BDSL-Klassifikation: 02.00.00 Deutsche Sprachwissenschaft > 02.02.00 Studien
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Leistung
(2019)
Das 20. Jahrhundert hat zahlreiche Begriffe seiner Selbstbeschreibung hervorgebracht: Die 'Leistungsgesellschaft' ist eine dieser gängigen Selbstzuschreibungen, die sich im Kern auf einen Begriff zurückführen lassen: 'Leistung' erscheint auf den ersten Blick als klar zu fassen - wenn nicht sogar mathematisch-physikalisch präzise definiert als 'Arbeit pro Zeit'. Doch erschöpft sich das Bedeutungsspektrum des Leistungsbegriffs in dieser Formel? Was will eine Gesellschaft von sich aussagen, wenn sie sich als 'Leistungsgesellschaft' versteht? Jasmin Brötz geht im Folgenden auf Nina Verheyens populärwissenschaftliche Vorschau (Die Erfindung der Leistung, München 2018) auf ihr Habilitationsprojekt ein. [...] Grundlegende These des Buches ist, dass in der Gesellschaft Leistung gemeinhin als "individuelle Leistung" verstanden wird. Kollektive Anteile an einer Leistung, so Verheyen, werden dabei systematisch ausgeblendet. Die Autorin wirbt daher für ein "soziales Leistungsverständnis", das kollektive Aspekte von Leistung ebenso berücksichtigt, wie es ein Bewusstsein für das historisch gewachsene und wandelbare Konzept von Leistung entwickelt. Diesen eigenen normativen Anspruch verbindet sie mit einem konstruktivistischen Ansatz, indem sie die Zuschreibungen von Leistung dekonstruiert und darüber hinaus ganz im Sinne von Foucault Leistung als Mittel der Disziplinierung und Hierarchisierung hinterfragt.
Netz / Netzwerk / Vernetzung
(2019)
Netz, Netzwerk und Vernetzung sind zu Schlüsselbegriffen für die Wissensorganisation der Gegenwart geworden. Wir begegnen uns im Netz, sind vom Netz gefangen, abhängig, begeistert und vor allem mit und durch Netzwerke verbunden; wir flirten, streiten, kaufen dort. Unsere Kühlschränke befinden sich in regem Austausch mit unseren Autos, Nachttischlampen, Kaffeemaschinen sowie den Firmen und Regierungen, die sich für diese Datenflut begeistern können. Dass wir vernetzt sind, würde gemeinhin niemand mehr bestreiten. Doch der Hang zur Vernetzung geht über den Cyberspace hinaus. Denn nebenbei betreiben wir fleißig Networking, halten Ausschau nach wertvollen Kontakten, begreifen das Netzwerk als effiziente wie raumrelativierende Kooperationsform und kartographieren komplexe Abläufe mithilfe feingliedriger Netzwerkmodelle. Dieser Umstand hat in den letzten Jahren viele geisteswissenschaftliche Arbeiten zur Reflexion angestoßen. Peter Fritz geht im Folgenden hauptsächlich auf zwei neuere Studien (Alexander Friedrich: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern, Paderborn 2015; Sebastian Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke, Berlin 2016) ein, die die Dominanz von Netzen und Netzwerken in der Gegenwart als Ausgangsbeobachtung wählen, aber unterschiedlich mit dieser Gegenwartsdiagnose umgehen.
Intellektuelle
(2019)
Zumeist im Plural als 'die Intellektuellen', weniger häufig im Singular als 'der Intellektuelle' und kaum je in der weiblichen Form als 'die Intellektuelle', zählt der Begriff zu den Neuschöpfungen im frühen 20. Jahrhundert. Er ist von stark vagabundierender Bedeutung und steht immer auf dem Prüfstand. [...] Akademiker, Ideenträger, Geistesführer, das sind nur drei und dazu sehr unterschiedliche Bedeutungen, auf die der Begriff 'Intellektuelle' verweist, als er um 1900 in Deutschland zu zirkulieren beginnt. Diese Zirkulation wird im Folgenden entlang der neueren Intellektuellenforschung unter drei Aspekten betrachtet: Zuerst wird die in Deutschland einflussreiche 'Schimpfwortgeschichte' als Abwehrgeschichte französischer Traditionen aufgegriffen, es werden aber auch die mit Beginn des 20. Jahrhunderts für den deutschen Sprachraum nachweisbaren positiven Semantiken und Aneignungsformen betrachtet (I); im Anschluss werden Forschungswege der Soziologisierung wie der diskursanalytischen Behandlung des Intellektuellenthemas verzeichnet, zugleich wird noch einmal an Reinhart Kosellecks Konzept von Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte erinnert (II); schließlich wird das gesteigerte Interesse an einer präzisierenden und differenzierenden Intellektuellengeschichte seit den 1970er Jahren beschrieben, um einige Linien zu gegenwärtigen Verwendungskontexten zu ziehen (III).
1967, im gleichen Jahr, in dem Richard Rorty seine Bestandsaufnahme zum 'linguistic turn' publiziert, hält Michel Foucault einen Vortrag über 'andere Räume'. Das 19. Jahrhundert, so Foucault, sei die Epoche der Geschichte und der Zeit gewesen, seine Themen waren "Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen". Das 20. Jahrhundert dagegen - für Foucault: die Gegenwart - sei als Epoche des Raumes zu begreifen: "Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten". Der Strukturalismus, so Foucault weiter, sei der Versuch, in diesem Sinne den Zusammenhang zwischen den Elementen nicht mehr als Abfolge, sondern als Ensemble von Relationen zu begreifen, als "Konfiguration". Der Raum, so könnte diese viel zitierte Passage gedeutet werden, wäre gegenüber der Sprache eine noch grundlegendere Kategorie; der 'linguistic turn' dann nur noch eine Variante des 'spatial turn'. In der Lesart von Stephan Günzel, dem Herausgeber des 2010 erschienenen interdisziplinären Handbuches "Raum", erscheint die Sprachwende in diesem Sinne als Teil der Vorgeschichte der späteren "Raumkehren". [...] David Kaldewey nimmt anhand des Handbuches eine über einzelne Autoren und Stichwortgeber hinausgehende Einschätzung der Bedeutung und Karriere des Raumbegriffs in verschiedenen Disziplinen und Forschungsfeldern vor.
Nichts ist so prekär wie die Kontinuität und Identität eines Zeichens. Gewiss, die Weiterverwendung eines tradierten Wortkörpers suggeriert Kontinuität auch auf der Inhaltsseite, und die Etablierung eines neuen Wortkörpers suggeriert Diskontinuität, wiewohl ein neuer Wortkörper einen etablieren Inhaltskomplex fortführen und ein alter einen grundstürzend neuen Inhaltskomplex etablieren kann. [...] Kurz und gut: Jegliche Verallgemeinerung über das, was die Leitbegriffe des 20. Jahrhunderts von denen des 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist mit Vorsicht zu genießen. Was neu aussieht, muss nicht zur Gänze neu sein, und vice versa. Die ausdrucksseitigen Kodierungen sind selbst bisweilen strategisch, wir haben es mit einer öffentlichen Meinung zu tun, die zunehmend professionell produziert (und auch kurzfristig improvisiert) wird. [...] Es wird also zu fragen sein, ob sich nach dem Ansehensverlust der großen traditionellen 'Bewegungsbegriffe' (sagen wir) Stilmerkmale ausmachen lassen, die charakteristisch sind für die Macht-, Wissens- und Zustimmungspraktiken des 20. Jahrhunderts. [...] Als Sprach- und Kommunikationswissenschaftler versucht Clemens Knobloch, Veränderungen im Konnotationstransfer bei einigen 'modernen' Grundbegriffen auszuleuchten.
Der Entwicklung einer sprachwissenschaftlichen Terminologie bei Jacob Grimm gilt das Interesse von David Martin. Für das Problem sowohl des Deutschen als auch der Wissenschaftssprache bilde Grimm insofern ein schlagendes Beispiel, als eine potentielle Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache die (frühe) Sprachwissenschaft zwangsläufig vor besondere Herausforderungen habe stellen müssen. Grimms Lösung dieses Problems bestehe nun darin, eine solche Differenz gar nicht erst aufbrechen zu lassen, das Subjekt dem Objekt der Erkenntnis regelrecht 'auszuliefern' und weniger "über die Sprache" als "mit ihr" zu sprechen. Dadurch komme es bei Grimm zwar durchgehend zu einer Annäherung der Darstellung an ihren Gegenstand, doch dürfe diese über die tendenzielle Artifizialität insbesondere seiner Fachausdrücke nicht hinwegtäuschen. Grimm untersuche eine Sprache, "die er zu deren Beschreibung zugleich entdeckt und erfindet".
Sprache ist ein Medium, mit dem auf vielfältige Weise experimentiert werden kann. In diesem Band werden unterschiedliche Fragestellungen aufgeworfen, die sowohl konkrete mediale und gesellschaftliche Veränderungen als auch deren Folgen im Bereich des Experimentierens mit der Sprache betreffen. Darüber beschäftigen sie sich mit dem Einfluss der neuen digitalen Welt des 21. Jahrhunderts auf die deutsche Sprache. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Grenze zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und dem sprachlichen Experimentieren in der Presse gewidmet. Eine ganz spezifische Perspektive stellen die letzten zwei Abschnitte des Buches dar, die Experimente aus diachroner Perspektive und im Sprachkontakt betrachten.
Begriffe 'nach dem Boom'
(2019)
Mit ihrem Essay "Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970" haben Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael vor über zehn Jahren vielfältige Forschungen und Debatten zur Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgelöst. Anders als Versuche, dieses Jahrhundert mit synthetischen Interpretationen wie der eines 'Weges nach Westen' oder eines Siegeszugs der liberalen Demokratie zu resümieren, beschrieb "Nach dem Boom" die drei Jahrzehnte seit 1970 als einen sozialen Wandel von revolutionärer Qualität. Dieser bis in die jüngste Gegenwart angenommene 'Strukturbruch' bündelt einschneidende ökonomische und sozialhistorische Zäsuren sowie politische und kulturelle Schwellen. Ernst Müller setzt sich im Folgenden mit dem von Ariane Leendertz und Wencke Meteling herausgegebenen Band "Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt a. M./New York 2016" auseinander, der eine begriffsgeschichtliche Prüfung der 'Nach dem Boom-Thesen' vornimmt.
Globalisierung
(2019)
Wer denkt, Globalisierung habe etwas mit Marktwirtschaft zu tun, irrt nicht. Auf diesen kurzen Nenner ließe sich die ausführlichste begriffsgeschichtliche Studie bringen, die bislang zu 'Globalisierung' vorliegt. Doch wird man mit dieser verknappenden Formel weder dem Phänomen noch der von Olaf Bach 2013 veröffentlichten Studie "Die Erfindung der Globalisierung" gerecht. Denn zu Recht versteht er 'Globalisierung' nicht als einen ökonomischen Fachbegriff, sondern untersucht "Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs".