BDSL-Klassifikation: 13.00.00 Goethezeit > 13.14.00 Zu einzelnen Autoren
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Die meisten neueren Interpretationen der "Wahlverwandtschaften" beruhen auf einem realistischen Verständnis des Romans – 'realistisch' in dem Sinn, daß die Interpreten von einer grundsätzlichen Ähnlichkeit der im Roman beschriebenen Welt zu unserer Alltagswelt ausgehen. Was uns im Rahmen heutiger Auffassungen in einem lebensweltlich-praktischen Sinn als notwendig, wahrscheinlich oder möglich gilt, wird wie selbstverständlich als Erklärungsrahmen für die erzählte Welt des bald zweihundert Jahre alten Romans eingesetzt. Was immer als unwahrscheinlich oder unmöglich aus dem Rahmen des empirisch Möglichen herausfällt, wird in den realistischen Interpretationen anhand mehr oder weniger akrobatischer Konstruktionen als uneigentlicher, symbolischer Ausdruck eines eigentlich gemeinten realitätskompatiblen Gehalts aus dem Weg geräumt – offenbar in der Meinung, man brauche die für ein realistisches Verständnis unbequemen Teile des Romans "allzu wörtlich [...] nicht verstehen". So kann dann behauptet werden: "the principle of verisimilitude [...] controls every detail of the text", und: "no real miracles occur in 'Die Wahlverwandtschaften'".
Diesen Versuchen steht ein Interpretationsansatz entgegen, der eine radikale Verschiedenheit unserer modernen Welt von der in den "Wahlverwandtschaften" dargestellten behauptet und die erzählte Welt des Romans als eine mythische auffaßt. Das entschiedenste Beispiel hierfür ist Walter Benjamins Essay, in dem es heißt, in der Romanwelt herrsche eine Ordnung, "deren Glieder unter einem namenlosen Gesetze dahinleben, einem Verhängnis, das ihre Welt mit dem matten Licht der Sonnenfinsternis erfüllt". "Das Mythische ist der Sachgehalt dieses Buches: als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen der Goethezeit erscheint sein Inhalt." Vor allem mit Bezug auf die Ottilie-Figur und auf Goethes Begriff des Dämonischen haben auch andere, meist ältere Interpretationen gemeint, im Romangeschehen sei einiges "nicht geheuer".
Vermeintliche Freiheit
(1996)
Interpretation des Gedichts "Klage der Ceres" von Friedrich Schiller. [...] gerade "Alexis und Dora" sei, schreibt [Schiller] an Goethe, "so voll Einfalt [...], bey einer unergründlichen Tiefe der Empfindung", daß sie dem proklamierten Muster der Empfindung vollkommen zu entsprechen scheint. Seine Theorie gibt Schiller jedoch auch die Kritik ein, er vermisse bei der Idylle eine anhaltende Grundstimmung, zu rasch wechselten Glücksgefühl und Eifersucht innerhalb dieser Dichtungsweise. Auf Schillers rezeptionsgeschichtlich wirkungsträchtiges Mißverständnis wird hier eingegangen, weil es durch Goethes folgende Revanche in Form der in bedeutendem Ton vorgetragenen Unverbindlichkeiten zur "Klage der Ceres" auf Schillers Elegie zurückgewirkt hat.
Die gegenwärtige Debatte zur Naturästhetik erinnert in manchen Zügen an den vorstehenden Dialog aus Becketts 'Endspiel'. Die Hamms dieser Debatte, sentimentalische Physiozentriker, werden von anthropozentrischen Clovs mit letzten erkenntnistheoretischen Wahrheiten konfrontiert: "Natur als solche existiert nicht." ...
Goethes Lebens-Erinnerungen
(1996)
Wenige Wochen nach seinem sechzigsten Geburtstag entwirft Goethe ein Schema seiner Biographie. Offenbar hält er die Zeit für gekommen, Rückschau zu halten. Das erscheint verfrüht, wenn man bedenkt, daß er seine Hauptwerke, den Diwan, die Wanderjahre, den Faust II noch vor sich hat. Doch das eine hängt mit dem anderen zusammen: Goethe schreibt seine Lebenserinnerungen nicht obwohl, sondern weil er große Projekte vor sich hat. Er vollzieht die Retrospektive nicht im Interesse einer abschließenden Bilanz, sondern des Aufspürens kreativer Impulse. Im folgenden soll gezeigt werden, daß Goethe dieses Aufspüren schöpferischer Quellen durch eine Erinnerungstechnik vollzieht, die den faktischen Gang des äußeren Lebens in bestimmter Weise transzendiert. Erinnerung der eigenen "Vita" heißt bei ihm: Innewerden der lebendigen Naturproduktivität – nicht im abstrakten Zugriff auf das "große Ganze", sondern durch Bewußtmachung der Bedingtheit des kulturellen Gedächtnisses. ...
Faust I
(1996)
"Faust letztes Arrangement zum Druck." Mit dieser knappen Tagebuchnotiz besiegelte G. am 25. April 1806 das Ende einer über 35-jährigen Entstehungsgeschichte, die man eigentlich eine Unvollendungsgeschichte nennen müßte. Daß sie nun doch noch zum Abschluß kam, war auch für den Dichter nicht selbstverständlich. Noch weniger für seinen leidgeprüften Verleger: Cotta fuhr eigens nach Weimar, um das Manuskript abzuholen. Wegen der französischen Besatzung verzögerte sich der Druck um weitere zwei Jahre, dann erst konnte Faust. Eine Tragödie im achten Band der dreizehnbändigen Werkausgabe erscheinen. ...
Bei Goethes Renaissance-Rezeption handelt es sich zunächst um einen facettenreichen und heterogenen Komplex, der so unterschiedliche Phänomene wie die Konjunktur der Dichtung des deutschsprachigen 16. Jahrhunderts im Sturm und Drang, eine positive Machiavelli-Rezeption und die Begeisterung für die Malerei und Architektur des italienischen Cinquecento umfaßt. Goethe entwickelt zwei große Interessenschwerpunkte: zum einen das von ihm selbst eröffnete Genre des historischen Dramas, zum anderen das eigenständige Interesse am italienischen und deutschen 16. Jahrhundert, das sich vor allem in den historiographischen Projekten und den historischen Portraits manifestiert, die nach der Rückkehr aus Italien entstehen. Beide Bereiche erschließen sich Goethe besonders über das intensive Studium von Biographien und Autobiographien. Die konstante Aufmerksamkeit auf Gestalten des spätmittelalterlichen respektive frühneuzeitlichen Zeitraumes ist daher als sein Hauptzugang zu der von uns als Renaissance definierten Epoche zu betrachten.