BDSL-Klassifikation: 04.00.00 Allgemeine Literaturgeschichte > 04.05.00 Antike und abendländische Literatur
Refine
Document Type
- Part of a Book (3)
Language
- German (3)
Has Fulltext
- yes (3)
Is part of the Bibliography
- no (3)
Keywords
- Bibel (3) (remove)
Kritisch betrachtet scheint die biblische Prophetie ein fatales Paradox zu implizieren. Denn nach den Kriterien, die Moses im Deuteronomium verkündet, kann sich die Wahrheit einer Prophetie nur nach dem Eintreffen oder Ausbleiben dessen richten, was sie vorhersagt [...]. Dieses Kriterium erweist sich für das Publikum und erst recht für die Propheten als höchst problematisch. Entweder hört das Publikum auf die Prophezeiung drohenden Unheils, bereut seine Taten und wird verschont – womit sich die Worte des Propheten allerdings als falsch erweisen –, oder es ignoriert die Weissagung und wird vernichtet – womit sich die Worte des Propheten zwar bewahrheiten, zugleich aber auch völlig nutzlos gewesen sind. Obwohl der Glaube an Voraussagen tief in der höfischen Kultur und in der volkstümlichen Tradition der vorderorientalischen Antike verankert war, war er letzten Endes nicht mit der biblischen Konzeption der Souveränität und Freiheit Gottes vereinbar. Es ist daher keine Übertreibung zu sagen, dass die fundamentale Tendenz der biblischen Prophetie, wenn man sie als Form des Wissens und nicht als rhetorischen Modus betrachtet, antiprophetisch ist.
Dieser Aufsatz will weder eine wissenschaftliche Einteilung der biblischen Prophetie vornehmen noch zielt er auf einen Überblick über die Wirkungsgeschichte der Prophetie. Mein Ziel ist es vielmehr anzudeuten, wie moderne Literatur und modernes Denken prophetische Reden und Zukunftsbegriff e auf subtile und unerwartete Arten beerben. [...] Hier möchte ich einen allgemeinen Überblick über prophetische Literatur anbieten und gleichzeitig über den biblischen Kanon und sein Nachleben nachdenken. Ich beginne mit den drei Arten der biblischen Prophetie: der klassischen, der biographischen und der apokalyptischen, anschließend entwickle ich das stichpunktartig an zwei Beispielen der biblischen Prophetie und des modernen Schreibens, schließlich zeige ich die innere Antinomie oder Aporie der jeweiligen Art.
Ich möchte im Folgenden Flauberts gattungslosen Text der Tentation de saint Antoine – das 'Werk seines Lebens' ("oeuvre de ma vie") – als jenen metatextuellen Ort vorstellen, an dem Flaubert über Jahrzehnte hinweg den Status poetischauktorialen Sprechens experimentiert hat. Flauberts Antonius ist ein Wüsteneremit, der eine Nacht lang standhaft die seltsamsten dämonischen Erscheinungen abwehrt. Dabei nimmt der biblische Text insofern eine herausragende Funktion ein, als Antonius' Versuchungen durch die Lektüre der Heiligen Schrift allererst ausgelöst werden. Entscheidend ist aber, dass die anonyme Erzählstimme, die den Text präsentiert, Antonius nicht als jemanden darstellt, der vom Glauben (an die Heilige Schrift) abgefallen wäre, sondern als einen Eremiten, der temporär einer Halluzination erliegt. Damit bleibt der Antonius der Tentation ein christlicher Asket, der an die Heilige Schrift glaubt, womit er sich – und das macht die metapoetische Relevanz des Textes aus – der Modellierung desjenigen Romanciers widersetzt, der für seine Literatur das Göttliche beansprucht. Anders als Emma Bovary, die sich wegen ihres sentimentalischen Glaubens an die Schrift umbringt, und anders als Bouvard und Pécuchet, die dumm an den gleichen Wert aller Literatur glauben und die Schrift nur noch kopieren, legt Antonius eine absolute Resilienz im Glauben an die einzige Heilige Schrift an den Tag. Die Tentation de saint Antoine wirft damit ein neues Licht auf das moderne Erzählen im Zwischenraum von Religion und Literatur: Sie markiert – weder Heiligenvita noch Roman – einen theatralischen Ort an den Rändern der Literatur, an dem Erzähler und Figur sich ihre Positionen in einem agonalen Spiegelverhältnis abringen. Bezogen auf Flauberts paradoxes Autorkonzept des deus absconditus zeigt sie weniger dessen starke als dessen schwache Seite: Der Schreiber der Tentation ist ein Zweifler, der ganze Bibliotheken ins Spiel bringt, der der Heiligen Schrift ihr Heiliges entzieht und der seine Souveränität als narrateur von einer starken, widerständigen Figur immer wieder infrage gestellt sieht. Als narrativer deus absconditus ist er so unsichtbar, dass er von einer Rezeption, die die Antoniusfigur umstandslos als Maske des 'Eremiten von Croisset' auffasst, nicht einmal wahrgenommen wurde.