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Die Zeit danach vorstellen : Überlebensfiguren bei Goethe, Kleist, Nietzsche und Heiner Müller
(2009)
Für folgende Überlegungen ist die psychoanalytische Deutungstradition maßgeblich, die von Freud selbst über die "Wilhelm Meister"-Studien von Sarasin, Eissler, Robert und Kittler bis hin zu derjenigen von Hörisch reicht, von
zahllosen Aufsätzen und Buchpassagen nicht zu reden. Gemeinsam ist diesen der endgültig vollzogene Abschied von idealisierenden, ein harmonisches Bildungsmodell für das bürgerliche Individuum am Text nur reflektierend bewahrheitenden Wilhelm-Meister-Deutungen. Zugleich teilen sie das Bemühen um ein psychologisch verfeinertes Verstehen des Textes. Ohne mich auf die Vielzahl subtiler Deutungsdifferenzen oder gar die internen Kontroversen der psychoanalytischen Schulbildungen näher als an gegebener Stelle in den Fußnoten einzulassen, konzentriert sich meine kritische Relektüre auf die an theoretischen Vorgaben Jacques Lacans ausgerichtete Interpretation von "Wilhelm Meister Lehrjahre".
Rezension zu Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Sophie von La Roche - Friederike Brun - Johanna Schopenhauer (= Rombach Wissenschaften. Litterae; Bd. 122), Freiburg/Brsg.: Rombach, 2005 ; Irmgard Egger: Italienische Reisen. Wahrnehmung und Literarisierung von Goethe bis Brinkmann. München/Paderborn: Fink, Verlag ; Guntram Zürn: Reisebeschreibungen Italiens und Frankreichs im Morgenblatt für gebildete Stände (1830-1850). Frankfurt/M. [u.a.]: Lang, 2008 ; Flucht ins Land der Schönheit: Briefwechsel zwischen Georg Gottfried Gervinus und Karl Hegel auf ihrem Weg aus den politischen Konflikten des deutschen Vormärz nach Italien - und zurück (1837-1839). Aus den Beständen der Universitätsbibliothek Heidelberg/Regina Baar. (Archiv und Museum der Universität Heidelberg; 14). Ubstadt-Weiher, Heidelberg, Basel: Verlag Regionalkultur, 2008 ; Brigitte von Schönfels: Das Erlebte ist immer das Selbsterlebte. Das Reisefeuilleton in deutschen Zeitungen zwischen der Revolution von 1848 und der Reichseinigung (Presse und Geschichte: Neue Beiträge; 19). Bremen: Ed. Lumière, 2005.
Publikationen zur Reiseliteratur der Aufklärung haben einen neuen Aufschwung erhalten und auch zu Schopenhauer sind in den letzten Jahren wichtige Beiträge erschienen. Die meisten Abhandlungen verweisen allerdings nur recht kursiv auf Schopenhauers Reisebericht, während die einschlägige Forschung zur Reiseliteratur Schopenhauer gar nicht erwähnt oder sich mit abwertenden Klischees begnügt: Ihr Bericht sei sentenziös und vom 'common sense' der Kaufmannsfrau geprägt, er hebe vor allem bürgerliche Tugenden hervor. [...] Die vorliegende Untersuchung der Schopenhauerschen Reise wird versuchen, sich dem "Sehpunkt" der Autorin so genau wie möglich zu nähern. Sie wird ihre weitläufige Bildung, ihr Selbstbewusstsein und ihre Urbanität berücksichtigen.
Zu dem umrätselten Gespräch, das Napoleon 1808 mit Goethe über den "Werther" geführt hat, kursieren zwei Auflösungen, die beide mit Goethes Äußerungen nicht zur Deckung zu bringen sind. Unbeachtet geblieben ist eine Erklärung aus dem Jahre 1902, die sich aus den Aufzeichnungen K. E. Schubarths ergibt. Sie stimmt nicht nur mit Goethes eigenen Andeutungen überein, sondern macht auch sein Schweigen über dieses Gespräch verständlich.
Die Geschichte von der schönen Tochter des Troerkönigs Priamos, die der Gott Apoll begehrte, fesselt seit der Antike die Leser, besonders jene, die der Stofftradition eine eigene Bearbeitung hinzufügten. Das Faszinosum Kassandra liegt sicherlich in deren Wohlgestalt und Weisheit einerseits und in ihrem Leid andererseits begründet: die Gabe, die Zukunft schauen zu können, erhält sie von Apoll. Kassandra löst jedoch die versprochene Gegenleistung – eine Liebesnacht mit dem Gott – nicht ein, woraufhin Apoll sie dadurch bestraft, dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken wird. Auch das Ende der Warnerin ist bekanntlich ein tragisches: obwohl sie die Eroberung Trojas vorhergesehen hat, kann sie diese nicht verhindern, wird von Agamemnon nach Mykene verschleppt und stirbt dort durch die Hand der eifersüchtigen Klytämnestra.
Als Friedrich Schiller 1790 seine Rezension über Bürgers Gedichte schrieb, kritisierte er nicht nur einen populären Lyriker, sondern lieferte zugleich einen Schlüsseltext für sein Verständnis „der lyrischen Dichtkunst“ (NA 22, 245), sofern ein solches Selbstbewußtsein als Lyriker bei ihm überhaupt existierte, wie Käte Hamburger zu bedenken gab. Hier äußerte er jedoch nicht nur seine Forderungen nach „Vereinigung“ der „getrennten Kräfte der Seele“ (NA 22, 245) und nach „Idealisierung, Veredlung“ der dichterischen Individualität (NA 22, 253), er setzte sich nicht nur indirekt mit seiner eigenen Jugendlyrik auseinander, in dieser Besprechung manifestiert sich vielmehr auch Schillers Verhältnis zu lyrischen Traditionen und dichtenden Zeitgenossen, wenn er über ‘die lyrische Dichtkunst’ schreibt
Heinrich von Kleists Modernität wurde mittlerweile zum Topos der literaturwissenschaftlichen Forschung; übernimmt das Werk dieses Autors doch häufig katalysierende Funktionen. Es konzentriert und extremisiert die ästhetischen wie kulturellen Krisenphänomene seiner Zeit und verweist dadurch mitunter auf narrative Techniken des 20. und 21. Jahrhunderts. Um so mehr verwundert es, daß einem Phänomen in den Texten Heinrich von Kleists bislang kaum Beachtung geschenkt wurde, dem in der ästhetischen Diskussion um 1800 eine Schlüsselposition zuzuweisen und das zu den Kennzeichen der Moderne zu rechnen ist: das Groteske.
Von Friedrich von Matthisson (1761-1831), „dem Landschaftsmaler unter den Dichtern, dem Sänger der Elegien und Mondscheinnächte, der Frühlingsbilder und Elfentänze, einem der Lieblinge unserer Lyrik“, wie das Damen Conversations Lexikon einige Jahre nach seinem Tod formuliert, publiziert das Goethezeitportal die Gedichte „Elysium“ und „Der Genfersee“. Beigefügt sind die Kritiken von Wieland und Schiller, Buchschmuck und Illustrationen sowie eine Kurzbiografie des Dichters.
Der Verlag von K. Ad. Emil Müller in Stuttgart gab eine Serie von 12 Postkarten mit Werken des Münchner Malers Wilhelm von Kaulbach (1804-1874) heraus. In ihr finden sich 6 Illustrationen zu Werken Schillers und zwei Karten mit Goethe-Motiven. Das Goethezeitportal publiziert die gesamte Folge und fügt hinzu: Zwei Bildbeschreibungen und Figurencharakteristiken von Ernst Förster aus Kaulbachs "Schiller-Gallerie" sowie Kurzbiografien von Kaulbach und Förster.
Von Mai bis August 1788 wohnte Schiller in Volkstedt, in der Nähe von Rudolstadt, Ende August zog er nach Rudolstadt um. Er verkehrte im Hause Lengefeld – heute „Schillerhaus“ mit Museum - und lernte die Schwestern Charlotte und Caroline kennen und lieben. So kam es im „Rudolstädter Sommer“ 1788 – wie Biographen annehmen - zu einem „romantisch-erotischen Dreiecksverhältnis“ (Eckhard Fuhr). 1790 heiratete er Charlotte. In der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg widmete Rudolstadt den Schiller-Stätten und dem Lied von der Glocke zwei Serien Notgeld, die das Goethezeitportal mit Erläuterungen publiziert.
Die sechs Genreszenen zur Ballade „Die Glocke“ von Schiller, aus dem Verlag von L. Stottmeister in Braunschweig, verweisen durch die Aussparung des Zitat- und Textfeldes auf ihre Entstehung um 1900 (auf der Rückseite durfte nur die Adresse stehen). Wie an den Kostümen ersichtlich, lässt der Künstler die Handlung am Übergang des späten Rokoko zum Empire spielen, mischt aber auch realistisch gegebene Szenen darunter.
Der von Goethe geschätzte Maler und Zeichner Johann Heinrich Ramberg (1763-1840) war der beliebteste Lieferant von „Almanachküpferchen“ für die Taschenbücher seiner Zeit. Sein Talent gilt als „fruchtbar, beweglich, liebenswürdig“ (Max von Boehn), die Almanachkupfer werden als gefällig, launig und schalkhaft gelobt, manchmal mit vorzüglichen Charakterisierungen und bildnerischen Einfällen (wie dem aus dem Pudel sich entwickelnden Mephisto). Von den 16 Faust-Illustrationen für „Minerva. Taschenbuch für das Jahr 1828“ und 1829 werden hier 9 aus einer bibliophilen, einer Handschrift nachgebildeten, in Pergament gebundenen Ausgabe von Goethes Faust publiziert. Mit einer Kurzbiografie und 2 Bildnissen von Ramberg sowie einer Würdigung der Illustrationen durch den Kulturhistoriker Max von Boehn.
Unter den Liebigbildern, den berühmtesten und am weitesten verbreiteten Sammelbildern, erschien 1911 eine Serie von Illustrationen zur Symphoniekantate „Fausts Verdammung“ von Hector Berlioz (1803-1869). Für Berlioz, „eine künstlerische Vielfachbegabung von äußerstem Anspruch und Raffinement“ (Hans Joachim Kreutzer), wurde Goethes Faust zu einem entscheidenden Bildungserlebnis. Sein Frühwerk, „Huit scènes de Faust“ ließ er Goethe zukommen, aber der wandte sich an Zelter, der ein vernichtendes Urteil abgab. Mit „La damnation de Faust“, 1869 uraufgeführt, schuf Berlioz eine eigenständige romantische Deutung des Faust-Mythos. Das Goethezeitportal publiziert diese Bilder mit Hinweisen und Dokumenten zur Entstehung und Aufnahme des Werkes.
Die einer Handschrift nachgebildete bibliophile Faust-Ausgabe im Askanischen Verlag von 1924 enthält eine umfängliche Sammlung von Illustrationen zum Werk. Daraus publiziert das Goethezeitportal 5 wenig bekannte Holzschnitte nach Zeichnungen von Gabriel Max (1840-1915), die 1879 bzw. 1886 erstmals erschienen sind. Darunter eine hinreißende Komposition zum „Hexen-Einmaleins“. Max, der einige Jahre als Professor der Historienmalerei an der Münchner Akademie tätig war, wurde durch seine „mystische Richtung“ bekannt. Die Kritik bescheinigt ihm, dass er „das Sentimentale mit dem Grauenhaften und Nervenerregenden geschickt zu mischen versteht“. Beigefügt sind die Bezugstexte und eine Kurzbiografie von Gabriel Max.
Wertherschriften
(2009)
Das Erscheinen von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" 1774 wurde zum Medienereignis und Skandalon. Es erschienen Rezensionen, die das Werk überschwenglich lobten oder – vor allem als Verteidigung des Rechtes auf Freitod – skandalisierten, es kamen Nachbildungen, Umbildungen und Parodien auf den Markt, die Geschichte wurde zum Stoff von Gedichten und Dramen, Non-books – wie man heute sagen würde – ergänzten das Angebot: Werther in Bildern als Wandschmuck, auf Porzellan, als Feuerwerk etc. Werther wurde zur Kultfigur: Man kleidete sich wie Werther, wallfahrte zu seinem (bzw. Jerusalems) Grab, manch einer ließ das Büchlein seinen Freund sein und schied gar aus dem Leben mit ihm in der Tasche.
Goethes Werther im gesellschaftlichen Kontext : Rezeptionsdokumente als Interpretationshilfen
(2009)
In seinem Werther-Aufsatz von 1936 hat Lukács ein bis heute häufig wiederholtes Interpretationsmuster skizziert: Werther als »Repräsentant einer >progressiven Bourgeoisie< in der >revolutionären Periode< ihrer frühen ideologischen und ökonomischen Entwicklung«. Das Werk wird von der DDR-Germanistik einem umfassenden Geschichtsprozeß eingeordnet, der Aufklärung, Sturm und Drang und Klassik umfaßt, und bei dem es »um den Aufstieg bürgerlichen Selbstbewußtseins, das Wachstum gesellschaftlicher Einsichten und die Eroberung immer neuer poetischer Provinzen« geht. Reuter betrachtet den Roman in diesem Sinn als »Brennspiegel des gesamten sozialen und politischen Zustandes in Deutschland« des späten 18.Jahrhunderts, wobei Werther im Streben nach allseitiger Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ein »fortgeschrittenes bürgerliches Selbstbewußtsein« vertritt.
Die neuen Leiden des jungen W. wurden »bewußt auf Auslegbarkeit geschrieben« und irritierten die Kritiker durch »die ungeheure Breite der Assoziationsmöglichkeiten«. Durch die vier »strukturtragenden Schichten« oder Informationsebenen des Textes kommt es zu interferierenden Perspektiven: 1. die voranstehenden Dokumente (Zeitungsnotiz, drei Todesanzeigen), 2. »die szenisch-dialogisch objektivierte Erinnerungsperspektive der Eltern und Arbeitskollegen«, 3. die Kommentare Edgars »von jenseits des Jordans«, 4. »die Brechung und Verfremdung der gesellschaftlichen Beziehungen des Helden im Spiegel des Werther-Zitats und der Werther-Fabel«. Plenzdorf führt »seinen Edgar Wibeau gegen Edgar Wibeau« vor, indem er ihn aus dem Jenseits kritisch und ironisch zu sich Stellung nehmen läßt. Der Leser / Zuschauer wird vom Autor geschickt in »eine Mittelstellung zwischen Identifikation (Verständnis) und Distanz (Kritik)« manövriert, sein »Beurteilungs- und Wertungspotential« wird aktiviert.
"Goethe meint, dass es mein bestes Werk sei", schreibt Schiller an Körner am 13. Mai 1801. Bezeugt sind zudem die, vor allem von der studentischen Jugend, begeistert und bejubelt aufgenommenen ersten Aufführungen 1801 in Leipzig. Heute dürfte die Jungfrau eher zu den weniger oft aufgeführten Dramen Schillers gehören. Schließlich handelt es sich auf einen ersten unbefragten Blick um sein befremdlichstes, um ein bizarres und mysteriöses Stück. Warum beschäftigt sich der Aufklärer und Klassiker mit einer mythisch-mystischen Hexe und Heiligen (denn sie ist beides in der Geschichte) in einer romantischen Tragödie? Von den Romantikern sind wir allerhand Spuk- und Gespenstergeschichten gewöhnt und Zauberbäume und sprechende Heiligenbilder überraschen uns nicht. Aber Schiller? Schiller ist doch, so verstehe ich ihn jedenfalls, ein politischer Dichter. Und da liegt auch schon die Antwort: eben deshalb.
Zwischen Anfang 1787 und Ende 1789 erscheint in der Zeitschrift Thalia Schillers Roman "Der Geisterseher", der zunächst zeigt, wie die nüchterne Vernunft über scheinbar rätselhafte Geschehnisse triumphiert; er kann aber auch Ausgangspunkt sein, um Schiller mit drängenden Fragen zur Relevanz der Geisteswissenschaften zu konfrontieren, zumal dieser als Professor selbst über einen Wissenschaftlertypus nachgedacht hat, der ständig darum bemüht ist (und bemüht sein muss), die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er sein Amt angetreten hat, der – wie es heißt – "beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit" hat, "als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern".