BDSL-Klassifikation: 19.00.00 1990 bis zur Gegenwart >19.13.00 Zu einzelnen Autoren
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1932 erscheint Clemens Lugowskis Arbeit über die Romane Jörg Wickrams, in der er die Spezifika des vormodernen Romans herausarbeitet: er ist nach Lugowski durch eine sogenannte "Motivation von hinten" charakterisiert, die über die sich in Kausalketten vollziehende "Motivation von vorne" dominiert. Was sich im Vordergrund der Handlung innerhalb der Zeit ereignet und auf ein vorherbestimmtes Resultat zuläuft, wird weniger aus den Ereignisketten selbst als aus der im Hintergrund wirkenden göttlichen Vorsehung entwickelt [...] Es liegt nahe zu fragen, inwiefern sich der Ansatz von Martinez von der Theorie phantastischer Literatur unterscheidet, die ja (etwa nach Tzvetan Todorov) mit dem Moment der Unschlüssigkeit des Lesers, ob er die Ereignisfolge der innerliterarischen Realität oder aber den Vorstellungen eines Protagonisten zurechnen soll, eine ganz ähnlich strukturierte "doppelte Welt" wie auch Martinez behauptet. Den knappen Erläuterungen zufolge ist der Begriff der "doppelten Welten" insofern enger als der der phantastischen Literatur, als er "mit der paradoxen Koexistenz von kausaler und finaler Motivation nur einen speziellen Fall übernatürlichen Geschehens darstellt"; er ist aber andererseits auch weiter, insofern "die finale Motivation der doppelten Welt nicht notwendig als übernatürlich markiert sein muß".
Während "Der blaue Himmel" (1994) in der traditionellen Form des Imperfekt, der raunenden Beschwörung der Vergangenheit, erzählt wird, erscheint "Die graue Erde" (1999), als sei sie eine Zeitstufe weiter, in der Gegenwart. Tatsächlich hat sich das am Ende des Blauen Himmels bockende Kind weiterentwickelt zu einem Neunjährigen; es ist jetzt ein Schamanenkind mit ungeahnten Kräften und Fähigkeiten. Der frühere Roman, der "Meiner Großmutter – der wärmenden Sonne am Anfang meines Lebens" gewidmet ist, gipfelt in der Verfluchung eben des blauen Himmels, "Gök deeri", der ohnmächtigist angesichts des an Gift elend zu Grunde gehenden Hundes Arsylang. Für den Jungen sind Traum und Wirklichkeit noch kaum trennbar. Auch der Schüler hat damit noch Mühe, doch nimmt dieTrennschärfe zu. "Die graue Erde" setzt die Lebensgeschichte fort. Es ist nicht Autobiografie, sondern es sind folgerichtig Romane, deren poetologische Differenz eigene Einheiten bildet, abgeschlossene Werke, die zu ihrem Verstehen ein eigenes Innenleben entfalten. Und dieser Roman ist nun nicht der Großmutter, sondern dem Bruder gewidmet: "Für Dshokonaj, meinen Bruder und Lehrer, der wohl gehen musste, damit ich blieb." Mit seinem Ende schließt auch der Roman. Es sind Lebensstationen einer Nomadensaga, die allerdings über das Aufeinanderstoßen verschiedener Kulturen hinaus zugleich die Prallzone einer gewaltigen Umstrukturierung abzubilden verspricht, diesen "Schwanengesang" des gehenden, nicht untergehenden, aber sich verändernden Volkes. Soweit die Dichter und Sänger solche Umbrüche reflektieren und gestalten, so weit ist auch Galsan Tschinag der Sänger der in die Moderne hineinwachsenden Tuwa – auch wenn das so in den beiden ersten damit befassten Romanen nur erst in Ansätzen sichtbar wird.
Hans-Georg Soldat rezensiert Günter de Bruyns Aufsatzsammlung "Deutsche Zustände. Über Erinnerungen und Tatsachen, Heimat und Literatur" aus dem Jahre 1999. Fast unversehens für den Leser weitet sich die Betrachtung jüngster Gegenwart zu einer subtilen Analyse ihrer Wurzeln, wird zu einer deutschen Geschichtsschreibung allgemein, zur Darstellung der Verdrängungsprozesse, die dabei in Ost und West gleichermaßen eine Rolle spielen. Das Überzeugende daran ist, dass dies ohne jeden Eifer geschieht, unaufgeregt, überlegen und dennoch unglaublich engagiert.
Hans-Georg Soldat rezensiert Hartmut Langes Neuerscheinung aus dem Jahre 1999: "Eine andere Form des Glücks". Auch in seinem neuen Buch plädiert Hartmut Lange dafür, hinter der Oberffläche des gewöhnlichen Lebens eine tiefere Ebene der Existenz zu erkennen. Der Preis dieses Blicks hinter die Realität ist freilich Existenzgefährdung, Loslösung von den Bindungen des Alltags. Nur die wenigsten verarbeiten das, und wenn sich ihnen die Augen wieder verschließen, kehren sie umgehend und willig in ihren Trott zurück. Erinnerung ist vager als ein Traumbild.
Hans-Georg Soldat rezensiert drei verschiedene Neuererscheinungen aus dem Jahr 1999: Angelika Krauß' Roman "Milliarden neuer Sterne", Rita Kuczynskis Roman "Mauerblume. Ein Leben an der Grenze" und die von Anke Gerbert herausgegebene Sammlung von Erlebnisberichten "Im Schatten der Mauer. Erinnerungen, Geschichten und Bilder vom Mauerbau bis zum Mauerfall". Am Rande findet noch Thomas Brussigs Roman "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" kurz Erwähnung.
Hans-Georg Soldat rezensiert die 2000 im Ullstein Verlag erschienene Erzählsammlung "Wir Brüder und Schwestern. Geschichten zur Einheit" von Freya Klier. Tatsächlich ist es vor allem die Vielgestaltigkeit, die an diesen Erzählungen Freya Kliers besticht, die Bandbreite ihrer Impressionen, die ihr neues Buch "Wir Brüder und Schwestern" zu einem Unikat in der deutschen literarischen Landschaft macht.
Hans-Georg Soldat rezensiert den 2001 bei Volk & Welt erschienen Roman "Kain und Abel in Afrika" von Hans Christoph Buch. Gespenstisch - wie sich das Ackervolk der Hutu gegen die Tutsi, die aristokratischen Hirten, erhob. Hans Christoph Buch hat die Völkermorde in Ruanda und Burundi, jedenfalls den zweiten Teil: die Rache der Tutsi an den Hutus miterlebt. Seine Schilderungen gehören mit zum Eindringlichsten, aber auch Bedrückensten, was darüber veröffentlicht wurde. In einem zweiten Erzählfaden schildert er die Entdeckungsreise des deutschen Arztes Richard Kandt, der sich 1898 aufmachte, die Quelle des Nils zu suchen. Ohne den Zeigefinger zu erheben, kann Buch so Entwicklungslinien aufdecken, Entsprechungen zwischen der feudalen Kultur der Einheimischen in Ruanda und der späteren deutschen Kolonialherrschaft aufzeigen, als deren Repräsentant Richard Kandt auftrat - aber auch die Brüche, die das fragile Gleichgewicht zwischen Tutsi und Hutu zerstörten.
Hans-Georg Soldat rezensiert den 2001 im Salzburger Jung und Jung Verlag erschienen Debütroman Sherko Fatahs: "Im Grenzland". Eine Grenze, die Familien trennt, abgesichert von Minenfeldern. Kindlich-sadistische Grenzbeamte, ein allgegenwärtiger Geheimdienst, Hunger nach den Reichtümern jenseits der Barriere. Doch es handelt sich hier nicht um die innerdeutsche Grenze zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation, sondern die zeitgenössische Demarkationslinie zwischen dem Irak und der Türkei - hüben und drüben bewohnt von Kurden, denen der vorausgegangene Golfkrieg unverständlich geblieben ist, ein fernes und fremdes Ereignis, das jedoch auch ihr Leben beeinflusst und aus der gewohnten Bahn wirft.
Hans-Georg Soldat rezensiert die 2001 im Suhrkamp Verlag erschiene Textsammlung "Rückseiten der Herrlichkeit. Texte und Kontexte" von Kurt Drawert. In einer Collage von Gedankenfetzen, nachträglichen Überlegungen, Beobachtungen, Reminiszenzen und Spekulationen verdichtet sich tatsächlich der Eindruck, Zeuge eines unbeschreiblichen Geschehens zu sein. Eine Meisterleistung, die in der neueren deutschen Literatur ziemlich einsam dastehen dürfte.