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Der Ausnahmezustand
(2020)
Wenn wir die Berechtigung der Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie unterstellen, dann deshalb, weil wir darauf hoffen, dass sie greifen und etwas bewirken, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft. Tun sie es, ist alles gut. Aber was, wenn nicht – und wenn der Zustand, der durch sie eintritt, länger und länger dauert, vielleicht ein Ende auch gar nicht absehbar ist? Dazu drei knappe, aber grundsätzliche Bemerkungen aus der Sicht der Staatstheorie, des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie.
Wie lässt sich ein gemeinsamer Grund formen, der eine heterogene Gesellschaft verfassen kann? Ein Grund für alle. Keiner soll mehr dürfen, sein (haben) als der andere. Seit den Anfängen des Konstitutionalismus gewinnt der Gleichheitssatz an Fahrt und Gerechtigkeit wird nach und nach zu einer An-, Auf- und Abrechnungssache. Wer wem was und wie viel in Rechnung stellt, ist eine Frage, die an der jeweiligen Begründung hängt. Hierum kümmern sich die je befugten Teilsysteme des Rechts- qua Rechenbetriebes, wobei sich die dem Entscheid folgende gefährliche Begründung durch eine "Berechtigkeits"-Buchhaltung ergänzt bzw. – etwa nach dem Wegfall der peinlich gewordenen Schuldfrage im Scheidungsrecht – sogar beinahe ersetzt sieht. Begründungen sind nämlich immer prekär, provozieren den Widerspruch der Gegenseite, anstatt die Wogen zu glätten. ...
Das rhetorische Ensemble
(2006)
Auf dem Tisch liegt die zweite Auflage von Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1968) von Claus-Wilhelm Canaris, erschienen Berlin 1983. Die schriftliche Fassung basiert auf einem rhetorischen und mündlichen Ereignis, seinem Habilitationsvortrag. Spuren davon finden sich noch im Text. Das gilt für die Spuren, die Rhetorik immer schon in nicht-mündlichen Texten wie der Schrift hinterlassen hat, also etwa in den Kompositionsregeln und den Regeln des Umgangs mit Figuren und Stil. Die rhetorische Spur findet sich darüber hinaus an herausragenden Stellen in den kurzen Hinweisen und Adressen, die scheinbar außerhalb der eigentlichen Schrift selber stehen. In einem Fall findet sich z. B. in Kursivschrift eine Widmung an den verehrten Lehrer Karl Larenz, in einem anderen erinnert der Autor daran, dass der Vortrag am 20. Juli gehalten wurde. Es sind kurze und knappe Hinweise auf denMoment, an dem ein Jurist eigenständig, zu seinem autonomen System wird und eine eigene Lehrbefugnis erhält. Sie sind noch rhetorisch, weil sie in ihrem Aufspüren von Referenzen an den Lehrer und an historische Daten vollziehen und reflektieren, was sich in solchen Augenblicken geziemt. Sie begegnen einem an der Schwelle des Textes – also kurz bevor man sich auf die sachliche Ordnung des Textes einlässt. An der Schwelle wird die letzte Gelegenheit ergriffen, dem Text eine genealogische Adresse zu verleihen. Es sind (um selbst rhetorisch zu werden) letzte Tankstellen vor der Autobahn. Sie markieren keine Systembrüche, sie markieren den Eingang in den Text, der sich in einer rhetorischen Transmission positioniert. In der Architektur der Argumentationsführung sind diese Stellen der Bogen, der durchschritten wird, unmittelbar bevor die Lektüre beginnt – oder mit denen die Lektüre beginnt. Das hängt schon davon ab, wie man Rhetorik vom System abgrenzt. ...
Ein beunruhigendes Gefühl, ausgelöst durch die knappe Mitteilung auf dem Anrufbeantworter: Walter Wilhelm ist gestorben. Das Gefühl, dass es mir zukomme, über diesen Toten einen Text zu schreiben. Weil anders wahrscheinlich niemand über ihn schreiben würde. Was freilich gleichgültig ist, wegen der Kraftlosigkeit von Geschriebenem, das sich einer Person zu bemächtigen sucht, und angesichts der Flüchtigkeit von Texten im Gedächtnis. Wozu also schreiben – zumal Walter Wilhelm ein emphatischer Gegner akademischer Nachrufe war, grimmiger Verächter sentimental verklärter Lügengeschichten und ins Grab geschleuderter professoraler Hochrufe, die dem einsamen Leben nicht gegönnt waren? Aber manche Worte lassen sich nicht auf Dauer bändigen, bohren sich hartnäckig in die Geschäfte des Tages, winken und starren abends mit vorwurfsvollen Augen auf eine beginnende Bequemlichkeit. Man muss ihnen nachgeben und hoffen, dass sie einen nicht unversehens im Stich lassen.
Mitte der 70er Jahre war ich manchmal bei Walter Wilhelm zu Gast. Wir hatten uns bald nach meinem Dienstantritt als Professor an der Universität Frankfurt im Jahre 1968 kennen gelernt. ...
"Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde". Wir wissen das. Wir wussten es vermutlich schon lange bevor der "Prediger" Salomo (3.1), der ein Philosoph war, uns vor nunmehr gut 2200 Jahren darüber belehrte. Aber wir handeln nur selten nach unseren Einsichten. Trennungen fallen schwer und Gewohnheiten verkleiden sich bereitwillig als Notwendigkeit. Verschwendung ist den Reichen keine Kategorie, und wer vom Verschwender lebt, erhebt keine Vorwürfe. Schließlich das Wichtigste: Wer außer Gott hat Kraft und Befugnis "Zeit" und "Stunde" zu bestimmen? ...
Wenn in deutscher Gegenwart über Rhetorik gesprochen wird, dann darf man davon ausgehen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit auch die packende Geschichte ihres weiland unrühmlichen Unterganges und ihres alsdann strahlendenWiederaufstiegs erzählt wird. Es ist eine sehr schöne Geschichte, denn sie lässt sich lang oder kurz erzählen, sie kann personalisiert und dramatisiert werden – etwa: wie die bedeutenden Bürger Kant und Goethe, obwohl selbst große Rhetoriker, hässliche Dinge über das "Wortgeklingel" verbreiteten, aber am Ende doch nicht Recht behielten –, aber auch wissenschaftsgeschichtliche Aufbereitungen mit "Aufklärung" und "Naturwissenschaften" und "Positivismuszeitalter" bis hin zu "Renaissance" und "Ubiquität der Rhetorik" etc. sind jederzeit möglich.
Gewiss, bei näherem Zusehen ist manches an der Geschichte so ganz richtig nicht. Wie immer, wenn man in DER Geschichte zu "genau" wird, erweist sich das Gespinst leicht als undicht und brüchig. Aber das kann und darf den echten Historiker, auch den Wissenschaftshistoriker, nicht davon abhalten, seine Geschichten immer wieder zu erzählen, denn dafür hat ihn die Gesellschaft bestellt.
Premiere
(2003)
Die 1968 gegründete Zeitschrift "Kritische Justiz" stand anfangs am äußerst linken Rand der juristischen Publikationen. Auch der Rezensent, der in einer Ausgabe des Jahrgangs 1970 die Neuauflage der Lebenserinnerungen des KommunistenMax Hoelz "Vom 'Weißen Kreuz' zur roten Fahne" besprach, machte aus seinem dezidiert linken Standpunkt kein Geheimnis: die Neuauflage sei "wichtiges Lehrmaterial für die gegenwärtigen Klassenkämpfe" (Kritische Justiz 1970, 363–365). ...
Geschichtsschreibung lebt davon, dass sie Veränderungen beobachtet. Selbst eine Geschichte des Augenblicks kommt nicht ohne ein Vorher und ein Nachher aus. Es gibt keine Geschichte ohne Ereignis und ohne die Differenz, welche sie als "Zeit" begreift und beschreibt. Rechtsgeschichte hat es mit Veränderungen im Recht zu tun. Das Recht eines beliebig gesetzten Zeitpunkts X wird betrachtet und danach beurteilt, was neu, was anders geworden, was gleich geblieben ist. Das muss erst einmal erkannt und beschrieben werden, ehe man nach den Gründen fragt, warum es denn anders geworden ist, und zwar so und nicht anders anders geworden ist. ...
In Band 1 dieser Zeitschrift wurde ein "Vorschlag" gemacht, wie – mit welchem Erkenntnisziel und welchem theoretischen Gerüst – man Rechtsgeschichte betreiben könnte. Dieser Vorschlag wurde von zwei Kollegen kommentiert: Simon Roberts zeigte sich skeptisch, ob ein systemtheoretischer Ansatz für vormoderne Gesellschaften überhaupt brauchbar sei, und besorgt um den Verlust des Menschen sowie konkurrierender Theorien in der Geschichtsschreibung. Marc Amstutz hingegen drängte auf erhöhte theoretische Genauigkeit, insbesondere was die Bedeutung exogener und endogener Faktoren von evolutiven Prozessen betrifft. Beiden sei herzlich gedankt. ...