BDSL-Klassifikation: 04.00.00 Allgemeine Literaturgeschichte > 04.02.00 Studien
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Das "Vatertag"-Kapitel in Günter Grass Roman "Der Butt" ist das Ergebnis jahrelanger Reflexion des Autors und zahlreicher Konzeptionsänderungen: Am Ende wurde daraus eine Tragödie in Novellengestalt, eine Tragödie sowohl stofflich als auch formal. Sie setzt einerseits die aristotelischen Poetik in Prosa um und realisiert einen Alptraum ins Tribadische transponierter Männlichkeitsrituale, an deren Ende ein Mord steht, der an Brutalität mit den gewalttätigsten attischen Mythenstoffen, vor allem mit Euripides' Bakchen, konkurrieren kann. Die Perversität der rauschhaften sexuellen Exzesse verschärft Grass, indem er sie auf Himmelfahrt, den als Vollendung der Erlösung strahlendsten Tag im christlichen Jahresfestkreis, verlegt und auf diese Weise einen schrillen Kontrast herstellt zwischen der Vergewaltigung und dem barbarischen Zerfleischen einer Frau durch eine dionysische Horde alkoholisierter Black Angels auf der einen Seite und der Auffahrt der vom Tode auferstandenen Lichtgottheit gen Himmel auf der anderen Seite, einer Vergeistigung der Kultur, die im Sinne der Bachofen'schen "Vaterreligion" alles Irdische, Stoffliche, Geschlechtliche unter sich lässt. Nachdem Grass Bachofens Konstruktion der Entwicklung des Patriarchats aus der Gynaikokratie im ersten Kapitel des Butt geradezu systematisch in Erzählung umgesetzt hat, kehrt er im achten zu Bachofens Kulturstufenfolge zurück, allerdings ohne dessen optimistischen Glauben an den Menschheitsfortschritt zu teilen – im Gegenteil.
Dinge, die warten
(2018)
Das Wort 'warten' gehört zu den Verben, die wir ohne Probleme allem anhängen können. Die Menschen können nicht nur den Menschen, sondern auch den Dingen jederzeit ein Warten unterschieben und allem, was dazwischen ist, sowieso. Die Raubtiere warten darauf, gefüttert zu werden; die berühmte Zecke wartet, bis etwas vorbeikommt; die Pflanzen warten auf den Regen. Vor dem Gewitter scheint die Natur auf etwas zu warten. All das sagt sich so: Diese Worte warten darauf, ausgesprochen zu werden. Hier geht es nicht bloß um die Banalität, dass wir den Dingen mit unseren Worten unablässig Tätigkeiten anhängen, die ihnen im wörtlichen Sinne nicht zukommen. Der Versuch, eine Grenze zu ziehen zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen - also metaphorischen - Verwendung des Wortes warten, würde das Problem lediglich zudecken.
Der Beitrag untersucht die historischen Hintergründe und die Funktion von Polyglossie in den skandinavischen Literaturen und analysiert eine Szene aus Johan Ludvig Heibergs Vaudeville "Recensenten og Dyret" (1826, Der Rezensent und das Tier). Die Figuren dieses Stückes beherrschen verschiedene Sprachen und führen müheloses Code-Switching vor, so dass sich Polyglossie im mehrstimmigen Gesang zur Harmonie fügt. Heibergs Unterhaltungstheater wird als Ausdruck einer Offenheit für interkulturellen Transfer und als Ablehnung einer bornierten Einstellung gegenüber nationaler Kultur interpretiert.
"Aber ein Sturm weht vom Paradiese her", schreibt Walter Benjamin bekanntlich in seinen geschichtsphilosophischen Thesen, "während der Trümmerhaufen [...] zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Bei Zola heißt dieser Fortschritts-Sturm "Windstoß des Jahrhunderts, der den bröckligen Bau der alten Zeiten" davonbläst. Aus welchen Bestandteilen ist 'dieser' Windstoß, der vom "Paradies der Damen" her weht, zusammengesetzt? Anders gefragt: Wie konnte es Octave Mouret gelingen, innerhalb kürzester Zeit ein "millionenreicher Modehändler", zum "Bahnbrecher des neuen Handelswesens" zu werden? Genau davon handeln die 513 Seiten des Romans.
Einleitung
(2017)
Das religionswissenschaftliche und ethnologische Kompositum Kulturheros bezeichnet Gestalten, die zwischen Göttern und Menschen stehen und die "für die Menschen überlebenswichtige[s] Kulturwissen zum ersten Mal einführen". Die Taten eines Kulturheros - etwa die Übergabe des Feuers an die Menschen - können in die Tradition der jeweiligen Gesellschaft eingehen, "zu bestimmten Anlässen feierlich erinnert" und "die Stiftungslegende eines Kults bilden". Die Enzyklopädie des Märchens definiert den Kulturheros als "mythische Figur meist früherer Überlieferungen, die für die jeweilige Gesellschaft Entscheidendes und Lebenswichtiges leistet". Donald Ward, der Verfasser dieses Eintrags, spricht zwar davon, dass neben Heiligen auch "Begründer, Reformer, Erfinder und politische Führer manchmal als echte Kulturheroen" (etwa Luther oder Kolumbus) gesehen werden können, seine Argumentation bleibt aber weitgehend auf Gestalten aus der Mythologie beschränkt. In unserem Band geht es hingegen nicht um mythische Figuren wie etwa Prometheus, sondern um ein neuzeitliches Phänomen: Mit Kulturheroen meinen wir Schriftsteller, Dichter, Wissenschaftler, Künstler oder Intellektuelle, denen ebenso wie den Kulturheroen der Religionswissenschaft bzw. Ethnologie in der Regel posthum eine herausragende kulturstiftende Rolle in der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft zugeschrieben wird. Seit der Neuzeit werden Kulturheroen in dieser Weise medial konstruiert und durch Kultpraktiken geehrt, die früher eher militärischen oder politischen Helden vorbehalten waren.
Energie und Katalyse sind Schlüsselbegriffe zum Werk von Wilhelm Ostwald. Seine Naturphilosophie nannte er selber "Energetik". Für seinen Katalysebegriff erhielt er den Chemie-Nobelpreis. Nach ersten Vorlesungen in Leipzig über Naturphilosophie erschien 1908 sein Werk 'Grundriss der Naturphilosophie', in dem er ein modernes Konzept der Naturphilosophie im Rahmen der Naturwissenschaft entwirft.Im Folgenden wird dieses Programm geprüft, und Ostwalds allgemeine Gesetze sowie Prinzipien werden mit heutigen Weiterentwicklungen konfrontiert. Dabei zeigt sich, dass seine naturphilosophischen Konzepte von großer Aktualität sind.
Erinnerungen an ein menschenleeres Paradies : Urszenen literarischer Modernität im 19. Jahrhundert
(2012)
An der Schwelle zum 19. Jahrhundert stößt ein Aspekt des Kontinuums, in dem 'der Mensch' "seine Positivität bildet und bildet", an seine Grenze. Das romantische Büchermachen als Erbe einer religiös legitimierten eigentlichen Natur wird seiner Redundanz gewahr; die Ordnungen des Wissens beginnen in ihrer Form als Riesenbibliotheken zu ängstigen. In dieser Situation eröffnet die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Physiologie des Gehirns und der Nervenbahnen, mit dem, was Aufschluss über die organischen Bedingtheiten des "Menschseins" allgemein zu liefern verspricht, aus anderer Warte eine Möglichkeit, "das im gedruckten Gehirn der Gemeinschaft erstarrte Denken" auf eine neue Stufe zu heben. Die Vorrang- und Vorreiterposition der französischen Psychiatrie im 19. Jahrhundert hat Robert Castel in die Formel 'L'Âge d'or de l'aliénisme' gefasst. Nietzsche hat diese "wissenschaftliche Lust des Menschen an sich selber" als "Lust am Ausnahmefall" denunziert, und konsequenterweise wandte sie sich auch dem zu, was noch unter dem schillernden Wort Genie firmierte, spezieller sogar dem 'génie im Medium der langue'.
Für die beiden Gründerväter der klinischen Psychiatrie Philippe Pinel und Jean Etienne Dominique Esquirol hatten in der Tradition der jüngeren Vergangenheit schon die Hypertrophien der Imagination allgemein zum eisernen prognostischen Bestand der Psychopathologie gehört; zu nennen wären hier als Anreger der berühmte William Cullen, der den folgenreichen Begriff Neurose prägte, sowie der englische Irrenarzt Sir Alexander Crichton, der als erster die damals revolutionäre These vertrat, dass die einzelnen Fähigkeiten der Seele, z.B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Urteilskraft, Imagination etc., jede für sich allein erkranken könnten. Pinels Schüler Victor Broussais widmete in seinem Hauptwerk 'De l’irritation et de la folie' von 1828 einen langen Abschnitt der 'valeur des signes', in welchem er die Gültigkeit von sprachlichen Zeichen zur Selbstbeschreibung von psychischen Phänomenen untersucht. Sein Urteil: Begriffe wie 'moi', 'intelligence', 'imagination' seien nur der unvollkommene, laienhafte Versuch, die wechselnden physiologischen Zustände des Nervensystems unter eine chimärische Einheit zu zwingen, die selbst Züge des Wahnhaften trüge.
In diesem Buch werden distinkte Formen literarischer Buch- und Schriftvernichtungen in ihren poetischen, narratologischen, medientheoretischen und kulturgeschichtlichen Dimensionen analysiert. Damit werden insbesondere diejenigen Aspekte berücksichtigt, die im 20. Jahrhundert durch die symbolische Last historischer Bücherverbrennungen aus dem Blick geraten sind. In der Verschränkung verschiedener Wissensfelder wie der Schrift- und Lesekultur, der Zensur- und Klandestinaforschung oder der Kolonialismus- und Ideologiegeschichte werden gängige Narrative der Buch- und Schriftvernichtung in Frage gestellt. Dies erfolgt mit dem Ziel, die Wahrnehmung von literarischer Tradition, von Kanonbildung und Zensurpraktiken zu modifizieren.
Anhand zahlreicher Einzeltexte der überwiegend europäischen Literatur vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart wird in dieser Studie der Zusammenhang von Buchleidenschaft und Schriftfeindschaft, philologischer Neugier und Auslöschungsbegehren, Kanonbildung und 'Buchhinrichtung' untersucht. Sie zeigt auf, inwiefern mit den Szenarien der Schriftvernichtung eine regelrechte Aufwertung der Rolle von Buch und Schrift einhergeht. Den transformatorischen Vorgängen des Löschens, Brennens und Einverleibens von Buch und Schrift wird hierbei ein Eigenwert als Praxis des Wissens eingeräumt.
Lexika wie Zedlers Universal-Lexicon gehen von einer scharfen Trennung zwischen Objekt und Subjekt aus, Schreibwerkzeuge werden darin immer auf die Objektseite geschlagen. Sprechende und damit subjektivierte Federn gibt es hingegen schon, seit Federn in Gebrauch sind. Sie tun dies vor allem in literarischen Texten, wo sie als dingliche Objekte Subjektstatus einnehmen und dadurch die Dichotomie von Subjekt und Objekt unterlaufen. Wenn die Feder zum sprechenden Subjekt wird, werden die von ihr beschriebenen Menschen zum Objekt, wobei sich die Feder dann für Benachteiligte und Unterdrückte einsetzt und dadurch diese wiederum zu Subjekten erhebt. Innerhalb der It-Narratives nehmen erzählende Federn eine Sonderstellung ein, weil sie erstens die materielle Vorbedingung des Schreibens sind, weil sie zweitens den Schwellenraum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit besetzen, indem sie paradoxerweise das, was sie sprechen, auch gleichzeitig ins Schriftliche transponieren und dort festschreiben, sowie weil sie drittens poetologisch das hinterfragen, was geschrieben wird und werden soll
Federn lesen : eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert
(2021)
Vom Mittelalter bis zur Einführung der Stahlfeder im 19. Jahrhundert war die Gänsefeder das meistgebrauchte Schreibwerkzeug in Europa. Doch um als Schreibfeder genutzt werden zu können, musste der Gänsekiel mit großem Können zugespitzt und bearbeitet werden. Das Wissen um die Techniken der Fertigung und des Gebrauchs sind größtenteils verschollen.
Martina Wernli hat intensiv geforscht und versammelt nun Quellen aus unterschiedlichen Sprachen. Sie zeigt, wie die Gänsefeder die europäische Schriftkultur über Jahrhunderte geprägt hat und wie dem Schreibwerkzeug von Anfang an zudem eine übertragene Bedeutung zukam, denn die Feder steht auch für Schreibprozesse und literarisches Schreiben selbst. Die komparatistisch ausgerichtete Analyse verdeutlicht, wie sich in der Feder bildliches Sprechen und materielle Grundlage gegenseitig bedingen. Eine spannende Ding-, Medien-, Technik-, Kultur- und Literaturgeschichte.
Carl Schmitt ist heute nun wirklich kein vergessener Autor. Und dennoch gibt es zentrale Fragen seines Werkes, die bislang noch kaum erforscht sind. Eines dieser Themen ist das Hitler-Bild. Was genau dachte Schmitt über Hitler? Vor 1933 und 1945 äußerte er sich darüber erstaunlich selten. Nach 1945 jedoch dachte er in publizierten und nachgelassenen Texten und Aufzeichnungen ständig über Hitler, den Nationalsozialismus und seine eigene Rolle in dieser Geschichte nach. Dabei bediente er sich auch literarischer Spiegelungen. Eine solche soll hier genauer untersucht werden: der Vergleich Hitlers mit Friedrich Schillers Demetrius-Gestalt. Er ist eine Art esoterisches Schlußwort über Hitler. Frühere Überlegungen weiterführend, prüfe ich diesen Vergleich in seiner Aussagekraft. Dafür wird Schillers Fragment eingehender vorgestellt und als Verlaufsmodell für die Geschichte des Nationalsozialismus betrachtet. Es geht um einen "esoterischen" Schmitt. Diese Vorgehensweise hat ihre Tücken und erlaubt nur begrenzte Rückschlüsse auf Schmitts Hitler-Bild vor 1945. Sie thematisiert aber jedenfalls einen intensiven Umgang mit Schillers Dichtung.
Zu den stupenden Erscheinungen der Naturwissenschaften heute gehört es, daß sie – wie durch Fieberanfälle – an ihren verschiedenen Fronten immer wieder von der Antike heimgesucht werden. Vermutlich überrascht dies weniger Philosophen als die Naturwissenschaftler selbst, die seit Galilei sich im Bewußtsein ihrer Überlegenheit von antiken naturphilosophischen Traditionen abgekehrt haben. Unterdessen gehört es fast zum Rhythmus wissenschaftlicher Reformen, daß diese im Namen des Alten erfolgen. Infolge der überbordenden Destruktionspotentiale moderner Technik wird die regeneratio der Wissenschaft allzu oft als conservatio der noch eben faßbaren Reste verlorener Traditionen gesucht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Karriere der Gaia-Hypothese, die seit ihrer Kreation durch den Biosphären-Forscher James Lovelock (1979) und die Mikrobiologin Lynn Margulis (1986) in den USA einen ebenso umstrittenen wie unwiderstehlichen Aufschwung genommen hat. ...
Die Tagung rief dazu auf, die Verbindlichkeit von Versprechen als allgemeines Phänomen zu untersuchen, also zu ergründen, inwiefern man unabhängig von ihrer Ausgestaltung in konkreten Rechtsordnungen oder anderen Normensystemen von einer "vor-rechtlichen" Verbindlichkeit sprechen kann. Literarische Texte aller Zeiten bis hin zu den Mythen bezeugen die Bindung an das Wort als Urerfahrung, die von jeder gesellschaftlichen Konvention unabhängig erscheint. Ebenso kennen sie aber Verrat und offenen oder verdeckten Wortbruch, deren Folgen sie thematisieren. Strukturelle Verwandtschaften einerseits und gegenseitige Beeinflussung andererseits der literarischen und der rechtlichen Auseinandersetzung mit dem Versprechen sollten untersucht werden.
In der Märchenforschung ist man lange Zeit überwiegend von einem Archetypus oder einem Grundmuster ausgegangen, um dann danach, gleichsam im zweiten Schritt, die Vielfalt historischer Erscheinungen als Varianten eines Typs aufzuzeichnen. Dieses idealtypische Vorgehen schätzt nicht nur die historische Ausprägung eines Märchens als sekundär ein, es geht prinzipiell auch von einer Hierarchie aus. Gegenüber derartigen spekulativen Annahmen ist man heute skeptisch und vorsichtig geworden.
Mit dem Konzept der Grundordnung verbindet sich eine vieldeutige Semantik, die das Zusammenspiel von Grund (als Boden/Territorium) mit dem Grund der Begründung betrifft, das für die Konstitution wie auch Geltungsbereich von Verfassungen eine wichtige Rolle spielt. Die kulturwissenschaftliche Perspektive der Frage nach Grundordnungen richtet sich auf jene Voraussetzungen, die im Zuge der juristischen Verengung des Begriffs ausgeschlossen worden sind. Damit gehen die Untersuchungen dieses Bandes hinter bzw. vor die juristische Semantik des Verfassungsbegriffs zurück. Untersucht werden die vielfältigen Übergänge zwischen Kultur, Religion und Gesetz und damit diejenigen Praktiken und Konzepte, mit denen das Selbstverständnis eines Volkes in konkrete politisch-juristische Grundsätze oder Grundrechte transformiert wird. "Mit der Frage nach der Grundordnung gehen die Untersuchungen dieses Bandes hinter bzw. vor die juristische Semantik des Verfassungsbegriffs zurück. Denn dieser ist, wie andere moderne Fachtermini auch, das Ergebnis einer Verengung. Die 'Verfassung', zunächst ein 'Erfahrungsbegriff', "der den politischen Zustand eines Staates umfassend wiedergibt", habe sich zum Begriff für den "rechtlich geprägten Zustand eines Staates" verengt und falle "nach dem Übergang zum modernen Konstitutionalismus mit Gesetz in eins", währenddessen der Begriff des Gesetzes nun "die Einrichtung und Ausrichtung der staatlichen Herrschaft regelt" und "damit selbst vom deskriptiven zum präskriptiven Begriff" wird, so Dieter Grimm, der die genannte Verengung damit erklärt, dass der Begriff der 'Verfassung' seine "nichtjuristischen Bestandteile zunehmend" abgestoßen habe. Diese nichtjuristischen Bestandteile aber sind Grundlage und Voraussetzung des Grundgesetzes, das sich eine Gemeinschaft gibt, um sich als politisch-rechtliches Gebilde zu konstituieren. Sie betreffen das Selbstverständnis eines politischen Gemeinwesens, ob Land, Staat oder Föderation, das tiefer und weiter zurück reicht als das Gesetz."
Herders Agency
(2012)
Die Titelgebung des vorliegenden Beitrags ist eine wortkarge und durchaus irritierende Formulierung. Wer weiß, ob ein wiedergeborener Herder hier nicht gleich die aktuelle Version von „Gallikomanie“, das fortgeschrittene Stadium des englisch-amerikanischen Sprachimperialismus des anfänglichen 21. Jahrhunderts diagnostizieren und darin ein ihm vertrautes Problem, das eigene Fremde im Fremden des Anderen wiedererkennen würde? Und da würde er bezüglich des Titels eigentlich richtig liegen, geht es hier doch um eine Entfremdung, um die Aufstellung eines hermeneutisch nur bedingt zulässigen Vergleichs eines neueren Kulturkritikers mit einem älteren, oder was noch schlimmer ist, des älteren mit einem neueren - um einen Begriff von Handlungsmacht, agency. Darüber hinaus ist bei dieser Anknüpfung an Herder aus mindestens zwei weiteren Gründen Vorsicht geboten. Zum einen haftet Herders Werk und dessen Rezeptionsgeschichte ein unguter Nachgeschmack an, der den Namen Herder gerade in politischen, ideologiekritischen und auch postkolonialen Diskursen zu einem Label geraten lässt, das die falsche Strategie der Identitätsschaffung bezeichnet. Zum anderen ist der postkoloniale Diskurs auf ein politisches Handeln ausgerichtet, dessen Konsequenz man bei Herder bei noch so großer Anstrengung - schon aus historischen Gründen - nicht zufriedenstellend finden würde. In Bezug auf beide Einwände gilt es also das Gebot zu beherzigen, „jede Form der politischen Aktualisierung im Interesse Herders mit äußerster Vorsicht und geschärftestem Blick für historische Differenzen aufzunehmen.“ Die Rettung ist im vorliegenden Zusammenhang just aus dem unerlässlichen hermeneutischen Bewusstsein zu holen, dass die Beachtung der genannten Differenz, die Bewahrung einer Differenz zwischen „Nachahmung“ und „Nacheiferung“, wie Herder sagen würde, die produktive Aneignung des älteren Kulturkritikers im Kontext des neueren nicht nur vorstellbar und sinnvoll macht, aber auch zu beherzigende Resultate für die Lektüre beider Autoren verspricht.
Es gehört zu den besonderen Merkmalen fantastischer Literatur und Kunst, fiktive Welten hervorzubringen, deren Entwurfscharakter Modellhaftigkeit und spielerische Experimentierfreudigkeit ebenso implizieren kann wie Perspektiven des Utopischen. Die Beiträge des Sammelbands gehen auf Vorträge der Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung im September 2013 zurück, die unter dem Motto "Writing Worlds" stand. Sich Welten zu erschreiben, zu erzählen oder zu erträumen ist zweifellos ein zentraler Bestandteil und eine wichtige Motivation zur Kreativität, die sich insbesondere im Genre der fantastischen Literatur beobachten lässt. In der Gegenwart lässt sich die spatiale Ebene, die Welten und Räume konstruierende Dimension des Fantastischen, allerdings nicht weniger ausgeprägt in den neueren Medien des Rollenspiels und des Films entdecken. So eröffnen die Aufsätze des Themenhefts ein weites Spektrum, das von Modellierungen mittelalterlicher Sujets über expressionistische Städte-Visionen und Batmans Metamorphosen bis hin zu neueren U.S.-amerikanischen Fernsehserien um das Jahr 2000 reicht.
Kontroverspredigt der Berge
(1997)
Für unser Körpergefühl stehen nicht viele Richtungen zur Verfügung: vor und hinter, rechts und links von uns, unter und über uns. Es sind dies die horizontalen und vertikalen Orientierungen im Raum, aber auch im Haus der sprachlichen Symbole. Da der Mensch ein Landtier ist und seine Geschichte mit der Besiedlung flacher Gebiete anhob, scheinen ihm die Tiefen und Höhen weniger natürlich als die horizontalen Erstreckungen. Von den letzteren ist diejenige 'hinter uns' immer ein wenig unheimlich: was sich hinter unserem Rücken abspielt, außerhalb unseres Sehfeldes, weckt die Angst vor unbestimmten Gefahren. Das Ohr muß dann ersetzen, was dem Auge entgeht. Die Sprache bewahrt alte Gefahren im Gedächtnis: jemanden zu hintergehen, in einen Hinterhalt zu locken, gar hinterrücks zu überfallen, oder wie Hagen den Siegfried meuchlings von hinten an seiner einzig verwundbaren Stelle zu treffen - dies sind Spuren dessen, was als hintertriebene Heimtücke gilt, während es dem Feldherrn als strategische Schläue angerechnet wird, wenn er die feindlichen Reihen umgangen hat und diese vom Rücken her angreift. Von Cannae über den Schlieffen-Plan bis zu den Kesselschlachten des II. Weltkriegs reicht der martiale Mythos der listigen Überwindung des von hinten überraschten Gegners. Wer souverän bleiben will, hält sich den Rücken frei. Hinten, noch immer, ist unsere Siegfrieds-Stelle, das Alpha Privativum, das in seiner Geheimnishaftigkeit ebenso sehr das Privatissime unseres Selbst wie dessen tiefste Verletzlichkeit verbirgt. Man geht nicht fehl, den Schrecken und die Plötzlichkeit mit dem hinterrücks überfallenden Bann der Glieder und ihrer Motilität zu verbinden. Der Partisan muß dies nutzen als seinen einzigen Vorteil dem überlegenen Feind gegenüber. ...
Tagungsbericht zum Symposion an der Universität Potsdam vom 20.-22. Oktober 2000
Endlich ist es vollbracht: Nach verschiedensten juristischen, verlagstechnischen u.a. Peripetien, die Maria Sommer, die Leiterin des Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs und Inhaberin der deutschen Pirandello-Werkrechte, bei der Präsentation plastisch schilderte, liegt nun die deutsche Pirandello-Ausgabe (Propyläen-Verlag) vollständig in 16 Bänden vor. Allemal ein Anlaß für den Herausgeber Michael Rössner (München), gemeinsam mit Helene Harth (Potsdam) und dem Istituto Italiano di Cultura (Berlin), dort sowie an der Universität Potsdam vom 20.-22. Oktober 2000 ein Symposion zu veranstalten.
In der Literatur jüdischer Autoren des letzten Jahrhunderts steht die Darstellung des Martyriums in drei spezifischen, sehr unterschiedlichen Kontexten: in Werken der literarischen Moderne, die die Übernahme der religiösen Traditionen verhandeln - hierzu gehört wohl auch noch Philip Roths Erzählung - im Umkreis der Literatur in und nach Auschwitz und in literarischen Texten zur Geschichte oder Befindlichkeit des Staates Israel. Am Beispiel eines literarischen Bezugs auf die Märtyrertradition aus jedem dieser Umfelder - im Werk Franz Kafkas, Nelly Sachs' und David Grossmans - gilt es nunmehr, jeweils die Korrelation von Verschriftung und interreligiösem Subtext herauszulesen.
Organisation: Achim Hölter (Münster), Volker Pantenburg Berlin) und Susanne Stemmler (Berlin)
Brecht-Haus, Berlin, 16. bis 18. März 2007
Nach dem 'linguistic turn' oder dem 'pictorial turn', in denen die Textualität und Bildlichkeit kultureller Artefakte ins Zentrum gerückt wurden, liegt das Augenmerk in den Literatur- und Kulturwissenschaften verstärkt auf deren Räumlichkeit: In den letzten Jahren ist demnach vermehrt vom 'spatial turn' die Rede gewesen. Der visuellen Umcodierung von Gegenwartskultur Rechnung tragend, wendeten die Beiträge der Tagung 'Metropolen im Maßstab' ihre Aufmerksamkeit auf die moderne literarische und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema (Groß-)Stadt.
Der folgende Beitrag ist im Rahmen des Forschungsprojektes der Arbeitsstelle für mährische deutschsprachige Literatur entstanden, die vor drei Jahren an der Palacký-Universität in Olmütz (Olomouc) gegründet wurde und sich im allgemeinen mit dem Sichten und Sammeln von Material beschäftigt, mit Aufdecken von verschütteten und vergessenen Spuren, mit deren Festhalten in klassischer sowie elektronischer Form und deren wissenschaftlicher Auswertung in verschiedenster Form. Die Forschung der Arbeitsstelle bewegt sich um ihr Forschungsobjekt, die mährische deutschgeschriebene Literatur, und hiermit auf dem weiten Feld der regionalen Forschung, das eben durch diese seine Weite und Breite sowohl Vorteile als auch Nachteile darbietet. Zu den Vorteilen gehört (um nur kurz Allgemeinplätze zu streifen) der unumstößliche heuristische und historische Wert einer solchen Arbeit, denn längst hat die Literaturgeschichte erkannt, dass die kanonbildende Orientierung bloß an den großen Werken der sogenannten Weltliteratur die Geschichte verzerrt oder gar verfälscht, zu Verflachungen und Pauschalisierungen führt und außerdem Ideologien transportiert.
Im folgenden wird nicht ein Versuch zur Geschichte männlicher Masken unternommen, ebenso wenig wie eine religionswissenschaftliche oder ethnologische Analyse des Maskengebrauchs und seiner gender-Ordnung. Im Kern geht es vielmehr um den denkwürdigen Punkt, dass an der Nahtstelle zwischen Mythos und Aufklärung in der griechischen Antike eine Neukartierung des Männlichen und Weiblichen im Feld des Generativen vorgenommen wird. Die späten Nachfahren dieser männlichen Machtergreifung, um die es im zweiten Teil geht, entwickeln Figuren des Sexuellen, worin das Generative radikal ausgeschlossen und das Begehren zum Schauplatz eines nur noch in sich selbst kreisenden Maskenspiels wird – jenseits jeder Reproduktionslogik. Man könnte die These wagen: die 'Männer' besetzen die mythische Generativität, doch generieren sie nichts mehr außer sich selbst. Vielleicht ist die ungeheure Kreativität, die in der europäischen Moderne (heute besonders auf dem Feld der 'Reproduktion des Lebens') entfesselt wird, nichts als eine Maske, die diese innere Unfruchtbarkeit überdeckt. Nach einer Abklärung des Maskerade-Konzepts, wie es hier verwendet wird, werden in einem ersten Kapitel mythische Beispiele gezeigt, in welchen die mythische Produktivität des Weiblichen (die Magna Mater) dem symbolischen Regime von Herren-Göttern unterstellt wird. Diese Umcodierung wird die abendländische, nämlich männliche Auffassung von Sexualität und Reproduktion nachhaltig prägen. Sie hat ihren Preis. Er wird, im zweiten Teil, errechenbar an den legendären Figuren des männlichen Sex – Casanova, Don Juan, Sade, 'Walter' und Sacher-Masoch –, welche die "Masken des Begehrens" (Ariès / Béjin) in der Moderne bestimmt haben. Im Mittelpunkt steht dabei Sacher-Masoch, der das masochistische Begehren, das den scheinbaren Kontrapunkt zur männlichen Selbstermächtigung darstellt, aus einer Vielzahl mythischer, literarischer und bildkünstlerischer Figurationen des übermachtig Weiblichen und des demütigen, gar geopferten Männlichen synthetisiert.
Glaubt man den Diskursen um das breit gefächerte Gebiet der Manipulation, wie sie in der Literatur selbst seit den letzten Jahrhunderten geführt werden, stellt sich rasch heraus, dass die gezielte und verdeckte Einflussnahme, als welche Manipulation subsumiert werden kann, letzten Endes niemals und unter keinen Umständen funktioniert. Gleichgültig, wie perfide, brachial, sinn- und phantasievoll oder auch nur gut gemeint die dargestellten Versuche der Beeinflussung auch sein mögen, stets scheitern sie; oder besser gesagt: Bis zur Jetztzeit scheiterten sie im Grunde regelmäßig, da auch die Vorstellungen über Wohl und Wehe der Manipulation kulturell geprägt und somit Änderungen unterworfen sind. So haben sich in den letzten Jahren auf unmerkliche und an dieser Stelle näher zu beschreibende Weise die Narrative der Manipulation verändert – und damit einen Anschluss an längst überwunden geglaubte Vorstellungen ermöglicht, wie sie bis zu Beginn des Aufklärungszeitalters das optimistisch und zugleich mechanistisch geprägte Menschenbild beherrschten. Es gilt an dieser Stelle demnach, die dreifache Transformation der Manipulation im Verlauf der Kulturgeschichte näher zu beschreiben; ich beginne mit dem Scheitern in der Zeit der Mittelachse, also von der Phase der Aufklärung bis zur unmittelbaren Gegenwart.
Natur und Subjekt
(1988)
Natur und Subjekt sind Erzeugnis und Leistung, historisch zu entschlüsseln, aber nicht durch die Magie des Ursprungs zu zitieren. Die hier vorgelegten Aufsätze versuchen, dieser Ausgangslage zu entsprechen. Zwischen den Bezauberungen der Ursprungsmythologien Natur als Schöpfung; Subjektivität als "Wesen" des Menschen- und den Hypertrophien der Subiekt-Philosophie, die in verkürzte Rationalität ihr Zentrum setzt und von dort das Ganze der Natur als ihr Reich wie den Besitztitel eines Souveräns aufschlägt: zwischen diesen ebenso falschen wie wirkungsmächtigen Traditionen war dem historischen (Maulwurfs)-Gang des Subjekts und der Natur nachzugehen. Dieser Wendung zurück in die Geschichte entspricht, daß vorderhand keine Chance darin gesehen wird, Spielräume auf kleinstem gemeinsamem Nenner für die kommunikativen Fähigkeiten des Menschen zu suchen unter den Bedingungen zunehmend perfekterer Technisierung und Medialisierung der sprachlichen und vor allem visuellen Austauschprozesse. Es gibt diese Spielräume, sie sollten auch verteidigt werden, auch wenn sie, beim Stand der Dinge, Luxus einer Minderheit sind Ebensowenig wird in den Hohlräumen und Widerspruchszonen, den Relais- und Steuerräumen der sozialen Systeme nach Bedingungen funktionaler Innovationen, Differenzierungen und Optimierungen geforscht. Darin will jemand, der von der Kunst und Kulturgeschichte her sich der Philosophie nähert, seine Aufgabe nicht sehen.
Der 'brave Soldat' Schwejk - antiheroischer Protagonist in Jaroslavs Hašeks berühmtem Roman - beobachtet auf dem Weg zur Front einen vorbeifahrenden Militärzug mit offenen Waggons: Ein Korporal der Deutschmeister 'mit herausfordernd aufgezwirbeltem Schnurrbart' stützt sich wie in einem 'lebendem Bild' quer auf seine sitzende Mannschaft, schmettert voller Inbrunst das Prinz-Eugen-Lied, lehnt sich übermütig hinaus - und fliegt aus der offenen Waggontür, wobei er 'mit aller Kraft im Flug mit dem Bauch auf den Weichenhebel [schlug], auf dem er aufgespießt hängenblieb'. 'Mit Kennermiene' betrachtet Schwejk neugierig den Leichnam: "Der hats schon hinter sich […] hat sich akkurat aufgespießt […], hat die Därme in den Hosen." Das groteske Ende des Offiziers der Deutschmeister, jenes Ritterordens aus dem 12. Jahrhundert, symbolisiert den Untergang des aristokratischen Kriegerstandes - des Inbegriffs menschlicher Souveränität, die in Gestalt verführerischer Husaren noch Romane und Operetten des 19. Jahrhunderts bevölkerte - in den Höllenfeuern des Maschinenkrieges, zu dem Schwejk und seine Kameraden gerade unterwegs sind. Auch sein geliebter Herr, Oberleutnant Lukasch, ein notorischer Verführer, repräsentiert noch jene aristokratische Souveränität, Glanzstück des feudalen Ständestaates: Hoch zu Roß reitet er nicht nur dem Feind entgegen, sondern zugleich seinem Untergang, der sich in den Materialschlachten des großindustriellen Krieges vollzieht.
Was Schwejk fasziniert beobachtet, ist das finale Stadium des Zusammenbruchs der ständischen Ordnung, der patriarchalischen Autorität, der feudalen Tugenden, der symbolischen Repräsentation, der Hierarchie der Gemeinschaften im Versachlichungs- und Entzauberungsprozess der Moderne. Dabei bewegte Literatur und Philosophie des 19. Jahrhunderts vor allem eine Frage: Was geschieht eigentlich, wenn 'der Knecht' (aus Hegels Phänomenologie des Geistes) - das "durch die Arbeit" erwirkte Selbstbewusstsein mit seinem Primat von Selbsterhaltung und instrumenteller Rationalität - zum Herrn wird, mit den souveränen Eigenschaften des untergegangenen Herrn?
Die Situation des zeitgenössischen Romans wird heute zunehmend von globalen Faktoren bestimmt: global im Sinne einer politischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Internationalisierung, die jedoch Spielräume, Schreib-Räume, für individuelle, für differente Erzählweisen läßt. Eine wichtige Rolle in dieser Entwicklung spielt der sogenannte postkoloniale Roman. Ich möchte im gegebenen Zusammenhang drei Aspekte aufgreifen: den kritischen Diskurs über postkoloniale Literatur (1), die Interdependenz von postmoderner und postkolonialer ästhetischer Theorie (2) sowie die konkrete Umsetzung von Inter- und Multikulturalität in den Texten selbst (3).
Die Beziehung von res und verba ist ihrem Grunde nach eine sprachphilosophische. Sie handelt von jenen Dingen, die überhaupt der Sprache zugänglich sind, bzw. von jenen Gegenständen, welche durch ihre Artikulation erst zu Dingen der Sprache werden. Der Fokus der Überlegungen konzentriert sich auf die Organisation des Verhältnisses von res und verba, für das über Jahrtausende hinweg in erster Linie die Rhetorik zuständig gewesen ist. Diesem liegen allerdings tatsächlich zwei sprachphilosophische Annahmen zugrunde, die von gegensätzlichen Voraussetzungen ausgehen.
Hier bin ich gar nicht, scheint der Autor Stendhal oft zu sagen. Vervielfachung und Erweiterung der Person, Übersprung ins Anderswohin - das sind Grundfiguren, mit denen sich der Imaginationsraum Henri Beyles entfaltet. Dieser Raum unterhält ein utopisches Verhältnis sowohl zum Gebiet der zeitgenössischen Geschichte wie zum literarischen Feld. Die mehr als 400 Pseudonyme, unter welchen Beyle auftrat, sind nicht nur Alias-Namen, sondern auch Alibis: Bekundungen, daß ihn die Zeitgenossen des 'Juste Milieu' ebensowenig zu fassen bekommen sollten wie die seinerzeitigen Literaturkritiker und Leser, denen er weder Takt noch Freiheitssinn, weder Sympathie noch künstlerisches Urteil zuzutrauen schien.
Im dichten und augenöffnenden Anfangskapitel seines Buchs über Stendhals Deutschland charakterisiert Manfred Naumann die Schreib- und Sprechstrategien dieses Autors als die eines verlarvten Redens, dessen Maske sowohl Schutzschild wie Resonanzkörper ist: "Offenbar war Beyles Neigung zur pseudonymen Maskerade ein Element seines psychischen und geistigen Gesamthabitus."
In der Moderne wird das Menschengesicht, das lange Zeit Sinnbild für die Ebenbildlichkeit Gottes und somit für menschliche Ganzheitlichkeit war, radikalen Auflösungsprozessen unterzogen. Zugleich scheinen immer wieder Erlösungsutopien durch, die eine neue Suche nach dem verlorenen oder erst noch zu schauenden Gesicht initiieren. Dieser Doppelstrebigkeit wird im Folgenden unter dem Leitbegriff des Rätsels nachgegangen. Letzterer lässt sich hierbei auf seinen zweifachen altgriechischen Ursprung zurückführen, auf 'griphos' ('Fischernetz, Schlinge': Ratespiel) und 'ainigma' ('dunkle Andeutung': das Rätselhafte). Das Rätsel wird in der Theologie seit jeher - in der Philosophie vermehrt in der Moderne – mit dem Gesicht (in seiner Doppeldeutigkeit von gesehenem und sehendem Gesicht) assoziiert, dessen Les- und Lösbarkeit es einer hermeneutischen Bewährungsprobe unterzieht. An zwei philosophischen Werken soll in einem ersten Schritt dieses Junktim von Rätsel und Gesicht(e) im Diagramm der beiden Lösungsbewegungen von Auflösung und Erlösung nachgezeichnet werden: an Friedrich Nietzsches 'Also sprach Zarathustra' (1883–1885) und Franz Rosenzweigs 'Stern der Erlösung' (1921) sowie seinen "nachträgliche[n] Bemerkungen" hierzu in "Das neue Denken" (1925).
Schleppen und Schleifen
(2015)
Schleppen und Schleifen sind einander etymologisch verwandt. Seit dem 13. Jahrhundert soll die Ähnlichkeit von Schleppen und Schleifen bereits in der Deutschordensdichtung belegt sein; das Grimm'sche 'Wörterbuch' notiert, dass "die identität von schleppen und schleifen" um 1430 erkannt und erstmals in Wörterbüchern erfasst wurde. Nun sind Schleppen und Schleifen nicht nur Verben für den mehr oder weniger identischen Vorgang, etwas unter Mühe langsam, schwerfällig und mit großem Kraftaufwand am Boden entlang zu ziehen, sondern auch Pluralformen von Substantiven. Die Schleppe und die Schleife bezeichnen dabei geradezu das Gegenteil der verbalen Bedeutung: Anders als die Verben 'schleppen' und 'schleifen' sind sie nicht mit Mühe, Last und Erschöpfung konnotiert, sondern stehen vielmehr für Luxus und Verschwendung - für die unendliche Leichtigkeit des Seins.
Aus den Elementen schuf die Göttin der Liebe, Aphrodite, unsere "unermüdlichen Augen", lehrt Empedokles. Und "das das Herz umströmende Blut ist dem Menschen die Denkkraft". Wie der Körper beschaffen ist, so wächst dem Menschen das Denken. Aristoteles berichtet, daß die alten Philosophen, ausdrücklich Empedokles, Denken und Wahrnehmen für dasselbe gehalten hätten. Aus Elementen sind wir gemischt wie die Dinge, und so nehmen wir die Dinge wahr im Maß, wie sie auf Verwandtes in uns treffen. Im Inneren des Auges ist Feuer, umgeben von Wasser, Erde, Luft. Aus dem Auge wird das Feuer als Sehstrahl auf die Dinge entsandt, und so entsteht das Sehen. Umgekehrt fließen von den Dingen feine Abdrücke ab: wenn sie auf die Poren der Sinnesorgane passen, so werden sie wahrgenommen; passen sie nicht, wird nichts wahrgenommen. So fließt zwischen Leib und Dingen nach der Passung der Poren ein ständiger Strom des Gleichen zum Gleichen. "Denn mit der Erde (in uns) sehen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, mit der Luft die göttliche Luft, aber mit dem Feuer das vernichtende Feuer, mit der Liebe die Liebe, den Streit mit dem traurigen Streite." (Capelle, 236) Einem solchen Denken ist Personalität, Identität des Subjekts fremd. Zwischen Natur und Mensch besteht kein Bruch, sondern ein Strömen des Gleichen und Verwandten. Kein qualitativer Sprung zwischen Leib und Geist. "Denn wisse nur: alles hat Vernunft und Anteil am Denken" (Capelle, 239) - denn zwischen Göttern, Menschen und den "vernunftlosen" Tieren besteht eine "Gemeinschaft des Lebens und der gleichen Elemente", Verwandtschaft folglich durch jenen umfassend einzigen "Lebenshauch, der die ganze Welt durchdringe". ...
Souvenir und Andenken
(2006)
Souvenir und Andenken sind [...] Mediatoren einer Umwegerinnerung: und dies, weil sie "mit dem ursprünglichen Sinneseindruck" metonymisch, d.h. als Fragment zusammenhängen. Charakteristisch für Souvenir und Andenken ist, dass sie, als Reststücke einer Person, eines Ortes, einer Situation, eines Erlebnisses, ein Versprechen enthalten, nämlich eine bislang im Rest-Fragment nur angedeutete Geschichte ganz zu erzählen, wiederzubeleben, wiederzuinszenieren. Dass dieses Versprechen nur sehr schwer und selten eingelöst werden kann, ist der Zwischenzeit geschuldet.
Der Beitrag untersucht die verschiedenen Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit in Francesco Colonnas "Hypnerotomachia Poliphili" (1499) und François Rabelais' "Pantagruel" (1532) und "Gargantua" (1535), die auf Colonna zurückgreifen. Er unterscheidet die Wirkungen der Sprachmischung (im Sinne einer Hybridisierung der Sprache, in der erzählt wird) von den Wirkungen, welche die Polyglossie (im Sinne der Pluralität der in einem Werk verwendeten Sprachen) hervorbringt. Daraus ergeben sich auf der Ebene der Narration wie auf der von Syntax und Lexikon unterschiedliche Ästhetiken, die, indem sie den Autor in der von ihm verwendeten artifiziellen Sprache zum Verschwinden bringen, im Diskurs des Textes die Stimme des Anderen hörbar machen.
Mein Beitrag handelt von zwei Begriffen, die gleichermaßen gut eingeführt sind, aber üblicherweise nicht gemeinsam verhandelt werden: Sympathie und Synergie. Die Disziplinen und Kontexte, in denen sie heute auftreten, sind weit voneinander entfernt: Die Synergie hat ihre Domänen in Technik und Wirtschaftswissenschaft, der Sympathie sind vor allem Philosophie und Psychologie zugetan. Freilich sind diese Wörter so nahe miteinander verwandt, dass es verwunderlich oder gar bedauerlich ist, sie beziehungslos nebeneinander stehen zu sehen. Immerhin gibt es Diskussionen, in denen dieses Tandem zwar nicht namentlich auftritt, aber der Sache nach zum ema gemacht wird. Diese Diskussionen möchte ich aufgreifen und vorantreiben, denn das Tandem Synergie/Sympathie hat, wie ich meine, erhebliches sozialtheoretisches Potential.
Im Zeitraum vom 7. bis zum 9. Dezember 2017 fand an der Universität Breslau (Wrocław) in Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum die Winterschool "Europa: Poetik und Politik" statt. Die gut zwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer – darunter Professor*innen, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und Studierende beider Universitäten – diskutierten die neuere Geschichte von Europa-Diskursen von der Romantik bis in die Gegenwart. Ausgangspunkt der Tagung war die gegenwärtige Krise der Europäischen Union, die – so zeigte sich im Verlauf der Tagung – als Fortführung der leitmotivischen 'Schwellensituationen' zu verstehen ist, die als das Gemeinsame der diskutierten Texte und somit in gewisser Weise als konstitutiv für den Europa-Diskurs erkannt wurden.
Nach 1989 ist Europa – wieder einmal – in Bewegung geraten und die Mitte des Kontinents hat sich "ostwärts" verlagert. Diese Verschiebung Europas, die Frage nach neuen und alten Grenzen und Zentren, ist Anlass, sich mit jener vergessenen Himmelsrichtung und ihren Gebieten zu befassen, die 'plötzlich' wieder auf der Landkarte und in den Köpfen aufgetaucht sind. Wird der Osten zum Standort gemacht, von dem aus Europa zu konturieren ist, so erschließt sich dieser Osten in seinen unterschiedlichen geographischen, historischen und imaginären Mehrdeutigkeiten. Europa wird dabei zu einem dezentralen Gebilde, für dessen kulturelle Semantiken gerade die Peripherien von entscheidender Bedeutung sind.
In den Beiträgen des Bandes werden diese "schmerzenden Nähte" (Jurij Andruchowitsch) aufgesucht: von Vilnius über den Balkan, den Kaukasus, die Schwarzmerregion bis nach Istanbul, Alexandria oder Beirut. Es eröffnen sich plurale Kulturen, deren Umgang mit Sprachen, Religionen, Bild- und Zeichensystemen in vielem quer zu westlich-europäischen Ordnungskonzepten liegen. Zugleich liegt die Brisanz dieser Kulturen darin, dass sie auf vielfältige Weise mit modernen kulturellen Homogenisierungsstrategien verbunden sind und immer wieder auf die auch diesen inhärenten, verdeckten oder getilgten Pluralitäten verweisen. Die Beiträge zeigen, wie die Vermessung dieser Orte zu allen Zeiten zu einem beträchtlichen Teil in Literatur und Kunst stattfindet. Hier werden territorial-kulturelle Zugehörigkeiten verhandelt, wird ein nuanciertes Spiel mit geopolitischen Verschiebungen, Verwerfungen und Umkodierungen von Topographien, mit ironischen oder melancholischen Wahrnehmungen "fremder" Räume und Gepflogenheiten betrieben.
Dieser Artikel thematisiert die Anfänge und Hintergründe der Beziehung zwischen europäischer Comic-Kultur und amerikanischer Comic-Geschichte. Die erfolgreiche Etablierung amerikanischer Comics in Europa Mitte der 1930er Jahre ist eng mit den internationalen Wirtschaftsbeziehungen verbunden; verständlich wird sie aber nur, wenn man sich vor Augen führt, welchen Einfluss Engagement und Vernetzung einzelner Persönlichkeiten hatte. Es war zum Beispiel das Verdienst von John A. Brogan, Foreign Sales Manager der 1929 gegründeten internationalen Vertriebsabteilung von King Features Syndicate, dem es gelang, den europäischen Zeitungen passende Comic-Strips zum Verkauf anzubieten. Aus seinen Bemühungen resultierte in Europa die Gründung von Agenturen, die hauptsächlich dem Vertrieb von Comics gewidmet waren. Auf diese Weise wurden die organisatorischen und personellen Voraussetzungen für den transatlantischen Kulturtransfer im Bereich der Comics geschaffen.
Vom wüsten Raum zur affektiven Provinz : westliche Semantisierungen östlicher Landschaft 1800−1960
(2011)
In Europa meint die Zuschreibung der Himmelsrichtung stets mehr als eine rein kartographische Situierung. Was als "Osten" bezeichnet wird, unterliegt historisch ständigen Verschiebungen, bei denen sich eine enge Kopplung zwischen geographischer und semantischer Dimension verfolgen lässt. Bei dieser beweglichen Grenzziehung nimmt Deutschland einen besonderen Platz ein: Das Land erscheint in Selbst- wie Fremdbeschreibungen als Hybrid zwischen Ost und West und unterhält gleichzeitig eine eigene Faszinationsgeschichte mit der Figur des Ostens, die zwischen Abwehr, Okkupation und Identifikation schwankt. Es bildet daher den Ausgangs- oder vielmehr Durchgangsort, um im Folgenden die semantischen Wanderungen im (westlichen) Blick auf östliche Landschaften nachzuzeichnen. Die Etappen reichen von der Wahrnehmung der Gegend um Berlin als wüsten Raum um 1800 bis zur affektiven Besetzung der ehemaligen deutschen Gebiete in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus geographischen Provinzen werden dabei Provinzen des Gedächtnisses.
Wir haben mit der Studie des Berliner Komparatisten Winfried Menninghaus eine faszinierende Theoriegeschichte bekommen, die Literaturgeschichte des Ekels bleibt zu schreiben. Es steht zu vermuten, daß sie in den nächsten Jahren (pessimistischer vielleicht: Jahrzehnten) geschrieben oder vielleicht eher doch aus vielen einzelwissenschaftlichen Teilen zusammengesetzt werden wird, denn das Thema hat ganz offensichtlich schlagartig begonnen, Interesse auf sich zu ziehen. Die Gründe, warum es gerade jetzt emergiert, sind kaum in der Sache gegründet, sondern in der Dynamik der Literatur- und Kulturwissenschaften selbst zu suchen, eine Problematik, der eine eigene metatheoretische Studie zu widmen wäre. Die Präsenz der Ekelthematik in der gesamten Moderne und ihr konstitutiver Zusammenhang mit für sie zentralen ästhetischen Kategorien kann jedenfalls nicht mehr übersehen werden. Neben der postulierten historischen Verschiebung in Funktion und möglicherweise auch im Inhalt des Ekels muß die Frage nach seiner Genderisierung beschäftigen, die im folgenden eher als ein Nebenthema mitgeführt wird, obwohl es unzweifelhaft ist, daß Ekelhaftes überwiegend mit weiblichen Konnotationen versehen ist und literarisch genauso inszeniert wird. Aber - und damit komme ich auf die historische Perspektive zurück - war das stets so?
The article investigates a particular mode of semanticization of space in storytelling: it explores cases of narrative de-semanticization of space, especially of interior space. The focus of this endeavor is on the relation of the narrative creation of space and narratological self-reflection. In a reading of Descartes' "Discours de la méthode", the article exposes how the philosophical construction of the spaceless "je pense, donc je suis" diminishes the production of spatial meaningfulness provided by the narrative from which it emerges, thus exhibiting the disparity of Descartes' philosophical and narrative concepts of space. - Unlike Descartes' "Discours", Richard Ford's story "I'm Here" (from the volume "Let Me Be Frank With You") performs spatial desemanticization by staging physical destruction of interior space. The article examines how the narrative, by introducing the disintegration of a home, constructs its own starting point and thus exposes its self-generation originating in an imaginary lack of spatial significance.
Seit Kants Metaphysikkritik, Engels dogmatischer Gegenüberstellung von Dialektik und Metaphysik und Carnaps radikaler Programmatik, Metaphysik "durch logische Analyse der Sprache" zu überwinden, hat der Begriff einen pejorativen Beigeschmack angenommen. Andererseits haben sich unterschiedliche Ansätze zu einer anti- oder nachmetaphysischen Metaphysik entwickelt. Nicht nur im konzeptuellen Rahmen der Kritischen Theorie ist gefragt worden, ob "im Augenblick ihres Sturzes" nicht Solidarität "mit Metaphysik" an der Zeit wäre. Sogar auf dem Terrain der analytischen Philosophie regt sich wieder Interesse an ontologischen Problemen, dem Kernbereich der Metaphysik. Ganz unverächtlich ist heute wieder von einem metaphysischen Bedürfnis, von metaphysischer Unruhe und metaphysischen Gefühlen die Rede; und auch das philosophische Feuilleton nimmt sich metaphysischer Sinnansprüche an. So veranstaltete das "Journal für Philosophie" der "Blaue Reiter" 2009 ein Themenheft "Metaphysik. Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit": Die Beiträge behandelten Gegenstände wie "Marke und Metaphysik. Die Scheinwirklichkeit der Warenwelt", "Die Metaphysik des Geldes", "Viel Lärm um nichts. Im Dschungel der Erklärungsversuche des Unerklärlichen", "Virtuelle Wirklichkeiten. Cyberphilosophie und andere Gespenstergeschichten" oder "Die Metaphysik des Schwebens. Philosophie, Ontologie, Metaphysik. Die Geschichte einer Verirrung". Ist die Metaphysik also wieder im Rennen? Angesichts dieser ein wenig verworrenen Problem- und Diskussionslage, in der es um Sinnansprüche und Orientierungen der Einzelnen geht, meldet sich auch das Bedürfnis nach kritischer Vergewisserung. Hierzu soll der folgende Aufsatz einen Beitrag leisten, der das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Metaphysik, verstanden als prinzipiengeleiteter philosophischer Wissensform mit theologischen Residuen, beleuchtet.
Wer durch eine Stadt wie Venedig geht, sieht, dass die Zeit überall ihre Spuren hinterlässt. Der britische Kunsthistoriker John Ruskin nennt diese Spuren in seinem 1851 bis 1853 publizierten Reisebericht 'The Stones of Venice' "time stains" und macht darin eindrücklich darauf aufmerksam, dass Spuren der Zeit ästhetisch betrachtet werden können, obwohl sie kein Produkt des Menschen, sondern zunächst einmal eines der Zeit sind. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob und inwiefern die Zeit als Gestalterin ästhetischer Objekte begriffen werden kann und wie sie dieses Potenzial in Konkurrenz zu kulturellen Gestaltungsabsichten erfüllt.
Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich die im Kontext der Ruinenästhetik geführten Diskussionen und das seit einigen Jahren zu verzeichnende neue Interesse am Naturschönen folgendermaßen verbinden und zuspitzen: Die Zeit muss als gegenkulturelle Gestalterin der Lebenswelt genauer ins Visier und als ästhetisches Subjekt ernst genommen werden. Der Beitrag reiht sich damit in die seit einigen Jahren Konjunktur verzeichnende ästhetische Auseinandersetzung mit der Zeit ein. Dort ist bislang versäumt worden, dezidiert nach der ästhetischen Gestaltungskraft von Zeit zu fragen, während man die kulturelle Gestaltbarkeit von Zeit betont hat.
Stumme Diener, menschliche wie nichtmenschliche, sind entgegen ihrer Bezeichnung "things that talk", Stumme Diener können gar nicht anders, als doch zu reden. Ihre abgewandten, verstellten Stimmen, ihr Flüstern und Murmeln bei halbgeöffnetem Mund gilt es zu vernehmen. Nicht nur der Subalterne spricht, auch die Dinge. Sie können gar nicht anders als im Modus des Stummgeschaltet-Seins dennoch mitzureden mit Hilfe der um sie herumgelagerten Geschichten. Stumme Diener sind Medien, die Sprechen machen.
Mit der Frage nach der Grundordnung gehen die Untersuchungen dieses Bandes hinter bzw. vor die juristische Semantik des Verfassungsbegriffs zurück. Denn dieser ist, wie andere moderne Fachtermini auch, das Ergebnis einer Verengung. Die 'Verfassung', zunächst ein 'Erfahrungsbegriff', "der den politischen Zustand eines Staates umfassend wiedergibt", habe sich zum Begriff für den "rechtlich geprägten Zustand eines Staates" verengt und falle "nach dem Übergang zum modernen Konstitutionalismus mit Gesetz in eins", währenddessen der Begriff des Gesetzes nun "die Einrichtung und Ausrichtung der staatlichen Herrschaft regelt" und "damit selbst vom deskriptiven zum präskriptiven Begriff" wird, so Dieter Grimm, der die genannte Verengung damit erklärt, dass der Begriff der 'Verfassung' seine "nichtjuristischen Bestandteile zunehmend" abgestoßen habe. Diese nichtjuristischen Bestandteile aber sind Grundlage und Voraussetzung des Grundgesetzes, das sich eine Gemeinschaft gibt, um sich als politisch-rechtliches Gebilde zu konstituieren. Sie betreffen das Selbstverständnis eines politischen Gemeinwesens, ob Land, Staat oder Föderation, das tiefer und weiter zurück reicht als das Gesetz.
[...]
Damit rühren die nichtjuristischen Bestandteile des Verfassungskonzepts an Erfahrungen, Überzeugungen und Prinzipien, nach denen ein Gemeinwesen gebildet wird. Deren normative Kraft wird dadurch verfestigt, dass ihnen Verfassungsstatus verliehen wird – vorausgesetzt man könne einem Gemeinwesen einen einheitlichen Willen, einen volonté generale, unterstellen. Da das in der historischen Realität seltener der Fall ist, kommen in der Formulierung der grundlegenden Prinzipien einer Verfassung auf je unterschiedliche Weise religiöse, ethnische, geographische, sprachlich-kulturelle oder auch sittliche Aspekte zum Zuge, von denen dann zumeist einer als prioritär bewertet und deshalb allen anderen vorangestellt wird: als übergeordneter Gesichtspunkt. Wenn etwa die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz als "freiheitlich demokratische Grundordnung" definiert ist, dann sind darin leitende Prinzipien formuliert, die sich in diesem Fall auf vorausgegangene historische Erfahrungen gründen, konkret auf die Lehren, die aus Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg gezogen wurden. Das gilt ähnlich für die Europäische Union, die ihr Selbstverständnis als "wirtschaftliche und politische Partnerschaft zwischen 27 europäischen Staaten" auf die Erfahrungen der Kriege des 20. Jahrhunderts zurückführt.
Bei aller Diversität und Variabilität der Körperbilder und Körperregimes, über die die Genese kollektiver Identität erfolgt, ist eine ihnen allen gemeinsame Dimension kaum zu übersehen: als sichtbare‚ Verkörperung des Imaginären der Nation werden ausschließlich weibliche Körperbilder eingesetzt. Plastisch lässt sich diese eigentümliche Politisierung des weiblichen Körpers an künstlerischen Darstellungen der Nation wie etwa an der französischen Marianne als Sinnbild Frankreichs, an der US-amerikanischen Freiheitsstatue oder aber an der bayerischen Bavaria nachvollziehen. Wie lässt sich diese spezifische (ethno-)nationalistische Funktionalisierung des weiblichen Körpers erklären? In welchem Verhältnis steht sie zum jeweiligen historischen Geschlechterdiskurs? Welchen psychosozialen Bedürfnissen kommt sie entgegen? Welche konkreten Folgen zieht sie für die Repräsentantinnen des "anderen Geschlechts" (S. de Beauvoir) nach sich? - diesen Fragen geht der erste Teil des vorliegenden Beitrags nach, während der zweite die "aufgerichteten" weiblichen Siegesallegorien im Nationalsozialismus genauer unter die Lupe nimmt.