BDSL-Klassifikation: 03.00.00 Literaturwissenschaft > 03.07.00 Ästhetik
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Charakteristischerweise geht die Praxis der Physiognomie mit deutlichen Linien, Markierungen und Figuren einher und verheißt so etwas wie ein System, Entzifferbarkeit und Universalität. In dieser Hinsicht ist Le Bruns 'Grammatik des Gesichts' exemplarisch. Doch hier werde ich mein Augenmerk auf Situationen und Gemälde richten, in denen die physiognomische Information partiell, mangelhaft, vage oder doppeldeutig ist. Oberflächlich betrachtet sind derartige Szenarien das Gegenteil der Le Brun'schen Lesbarkeit und dem ordnungsbewussten Physiognomiker damit ein Gräuel. Doch ich werde im Folgenden deutlich machen, dass diese pikturalen Lücken und Fehlstellen Bedeutung keineswegs negieren, sondern die Imagination des Betrachters vielmehr anregen und ihn emotional einbeziehen. Es gilt, einen physiognomischen Prozess des Entschlüsselns und Analysierens zu untersuchen, der sich etwas von dem Le Brun'schen Modell unterscheidet, gleichwohl aber auf körperlicher Expressivität beruht. Außerdem werde ich die These vertreten, dass die hier identifizierten Tendenzen in der Malerei sich im Einklang mit kognitiven Prozessen und Betrachtungsweisen jener Zeit befinden.
„Ich will zu diesem Vorkommnis aus dem psychischen Binnenleben das Seitenstück aus dem sozialen Leben suchen.“ Mit diesem Satz gelangt [Sigmund] Freud zum Begriff der Zensur und kann dann all dessen Ausdruckskraft nutzen – Unterdrückungsinstanz unangenehmer Wahrheiten, Zwang zur Mäßigung und Verstellung –, um seine neue psychologische Entdeckung zu erläutern: „eine bis ins einzelne durchzuführende Übereinstimmung zwischen den Phänomenen der Zensur und denen der Traumdeutung“. [André] Breton verdankt Freuds Zensurbegriff den entscheidenden Anstoß. Sein Programm des Surrealismus besteht im wesentlichen darin, traditionelle sprachreligiöse Idee auf moderne und provokante Art neu zu formulieren – und Freuds Zensurbegriff ist es, der dabei die Modernität und Provokation ausmacht. Die ‚écriture automatique’ folgt der literarisch-religiösen Idee von der sich selbst sagenden, sich selbst schreibenden Wahrheit. Die wichtigen Texte haben keinen Verfasser, heißt es, jedenfalls nicht einen Menschen bei wachem Verstand, sondern sind Offenbarungen aus göttlicher Quelle oder, sprachreligiös gewendet, der Sprache selbst.
Im Erhabenen befinden sich nicht die Erkenntniskräfte (also Einbildungskraft und Verstand) in einer freien Harmonie wie bei der Erfahrung des Schönen (wie immer sich eine solche freie Harmonie herstellen und bestimmen lassen kann), sondern Einbildungskraft und Vernunft befinden sich in einem Widerstreit […]. Die Vernunft fordert von der Einbildungskraft, Dinge darzustellen, die sie nicht direkt, sondern nur indirekt oder negativ darstellen kann, und zwingt die Einbildungskraft dadurch zu einer indirekten Darstellung ihrer (d.h. der Vernunft bzw. ihrer Ideen) selbst. Das Erhabene gründet in der Unmöglichkeit einer positiven Darstellung von Vernunftideen […]. Dem komplizierten Zusammen- und/ oder Wechselspiel von erhabenen Naturphänomenen, sittlichen Ideen, Vernunft und Einbildungskraft gehe ich im folgenden genauer nach. Während also der Schönheit die Funktion einer fundierenden Selbstbestätigung des Subjekts zugesprochen wird, da sich in ihr die Angemessenheit unserer Erkenntnisvermögen zur Beschaffenheit der Naturdinge ästhetisch und lustvoll zeigt, bringt das Erhabene eine Dissoziation von Subjekt und Welt und damit zunächst eine Unlust mit sich. In der Erfahrung des Erhabenen zeigt sich zunächst die Unangemessenheit jeder bestimmten Anschauung der Einbildungskraft zur Darstellung des erhabenen Gegenstands. In einem zweiten Schritt dient diese uneinholbare Unangemessenheit zur Darstellung einer Idee der Vernunft – vor allem der Idee der menschlichen Freiheit. Bloß uneigentlich erhaben ist dagegen die erhabene Natur, die entweder schlechthin groß oder aber gewaltig ist. Das Erhabene markiert den Riß zwischen dem freien menschlichen Subjekt und der kausalnotwendig verfaßten Natur, den es zugleich zu überbrücken behauptet.
[D]ie Analogie zwischen den vertikalen Ordnungen der Körper- und der Gesichtszonen [wird] in mindestens einem wesentlichen Detail gestört. Dieses Detail ist die Nase. In der alteuropäischen Physiognomik bildet sie ein herausragendes Detail in dem umfassenden System der Ähnlichkeiten, das den Menschen nicht nur zu den kosmischen Elementen, sondern auch zu den Tieren und deren Eigenschaften in Beziehung setzte. [...] Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wird diese Tierähnlichkeit als ganze prekär, und das macht gerade die Nase zu einem physiognomischen Ärgernis.
Seit dem sogenannten 'spatial turn' hat die Reflexion unterschiedlicher Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften Hochkonjunktur. Dabei wird immer wieder auf einen Aspekt verwiesen, der gleichwohl merkwürdig randständig bleibt: der Zwischenraum als materielle oder imaginäre Grenze. Sei es die häusliche Schwelle (Bachelard) oder der Schwellenritus (van Gennep), der postkoloniale 'in-between-space' (Bhabha), die paratextuelle 'zone intermediaire' (Genette) oder eine assoziative Ikonologie des Zwischenraums (Warburg). All diese Aspekte verweisen auf ein besonderes Feld von Praktiken im Raum, die in einem Zwischenbereich stattfinden, nämlich die Bewegungen im Zwischenraum. Ausgehend von den Hypothesen, dass erstens Räumlichkeit durch Bewegungen im Raum konstituiert und zweitens durch Zwischenräumlichkeit definiert wird, stellen sich die folgenden Fragen: Wie bewegt man sich im 'Dazwischen'? Gibt es spezifische 'zwischenräumliche Bewegungspraktiken' – und wie wirken sich diese sowohl auf die Konstitution des Raums als auch auf die Repräsentation des Zwischenraums aus?
Nach einer Eigenzeit des Ästhetischen zu fragen, heißt, sich auf das Problem einzulassen, was für eine Zeit und welche Zeiterfahrung in der Eigenzeit eines Kunstwerks eine besondere Geltung beanspruchen. Die Möglichkeit, dieser Frage nachzugehen, setzt voraus, dass die in der ästhetischen Form verankerten und im Kunstwerk auf Erfahrung drängenden Spannungen einer künstlerischen Eigenzeit auf jeweils begründbare Weise so verstanden werden können, dass sie sich von anderen Formen der Zeit und Zeiterfahrung in bedeutsamer Hinsicht unterscheiden. Ist diese begriffliche Voraussetzung grundsätzlich erfüllt, dann kann von der ästhetischen Eigenzeit als einer Praxis der Zeitgestaltung ausgegangen werden, die bestimmte Modelle und Konstellationen des Zeitlichen auf eine der Kunst eigenen Weise dem Bereich des prinzipiell Erfahrbaren und auf idiomatisch-bestimmte Weise Erkennbaren einschreibt.
Dem konjunktiven Erfahrungsraum, dessen Konjunktivität und Räumlichkeit zur Voraussetzung haben, dass Erfahrung im Bezug auf ein „Du“ gemacht wird, ist hier der disjunktive Erfahrungsraum gegenübergestellt. Konkretisiert man den Erfahrungsraum als Raum ästhetischer Erfahrung, so wäre der disjunktive Erfahrungsraum prototypisch für diese Erfahrungsform – zumindest für die Betrachtung des ästhetischen Erfahrens der Literatur: Der Leser ist allein mit einem Buch / einem Text. Bezogen auf das Analyseobjekt wird der konjunktive Erfahrungsraum bei Dirck Linck im Zusammenhang mit einem „Verschwinden“ ästhetischer Erfahrung von Literatur betrachtet – dies im Falle der Beat- und Pop-Literatur der 1960er Jahre.
Der Gedanke, dass der Grenzverlauf keineswegs eine irgendwie natürliche bzw. organische Tatsache ist, sondern das Ergebnis einer kulturellen, sozialen und politischen Konstruktion darstellt, nehme ich als Ausgangspunkt zu einigen eigentlich verstreuten und nicht systematischen Überlegungen über den Begriff der Grenze […]. Denn wenn man von Übergängen spricht, wird da explizit oder implizit vorausgesetzt, dass irgendeine Grenze überschritten werden soll und überschritten werden kann. Im gegenwärtigen Diskurs – bei solchen Begriffen wie z.B. “grenzüberschreitender Dialog”, “der Abbau von Grenzen” und Ähnliches – ist dieser Gedanke der prinzipiellen Durchlässigkeit von Grenzen stark präsent. Nun bedarf die gegenwärtige Beliebtheit des Begriffs der Grenze auch und gerade in den Kulturwissenschaften der sorgfältigen Differenzierung und hier kann nur ein kontextualistischer Zugang weiterhelfen. In der Tat huldigen die sogenannten „border studies“ allzu oft einem allgemein euphorischen Begriff der Grenze als Ort der Begegnung, des Austauschs, als Ort letztendlich einer Hybridisierung, deren Hauptmerkmal eine grundsätzliche Ambiguitätstoleranz sein soll.