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Letzte Fragen
(2004)
Eine Debatte anzuzetteln ist immer ein Risiko. Wer von den – sorgsam, wenn auch letztlich arbiträr ausgewählten – Angeschriebenen und Angesprochenen wird auf die freundliche Einladung einen freundlichen Absagebrief schreiben oder gar nichts schreiben oder nur telephonieren? Wer aus der weiten Welt der Rechtsgeschichte-Leser wird sich beteiligen, ohne ermuntert worden zu sein? Wer wird sich auf die Sache, und das heißt hier die Frage, einlassen? Und wie? Wird es eine spannende Debatte werden oder eine langweilige Bestandsaufnahme? Phantasie oder Inventur? Fußnoten oder Thesen? ...
Punktierkunst
(2005)
Ach, Festschriften. Was soll man zu diesem weiter und weiter vor sich hinwesenden Wesen noch sagen? Unwesen? Nun, es gibt natürlich Ausnahmen von der Sitte, mehr oder weniger lieblos herausgekramte oder lieblos verfasste Schreibversuche von Kollegen, Schülern, Freunden, oder solchen, die sich dafür halten, als Hommage für einen mehr oder weniger alt gewordenen Mann zusammenzudrucken. Eine solche Ausnahme zu sein versprechen Titel, Umfang und Adressat einer 2004 im Heidelberger Synchron Verlag erschienenen, von Rüdiger Campe und Michael Niehaus herausgegebenen Festschrift. Der Titel: "Gesetz. Ironie". Eine feine Symmetrie. Sechs Buchstaben auf der linken, sechs Buchstaben auf der rechten Seite. C’est chic. Und die Worte sind gut, und gut gewählt. Wer wird schon an einem Buch vorbeigehen, das ein solch schönes Wortpaar ziert. Und dann auch noch ein rätselhafter Punkt in der Mitte, der erst recht Neugierde weckt. Der Umfang: Einvierteltausend Seiten, also ein Viertel des Üblichen. Im fettsüchtigen Zeitalter des Quadriple-XLFood ein Leichtgewicht. Der Adressat: Manfred Schneider, 60 Jahre, und in seiner Wissenschaft, dem Nachdenken über Literatur, so etwas wie ein Garant für das Zusammentreffen von Strenge und Ironie, wie die Herausgeber zu Recht hervorheben. Also, drei Gründe, die Festschriftsache etwas näher zu betrachten. ...
Was hält die Gesellschaft zusammen? Wie schafft man es, dass sich die Menschen nicht gegenseitig massakrieren? Wo ist der Frieden? Alte Fragen, fürwahr. Die Antworten liegen seit jeher geborgen irgendwo zwischen Selbstorganisation und Fremdorganisation, zwischen Selbstherrschaft und Fremdherrschaft, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Konkret: Brauchen die Menschen, um friedlich miteinander auszukommen, eine Instanz, die ihnen zeigt, wo es lang geht? Oder finden und haben die Menschen einen Grund in sich selbst, um nicht zu Mördern zu werden?
Der französische Arbeitsrechtler Alain Supiot hat nun eine Antwort auf diese Fragen gegeben, eine Antwort in einer Zeit, in der – trotz George W. Bush, Interventionsvölkerrecht und europäischem Direktivenwahn – die Teile über das Ganze, das Periphere über das Zentrale, das Internet über das Diktaphon zu triumphieren scheinen. ...
Pourquoi Legendre?
(2006)
Das ist noch vornehm formuliert. Kommt man hierzulande auf Pierre Legendre zu sprechen, dann fallen die Kommentare von Verwaltungsrechtlern und Rechtshistorikern, also den Fachkollegen des französischen Gelehrten, drastisch aus. Vornehme Zurückhaltung wird kaum geübt, gefragt wird auch nicht, das Urteil steht fest: eine besonders spinnerte Spielart von French Theory. Man kennt das Verurteilungsspiel, meist sind Franzosen Objekte des Insults: Foucault – ein nihilistischer Phantast; Derrida – der Verderber unserer Jugend; Baudrillard – der Weltauflöser. Natürlich sind dies nicht die Urteile der modebewussten Intellektuellenschickeria, sondern des deutschen Normalprofessors, bei dem allenfalls der eher bodenständige, nachgerade empiristische Bourdieu durchgehen mag. ...
Es ist wirklich nicht zum Lachen: ernsthaft aussehende Männer, bärtig, dunkel. Fundamentalisten nennt man sie, im Westen, und eine fundamentale Anspruchshaltung haben sie in der Tat. Der Mitgründer der Islamischen Heilsfront, der "Großinquisitor" oder auch "algerischer Savonarola" genannte Ali Benhadj, hat es nach seiner Entlassung aus langjähriger Haft in Algier klar gesagt: "Da wir ein muselmanisches Volk sind, kann es bei uns keinen Widerspruch geben wie im Westen. Der Koran ist die höchste Referenz … Die Leute des Buches – die Christen und die Juden – dürfen in der muselmanischen Gesellschaft ihre Religion praktizieren. Aber wir sind gegen diejenigen unter ihnen, die sich unter Ausnutzung der Schwäche der Unwissenden in Kämpfer verwandeln und Muslime konvertieren … Das sind Spione und Geheimagenten" (Interview Le Monde vom 4. April 2006). Widerspruch zwecklos. Ali Benhadj trägt keinen Bart. ...
Raymond Queneau, nach wie vor allseits bekannt durch Zazie dans le métro, legte vor 46 Jahren ein schmales zehnseitiges Werk vor. Bis heute hat kein Mensch auf der Welt es ganz lesen können. Selbst bei unablässiger Lektüre bei ganz durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit brauchte ein Einzelner weitere hundertneunzigmillionenzweihundertachtundfünfzigtausendsiebenhundertfünf Jahre dazu. Das Werkchen heißt Cent mille milliards de poèmes. Es handelt sich um zehn Sonette, deren je 14 Zeilen längs in Streifen geschnitten sind, so dass sie einzeln durchgeblättert werden können, womit der Leser 10 hoch 14 Sonette aufschlagen und kombinieren kann. Am Anfang steht der König: Le roi de la pampa retourne sa chemise. ...
Dieses Jahr ist ein Jahr des Schreckens. Fast Tag für Tag empört sich die Zeitungswelt in der lautesten Weise über vermüllte Kinder, Gefolterte, mit dem Koran verprügelte Frauen, Begnadigungen der besonderen Art, Geruchsproben von Meinungsäußerern, Schrottimmobilien, Großkapital und Erbschaften, Dopingtäter, Schrottpublikationen. Ein typographisch gedehntes Greinen über die Vielzahl von Schlechtigkeiten der Menschen. Was tun? ...
Sowohl in den 1920er als auch in den 1960er und 70er Jahren waren materialistische bzw. marxistische Ansätze Bestandteil des Rechtsdiskurses. Diese Orientierung ist seitdem etwas aus dem Blick geraten. Man kann vielleicht sogar sagen, dass die materialistischen Ansätze auf dem Terrain der Rechtstheorie eher marginalisiert sind. Im Laufe der letzten Jahre hat Sonja Buckel in einer Reihe von Artikeln1 und in ihrem vor kurzem erschienenen Buch Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts diese Fehlentwicklung in der Rechtstheorie zu korrigieren versucht. Die theoretische Originalität und soziologische Umsicht, mit der Sonja Buckel auf diesem Weg die weitreichenden Ansprüche einer materialistischen Rechtstheorie zu erneuern versucht, wären sicherlich schon Grund genug, sich mit ihrer materialistischen Theorie des Rechts gründlich auseinander zu setzen. Immerhin gelingt es ihr, im Gang ihrer Argumentation auch den Stellenwert einer Reihe von zeitgenössischen Ansätzen der politischen und rechtlichen Theorie im Rahmen der sozialen Auseinandersetzungen zu klären, von denen zumindest die europäischen Länder heute geprägt sind. Aber ein weiterer und für mich wesentlicher Grund, ihre Überlegungen mit großer Sorgfalt zu prüfen, ergibt sich aus der speziellen These, die sie als einen Leitfaden ihrem Erneuerungsversuch zugrunde legt: Es ist ihre Überzeugung, dass das Recht sich in kapitalistischen Gesellschaften seine "gespenstige Eigenwelt" (9) erzeugt. Die Faszination ihrer Theorie besteht gerade im Versuch, diese "phantasmagorischen" bzw. verdinglicht-verdinglichenden Prozesse des Rechts, seine Verselbständigung also, einer sowohl theoretischen als empirischen Analyse zu unterziehen. ...
In der Konstitutionsphase des zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechtsschutzes in Deutschland Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte Bernhard Grossfeld, rechtsvergleichend durch französisches und anglo-amerikanisches Recht inspiriert, sich 1960 für eine Renaissance der Privatstrafe als Sanktion für Persönlichkeitsrechtsverletzungen ausgesprochen. In ihrer Kieler Habilitation aus dem Jahre 2002 widmet sich Ina Ebert diesem Thema erneut und unternimmt nunmehr eine rechtshistorische Legitimation für die Wiedereinführung des Rechtsinstituts der Privatstrafe bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Sie zielt gewissermaßen auf die Wiederherstellung des Zustandes des späten gemeinen Rechts vor dem von ihr kritisierten deutschen Sonderweg des 19. Jahrhunderts. Dieser Zustand war durch das Vorhandensein von drei Sanktionen gekennzeichnet: (1) ziviler Schadensausgleich für Vermögensund Nichtvermögensschäden (gemeinrechtliche actio legis Aquiliae), (2) Privatstrafe für Ehrverletzungen (actio iniuriarum) und (3) öffentliche (Kriminal-)Strafe. ...
Der Wandel von Perspektiven, Deutungen, Methoden und Themen bestimmt den wissenschaftlichen Fortschritt. Deshalb zerbricht die Vorstellung sicheren Wissens über die Generationen hinweg, so dass sich die Vergangenheit in den historisch arbeitenden Kulturwissenschaften in immer neuen Methodenwenden verändert. Der moderne Mut, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aktiv in die Subjektivität ihrer Perspektivierungen einzubauen, bringt die steuernde Macht des Erkenntnisinteresses und seiner Veränderungen vermehrt zur Geltung. Dabei geraten selbst traditionelle Kontrollinstanzen der historisch-kritischen Hermeneutik in die Debatte. Während heute die einen das Vetorecht der Quellen beschwören, stellen andere die beständig verformende Kraft des Gedächtnisses und damit die Relativität punktueller schriftlicher Fixierungen heraus. ...
This article focuses on the ius theutonicum Magdeburgense, its meaning and functions, attempting to understand what ius theutonicum meant for contemporaries. It starts with the present interpretation of the term. This is followed by a detailed analysis of the available medieval privileges for Magdeburg law issued for towns in Galician Rus’. The result was not an identification or "reconstruction" of a particular "law" or combination of different "laws" adopted in town courts of Galician Rus’ under the term ius theutonicum. It was rather the recognition that the notion called ius theutonicum in medieval documents was an adaptable pattern applicable to different conditions, a model with many variants or a general set of principles which was filled with real content and adapted to concrete circumstances.
Welches Rechtsdenken verkörpert der Spätscholastiker Francisco de Vitoria, und was ist seine Bedeutung für das Völkerrecht? Der Moraltheologe Vitoria (um 1483–1546) wird als Vater des Völkerrechts bezeichnet, sein Verdienst in der Fortentwicklung des ius gentium zu einem ius inter gentes gesehen. Im Zuge des Rechtfertigungsdiskurses der Conquista begriff Vitoria die indigenen Völker Mittel- und Südamerikas nicht als inferior, sondern als Teil einer universellen Rechtsgemeinschaft. Mit "De Iure Belli Hispanorum in Barbaros" und "De Indis recenter inventis" 1538/39 spezifizierte er die Lehre des bellum iustum und wirkt mit seinen Ideen noch über Hugo Grotius hinaus bis in die heutige völkerrechtsgeschichtliche und friedensethische Forschung. Ein Diskussionsforum zu Werk und Person bot die Konferenz Francisco de Vitoria und die Normativität des Rechts des Frankfurter Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen" in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Institut für Theologie und Frieden.* Die Veranstaltung des Cluster-Teilprojekts "Die Schule von Salamanca" (Matthias Lutz-Bachmann) knüpfte inhaltlich und personell an die Tagung Lex and Ius in the Political Theory of the Middle Ages (Dezember 2007) an. Neben Gästen wie Merio Scattola, Juan Cruz Cruz und Norbert Brieskorn referierten auch die Mitarbeitenden am Frankfurter Lehrstuhl für Philosophie Kirstin Bunge, Anselm Spindler und Andreas Wagner über ihre Forschungen. ...
Dieses Buch ist laut Vorwort aus einer Lehrveranstaltung hervorgegangen, die der Verfasser für die Schwerpunktfächer Handels- und Gesellschaftsrecht, Unternehmens- und Steuerrecht sowie Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherung an der Universität Bonn anbietet. Es ist in 16 – mit Großbuchstaben bezeichnete – Kapitel gegliedert, hinter denen sich 4 Hauptteile von sehr unterschiedlichem Umfang erkennen lassen. Zunächst ("A. Einleitung") wird das Buch vorgestellt: Es will nicht Wissenschaftsgeschichte, sondern die Entwicklung rechtlicher Regeln und Institutionen darstellen; sein Gegenstand liegt weithin neben dem klassischen Privatrecht, ist aber wesentlich weiter, als der – erst im 20. Jahrhundert entstandene und nach wie vor wenig klare – Begriff des Wirtschaftsrechts suggeriert. Im Mittelpunkt steht die Zeit von 1800 bis 1970. Der zweite Teil präsentiert die Vorgeschichte. ...
Erneut legt Prodi eine höchst anregende Synthese der Evolution okzidentalen Rechts vor. War es ihm in seinem "Sakrament der Herrschaft" um die sakral-ethische Dimension bei der Begründung von Herrschaft gegangen, richtet er nun sein Augenmerk auf den die westliche Rechtskultur prägenden, fortdauernden Dualismus zwischen Ethik/Gewissen einerseits und streitiger Gerichtsbarkeit/geschriebenem Recht andererseits. Prodi hält es für eine Illusion des zeitgenössischen Rechtsverständnisses, diesen Dualismus im positiven, "eindimensionalen und selbstreferentiellen Gesetz" sowie in den Verfassungen – also durch die umfassende Verrechtlichung aller ethischen Fragen – ein für allemal aufgelöst zu sehen (11, 455 ff.). Vielmehr werde das rationale, positivierte Recht durch ethische Herausforderungen – etwa der Gentechnik – erneut schmerzlich an diesen uralten Dualismus erinnert (11). Der historischen Forschung wirft Prodi dagegen vor, den ideengeschichtlichen Hintergrund des Rechtsverständnisses überzubetonen und so die institutionelle Verankerung (ordinamenti) der Rechtsvorstellungen zu vernachlässigen. Wegen dieser allzu einäugigen Wahrnehmung der Entwicklung des Rechts setzt Prodi sich zum Ziel, die herkömmlichen Sichtweisen um ein zweites Auge zu erweitern, indem er konsequent vom frühen Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert auch auf die ethische Norm und deren Anwendung vor Gericht, insbesondere vor dem forum internum, blickt. ...
Bellomo legt eine monumentale Untersuchung zu zwei Sammelhandschriften von Quästionen vor: BAV Arch. S. Pietro A.29; Chigi E.VIII. 245. Seitdem er sie erstmals 1969 untersucht hat, haben ihn diese Handschriften nicht mehr losgelassen. Es sind geradezu "seine" Quästionen geworden. Daneben sind Quästionen auch "seine" juristische Literaturgattung, die für ihn der Inbegriff seiner Vision eines "Systems des Jus Commune" (660–667) sind. Denn in den legistischen Quästionen (die kanonistischen lässt er weitgehend beiseite) schufen die wenig bekannten Juristen zwischen der Mitte des 13. Jahrhunderts und ca. 1340 logisch argumentative Denkschemata, die es ihnen erlaubten, jede auftauchende Rechts- oder Tatsachenfrage unter eine der vielen von Bellomo herausgearbeiteten Kategorien von quaestiones oder von nomina iuris zu fassen. Außerdem konnte nur in den quaestiones das leidige Problem gelöst werden, wie sich das klare Recht auf die stets neuen Fallkonstellationen und Tatsachenfragen anwenden ließ und wie sich das feststehende Ius Commune zu dem bloß wahrscheinlichen und daher argumentativ zu überprüfenden lokalen Statutarrecht verhielt. Diese Dichotomie drückt Bellomo im Titel mit fatti/certezze einerseits und diritto/dubbi andererseits aus. Es geht ihm jedoch nicht um Fragen der Beweiserhebung und Beweiswürdigung eines vergangenen Sachverhaltes als Grundlage für die Rechtsanwendung. Derartige erst noch zu ermittelnde Fakten spielen thematisch keine Rolle. ...
Bartolus "down under"
(2003)
In einem abgedunkelten Raum der Heidelberger rechtshistorischen Bibliothek am Friedrich-Ebert-Platz findet man separiert die wertvollen Rara-Bestände; darunter auch die letzte Ausgabe der Opera Omnia des Bartolus von Sassoferrato (1314–1357), die in Venedig 1615 für die Bedürfnisse juristischer Praktiker verlegt wurde. Friedlich vereint stehen die Folianten Rücken an Rücken, Regal an Regal, Wand an Wand – so als ob sie seit den Gründungsjahren der Universität im 14. Jahrhundert, mindestens aber seit der Zeit der Druckerpresse und damit ihrer eigenen Herstellungszeit, schon immer so gestanden hätten. Kommunizieren die Bücher etwa heimlich miteinander, wenn niemand sie beobachtet? ...
Die Erinnerung ist eine seltsame Macht und bildet den Menschen um, schreibt Erich Kästner. Wie sich Menschen und insbesondere der sogenannte "gemeine Mann" in der Vergangenheit an die Vergangenheit erinnerten und wie sie soziale Wirklichkeit und deren Veränderung wahrnahmen, ist Thema eines Sammelbandes von – meist jüngeren – Historikern. Als Dokumente der Wahrnehmungen des "einfachen Mannes" werten sie Zeugenverhörprotokolle aus. Derartige Protokolle liegen für den Bereich nördlich der Alpen erst seit der Frühen Neuzeit in großer Zahl und Ausführlichkeit vor, weswegen alle Beiträge zum deutschen Raum sich diesen Untersuchungszeitraum gewählt haben. Allerdings vernachlässigen die meisten Einzelbeiträge eine konsequente Analyse ihrer Quellenbeispiele anhand rechtshistorischer Kategorien. Anscheinend erinnern sich heutige Historiker nicht daran, wie starke juristische Wurzeln gerade die frühe Geschichtswissenschaft hatte. Nur so lässt sich erklären, warum in vielen Beiträgen staunend empirische Befunde aus Zeugenverhörprotokollen mit teilweise erheblichem, sozialwissenschaftlichem Theorieaufwand "erklärt" werden, statt sie zunächst konsequent an den zeitgenössischen normativen Vorstellungen zu messen. Diese waren von Juristen seit Jahrhunderten in der Doktrin des gelehrten Prozessrechts bis hin zu einfachen Praktikerleitfäden präzisiert worden. Im Untersuchungszeitraum wurden sie zunehmend auch in den verschiedenen Prozessordnungen mit der Sanktion des Gesetzgebers versehen. ...
Gillian R. Evans, Professorin für mittelalterliche Geschichte, Philosophie- und Geistesgeschichte an der Universität Cambridge, hat ihre Liebe zum Recht entdeckt. In schönster Tradition der Cambridge Intellectual History zeichnet sie ein Panorama, wie die geistigen Sphären von Recht und Theologie einander durchformten und die Welt des mittelalterlichen Menschen harmonisch überwölbten. Folgerichtig lässt sie ihre durchgängig packend zu lesende Darstellung mit der resignierten Frage ausklingen, ob nicht die Reformation neben der Kirchenspaltung ein viel weiter gehendes Dilemma auslöste: Konnten sich im Mittelalter nach Evans (175) Theologen und Juristen noch gewiss sein, auf das gleiche Ziel hinzuarbeiten, nämlich die Seelen der Menschen zu retten, wurde durch die reformatorische Betonung der Gnade gerade auch für Sünder und Gesetzesbrecher ganz grundsätzlich in Frage gestellt, ob Gesetzesgehorsam noch der einzige Weg zum Heil sein konnte. ...
Vallerani bürstet in seinem konzisen Band liebgewordene Forschungsvorverständnisse zur Entwicklung des mittelalterlichen gelehrten Prozessrechts wie auch sich paradigmatisch gebende neuere Forschungsansätze gegen den Strich. "La giustizia pubblica medievale" ist das an ein breiteres Publikum gerichtete und daher thesenfreudigere Pendant zu seiner quellengesättigten Studie der Strafgerichtsbarkeit in Perugia im 13. Jahrhundert. Bologna und Perugia sind aufgrund ihrer bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückreichenden gerichtlichen Dokumentation nahe liegende Referenzstädte. So setzt das serielle Prozessschriftgut aus den klassischen mittelalterlichen Großstädten Florenz und Venedig erst knapp einhundert Jahre später ein. Daneben aufgrund ihrer Verfassung als Regime mit Herrschaft des popolo zu Recht ausgewählt, eignen sich Bologna und Perugia hervorragend als Untersuchungsfelder für Valleranis zentrale Untersuchungsinteressen: Was war das Öffentliche am mittelalterlichen Strafprozess? Wie lief der Anfang des 13. Jahrhunderts durch die mittelalterliche Rechtskirche "erfundene" Inquisitionsprozess im rein weltlichen Kontext zweier italienischer Kommunen ab? Wie konnte öffentliche Strafgerichtsbarkeit im charakteristisch dichten Institutionengeflecht der mittelalterlichen Stadt einerseits zu einer Befriedung sozialer Konflikte beitragen, andererseits aber auch durch aufbrechende Klassengegensätze instrumentalisiert oder paralysiert werden? ...