates several relationships between the parts of the diagram triggered by an action, then the reconstruction of the learners' diagram interpretations based on the analysis of their actions is partially possible. If the tool automatically establishes relationships, these must then be interpreted by the learners using gestures and phonetic utterances to understand the newly created diagram. Thus, a tool changes how mathematical relationships are expressed, because learners no longer have to interpret the relationships before their actions to manipulate the diagram itself, but afterwards through gestures and phonetic utterances. Regarding diagrammatic reasoning according to Peirce (NEM IV), this means that with analogue material the focus is on the construction and manipulation of diagrams through rule-guided actions, whereas with digital material, which functions as a tool, there is more emphasis on observing the results of the manipulations on the diagram.
At the end of the thesis, a recommendation for teachers on how to design mathematics lessons for primary school children using digital and analogue materials will be derived from the results.
The literature cited in this summary can be found in the references of the presented thesis.
Ausgangspunkt der Forschungsarbeit ist der Gebrauch von Gesten in mathematischen Interaktionen von Lernenden. Es wird untersucht, inwiefern Gesten Teil des mathematischen Aushandlungsprozesses sind. Damit ist die Rekonstruktion einer potentiell fachlichen Bedeutung des Gestengebrauchs beim Mathematiklernen das zentrale Forschungsanliegen.
Theoretisch gerahmt wird die Arbeit von Erkenntnissen aus der psychologisch-linguistischen Gestenforschung zur systematischen Beschreibung von Gestik im Zusammenspiel mit der gleichzeitig geäußerten Lautsprache (McNeill, 1992; Kendon, 2004). Es werden ebenso ausgewählte Forschungen zur Gestik beim Mathematiklernen beleuchtet (Arzarello, 2006; Wille, 2020; Kiesow, 2016). Die mathematikdidaktische Interaktionstheorie begründet den sozial-konstruktivistischen Lernbegriff (Krummheuer, 1992). Ausgewählte Aspekte der Semiotik nach C. S. Peirce bieten eine theoretische Fundierung des Zeichenbegriffs und des Kerns mathematischen Agierens, verstanden als diagrammatisches Arbeiten (Peirce, 1931, CP 1.54 u. 1932, CP 2.228).
Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Forschungsarbeit ist der linguistische Ansatz der Code-Integration und -Manifestation von redebegleitenden Gesten im Sprachsystem nach Fricke (2007, 2012) in Verbindung mit dem Peirce’schen Diagrammbegriff. Diese Perspektive ermöglicht eine theoretische Fundierung der zunächst empirisch beobachtbaren Multimodalität der Ausdrucksweisen von Lernenden beim gemeinsamen Mathematiktreiben. Der Peirce’sche Diagrammbegriff dient hierbei zur Rekonstruktion einer systemischen Relevanz von Gesten für das Betreiben von Mathematik: Bestimmte Gesten sind semiotisch als mathematische Zeichen beschreibbar und haben potentiell konstituierende Funktion für das diagrammatische Arbeiten der Lernenden. Der übergeordnete Forschungsfokus lautet: Wie nutzen Grundschüler*innen Gestik und Lautsprache, insbesondere in deren Zusammenspiel, um ihre mathematischen Ideen in den interaktiven Aushandlungsprozess einzubringen und über den Verlauf der Interaktion aufzugreifen, möglicherweise weiterzuentwickeln oder auch zu verwerfen? In der Ausdifferenzierung wird die Funktion der verwendeten Gesten und die Rekonstruktion von potentiell gemeinsam gebrauchten Gesten der Interagierenden in den Blick genommen.
Methodisch lässt sich die Forschungsarbeit der qualitativen Sozialforschung (Bohnsack, 2008) bzw. der interpretativen mathematikdidaktischen Unterrichtsforschung zuordnen (Krummheuer & Naujok, 1999). Es werden Beispiele aus mathematischen Interaktionssituationen ausgewertet, in denen sich Paare von Zweitklässler*innen mit einem mathematischen Problem aus der Kombinatorik und der Geometrie beschäftigen. Eine eigens theoriekonform entwickelte Transkriptpartitur dient zur Aufarbeitung der Videodaten. Mit der textbasierten Interaktionsanalyse (Krummheuer, 1992) und der grafisch angelegten Semiotischen Analyse (Schreiber, 2010) in einer Weiterentwicklung der Semiotischen Prozess-Karten (Huth, 2014) werden zwei hierarchisch aufeinander aufbauende Analyseverfahren verwendet.
Zentrale Forschungsergebnisse sind 1) die funktionale und gestalterische Flexibilität des Gestengebrauchs beim diagrammatischen Arbeiten der Lernenden, 2) die Rekonstruktion von Modusschnittstellen der Gesten mit anderen Ausdrucksmodi in Funktion, interaktionaler Bedeutungszuschreibung und Chronologie, und 3) die häufige Verwendung der Gesten als Modus der Wahl der Lernenden in mathematischen Interaktionen. Gesten weisen eine unmittelbare und voraussetzungslose Verfügbarkeit auf, eine funktionale und gestalterische Flexibilität in der mathematischen Auseinandersetzung und die Möglichkeit, Funktionen anderer Modi (vorübergehen) zu übernehmen. Es zeigt sich eine konstitutive und fachliche Bedeutung der Gestik für das mathematisch-diagrammatische Agieren der Lernenden. In der Arbeit wird daraus schließlich das doppelte Kontinuum der Gesten für das Mathematiklernen entwickelt. Es zeigt in der Dimension der Funktion des Gestengebrauchs und der Dimension des Objektbezugs der Gestengestalt die Vielfältigkeit der Gestenfunktionen im gemeinsamen diagrammatischen Arbeiten der Lernenden und gibt Einblick in die verwendeten Gestengestalten.
Die Forschungsarbeit offenbart den Bedarf einer Beachtung von Gesten in der fachdidaktischen Planung und Gestaltung von Mathematikunterricht und in der Erforschung und Diagnostik der mathematischen Entwicklung von Lernenden. Es handelt sich bei Gesten in mathematischen Interaktionen nicht um ein reines Beiwerk der Äußerung, sondern um einen fachlich bedeutsamen Modus in Bezug auf das Mathematiklernen. Der Gebrauch von Gestik ermöglicht die Erzeugung von Diagrammen im Handumdrehen und eröffnet perspektivisch eine Erforschung ihrer Bedeutung für mathematische Lehr-Lern-Prozesse.
Die in dieser Zusammenfassung angegebene Literatur findet sich im Literaturverzeichnis der vorgelegten Forschungsarbeit.
Interactional niche in the development of geometrical and spatial thinking in the familial context
(2016)
In the analysis of mathematics education in early childhood it is necessary to consider the familial context, which has a significant influence on development in early childhood. Many reputable international research studies emphasize that the more children experience mathematical situations in their families, the more different emerging forms of participation occur for the children that enable them to learn mathematics in the early years. In this sense mathematical activities in the familial context are cornerstones of children’s mathematical development, which is also affected by the ethnic, cultural, educational and linguistic features of their families. Germany has a population of approximately 82 million, about 7.2 million of whom are immigrants (Statisches Bundesamt 2009, pp.28-32). Children in immigrant families grow up with multiculturalism and multilingualism, therefore these children are categorized as a risk group in Germany. “Early Steps in Mathematics Learning – Family Study” (erStMaL-FaSt) is the one of the first familial studies in Germany to deal with the impact of familial socialization on mathematics learning. The study enables us to observe children from different ethnic groups with their family members in different mathematical play situations. The family study (erStMaL-FaSt) is empirically performed within the framework of the erStMaL (Early Steps in Mathematics Learning) project, which relates to the investigation of longitudinal mathematical cognitive development in preschool and early primary-school ages from a socio-constructivist perspective. This study uses two selected mathematical domains, Geometry and Measurement, and four play situations within these two mathematical domains.
My PhD study is situated in erStMaL-FaSt. Therefore, in the beginning of this first chapter, I briefly touch upon IDeA Centre and the erStMaL project and then elaborate on erStMaL-FaSt. As parts of my research concepts, I specify two themes of erStMaL-FaSt: family and play. Thereafter I elaborate upon my research interest. The aim of my study is the research and development of theoretical insights in the functioning of familial interactions for the formation of geometrical (spatial) thinking and learning of children of Turkish ethnic background. Therefore, still in Chapter 1, I present some background on the Turkish people who live in Germany and the spatial development of the children.
This study is designed as a longitudinal study and constructed from interactionist and socio-constructivist perspectives. From a socio-constructivist perspective the cognitive development of an individual is constitutively bound to the participation of this individual in a variety of social interactions. In this regard the presence of each family member provides the child with some “learning opportunities” that are embedded in the interactive process of negotiation of meaning about mathematical play. During the interaction of such various mathematical learning situations, there occur different emerging forms of participation and support. For the purpose of analysing the spatial development of a child in interaction processes in play situations with family members, various statuses of participation are constructed and theoretically described in terms of the concept of the “interactional niche in the development of mathematical thinking in the familial context” (NMT-Family) (Acar & Krummheuer, 2011), which is adapted to the special needs of familial interaction processes. The concept of the “interactional niche in the development of mathematical thinking” (NMT) consists of the “learning offerings” provided by a group or society, which are specific to their culture and are categorized as aspects of “allocation”, and of the situationally emerging performance occurring in the process of meaning negotiation, both of which are subsumed under the aspect of the “situation”, and of the individual contribution of the particular child, which constitutes the aspect of “child’s contribution” (Krummheuer 2011a, 2011b, 2012, 2014; Krummheuer & Schütte 2014). Thereby NMT-Family is constructed as a subconcept of NMT, which offers the advantage of closer analyses and comparisons between familial mathematical learning occasions in early childhood and primary school ages.
Within the scope of NMT-Family, a “mathematics learning support system” (MLSS) is an interactional system which may emerge between the child and the family members in the course of the interaction process of concrete situations in play (Krummheuer & Acar Bayraktar, 2011). All these topics are addressed in Chapter 2 as theoretical approaches and in Chapter 3 as the research method of this study. In Chapter 4 the data collection and analysis is clarified in respect of these approaches...