BDSL-Klassifikation: 05.00.00 Deutsche Literaturgeschichte > 05.11.00 Stoffe. Motive. Themen
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Es ist nicht zu übersehen, dass Migration und Flucht seit langem in Deutschland als Problem und besonders Integration für den sozialen Zusammenhalt als unbedingt notwendig dargestellt werden. Weder die Einheimischen noch die Einwanderer hatten von der Sprache und Kultur voneinander viel Ahnung und die Einheimischen verlangten bald die Integration, da sie dachten, dass alle Probleme, die die Arbeitsmigranten und Flüchtlinge verursachten, durch die Integration gelöst würden, und ein friedliches Zusammenleben in diesen Sprach- und Kulturkonflikten ermöglicht würde. So wurde das Wort "Integration" in Deutschland seit den 70er Jahren ein Zentralbegriff in der Migration. Es ist auch erfreulich zu beobachten, wie immer mehr deutsche AutorInnen die Migranten-und Flüchtlingskinder, ihr Konfliktpotential und ihre Integration in die deutsche Gesellschaft in ihren Werken behandeln, die zur Zeit in der problemorientierten realistischen Kinder- und Jugendliteratur einen wichtigen Platz einnehmen. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich einerseits auf die aktuelle deutsche Kinder- und Jugendliteratur, in der es um Kinder und Jugendliche mit Migrations- und Fluchthintergrund geht, andererseits wird versucht, anhand der literarischen Textanalysen ausgewählter Kinder- und Jugendbücher aufzuzeigen, ob die Integrationsbestrebungen dieser Kinder und Jugendlichen erfolgreich waren oder gescheitert sind.
'Grimms Wörter', Günter Grass’ „Liebeserklärung“ an die deutsche Sprache und die Verfasser des 'Deutschen Wörterbuchs' (2010), erlaubt sich zahlreiche ernste Scherze – erotischer wie auch erkenntniskritischer Art – mit den Elementarteilchen der Sprache, dem Alphabet. Als Kollege und Freund antwortet er auf den Parzivâl-Roman Adolf Muschgs 'Der Rote Ritter' (1993) mit Buchstabengedichten und Menschenalphabeten, weil für beide nur über die Sprache, das Lesen und das Schreiben eine Identität entwickelt werden kann. Ohne diese Elementarschule, an deren Anfang der Fall Adams in die Erkenntnis und an deren Ziel der Zweifel an allen Ideologien zwischen Rechts und Links steht, würde Parzivâl der reine Tor bleiben, als der er angetreten ist und als der er in seiner Narrheit Gewalt ausgeübt hat. Um von der anfänglichen Sünde Adams zum Ziel des Zweifels zu gelangen, muss der dumme Junge einen Lernprozess durchlaufen, in dessen Zentrum das Fragen steht: die Frage des Mitleidens und die der Schuld. – Ein anderer Parzivâl, erlebt auch Oskar Matzerath seine Blutstropfenszene, teilt mit dem Roten Ritter dessen Mutterkomplex, findet aber im Gegensatz zu diesem keine Erlösung, schon gar nicht durch die Vergewaltigung der Krankenschwester Dorothea, die die Jeschutes durch den törichten Parzivâl „imitiert“. Schuldig bekennt sich schließlich in aller Deutlichkeit Günter Grass selbst: als Tor, der nicht gefragt hat, als Juden deportiert wurden, und der unter der Narrenkappe des Simplicissimus in den Weltkrieg gezogen ist.
Anstatt ideengeschichtlich nach 'Motiven' von Luft und Wind zu fahnden, soll es im Folgenden um eine kultursemiotische Erkundung von Zeichenwelten des Windes, der Luft in unterschiedlichen Kulturen und Epochen gehen, mit einem Schwerpunkt auf der modernen Dichtung. Dabei ist es ratsam, sich an markanten Bruchstellen der Kulturgeschichte zu orientieren. Solche Zäsuren stellen nicht nur semantische Verschiebungen und Wechsel des Windes dar, sondern strukturelle Umbrüche der jeweiligen Zeichenformationen: So können etwa mythische Zeichen, die auf der kulturellen Konvention einer magischen Realpräsenz des Bezeichneten beruhen, zu 'Symbolen' oder - nach Peirce'scher Terminologie - 'ikonischen' Zeichen mutieren, das heißt zu Zeichen, deren Produktion "jenen Schein hervorbringt, den wir 'Ähnlichkeit' nennen". Oder 'Symbole' verwandeln sich - z.B. an der Schwelle zur avantgardistischen Dichtung - in Chiffren und Allegorien, mithin in Zeichen, die durch eine ostentative Kluft zwischen Signifikant, der Zeichenmaterie, und Signifikat, dem strukturellen Bedeutungswert, charakterisiert sind. In semiotischer Perspektive bilden die Zeichenwelten Kombinationen aus verschiedenen Bedeutungsmodalitäten, deren überindividueller Sinngehalt sich nicht in begrifflicher Allgemeinheit auflösen lässt. Nach Umberto Eco verdunkelt die isolierte "Bezugnahme auf einen Referenten" des Zeichens eher dessen Signifikat, weil dann der Referent implizit als verengendes Zeichen fungiert, das das ursprüngliche deutet. Die Signifikate einer Zeichenwelt lassen sich nur klären durch viele andere Zeichen, das heißt "durch den Verweis auf einen Interpretanten, der wieder auf einen anderen Interpretanten verweist", also durch einen "Prozeß unbegrenzter Semiose".
Ende Mai 1935 übersendet Walter Benjamin ein Exposé zur "Passagenarbeit" an Theodor W. Adorno. Dieser reagiert Anfang August mit seinem großen "Hornberger Brief", in dem er regelrecht Gericht über Benjamins Exposé hält und unter anderem scharf gegen das Fehlen des ihm aus früheren Stadien der Arbeit bekannten Motivs der Moderne als Hölle protestiert. [...] Benjamins hier spekulativ elaborierte Antwort auf Adornos Vorwurf verdeutlicht, dass das Fehlen des Motivs der Hölle im Exposé von 1935 nicht zu einem theoretischen Plausibilitätsverlust des Paradies-Topos führt und die Darstellung auch nicht insgesamt in archaische Muster zurückfallen lässt. Mit der Bestimmung der Moderne als schamlose Sumpfwelt erfolgt kein Rekurs auf ein politisch indifferentes kollektives Unbewusstes. Vielmehr wird das praktische Nicht-Wiedereintreten des technisch möglich gewordenen Paradieses als ökonomische Klassenfrage erkennbar.
Der vorliegende Band befasst sich mit Formen und Techniken der erzählerischen Vermittlung von Räumlichkeit. Ein Fokus der hier versammelten Aufsätze liegt auf der Darstellung des Raumtyps Innenraum, der - wie die unterschiedlichen Lektüren aus verschiedenen Philologien vorführen - ein weitreichendes narratives Experimentierfeld darstellt. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht zum einen die Frage, wie literarische Räume und Raumvorstellungen konstituiert und in eine narrative Progression übersetzt werden, zum anderen die Frage nach den unterschiedlichen - symbolischen, allegorischen, soziologischen oder poetologischen - Funktionszusammenhängen, in die das literarische Interieur eingebunden ist. Dieser Band will insbesondere an neuere Forschungsbeiträge anknüpfen, die die innenraumkonstituierenden und -gliedernden Medien wie Möbel oder Stoffe, Wände, Bilder oder Fenster in ihrer spezifischen Materialität und Medialität in den Blick nehmen und so die Exteriorität von Raumzeichen betonen.
Verbale Kontroversen, gewaltsame Kämpfe und folgenschwere Krisen, die aus den konflikthaften Kollisionen der Geschlechter hervorgehen, stellen nur einige denkbare Ausformungen von "Geschlechter-Dramen" dar. Aus einer interdisziplinären Perspektive wird im vorliegenden Band nach literarischen sowie filmischen Modellierungen ebensolcher Geschlechter-Dramen gefragt. Mit dieser Wortkomposition und ihrer Polysemie werden hier bewusst zwei grundlegende Denkmodelle der Literatur- und Kulturwissenschaft aufgerufen, welche in ihrer Verknüpfung die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit (inner)subjektiven, kategorialen und systemischen Konflikten von Geschlecht erlauben. Mit dem Drama wird zugleich auf das Ordnungssystem der Gattung - verstanden als Sorte oder Art von künstlerischen Werken, die in ihren charakteristischen Eigenschaften miteinander übereinstimmen - verwiesen, das im Folgenden untersucht werden soll im Hinblick auf die möglichen Zusammen-, Wechsel- und Gegenspiele mit dem Geschlecht, verstanden als eine die sozialen und kulturellen Verhältnisse grundlegend prägende Kategorie, die vor allem auf das binäre Geschlechterverhältnis und die damit einhergehende Bildung scheinbar feststehender Geschlechtsidentitäten bezogen ist. Die Inszenierungen von Geschlechter-Dramen werden auf den "Bühnen" der Literatur, der darstellenden und bildenden Künste sowie des Films auf höchst unterschiedliche Weise dargeboten und sind dabei historisch, gattungs- und medienspezifisch gebunden. Obgleich Geschlechter-Dramen zu allen Zeiten in den Gattungen und Medien sämtlicher mimetischer und nicht-mimetischer Kunstformen in Erscheinung treten, fokussieren die Beiträge des vorliegenden Bandes filmische und literarische Darstellungen moderner Geschlechter-Dramen seit 1800, die sich als "Probehandlungen" vorzugsweise in der Fiktion "abspielen".
Die künstliche Außenweltbeleuchtung ist keine neutrale Helligkeit, die die Sichtbarkeit der von ihr bestrahlten Umgebung unmodifiziert über die Dämmerungsgrenze hinweg in die Nacht hinein weiterdauern lässt. Sie hat in aller Regel einen intrusiven Aspekt und schafft ein spezifisches, vom Tagesanblick deutlich unterschiedenes Erscheinungsbild. Meistens erzeugt sie zum Beispiel Wahrnehmungsbilder, die mit fast allen Formen von gemalten Abbildungen und mit narrativen Darstellungen gemeinsam haben, 'Unbestimmtheitsstellen' zu enthalten.
Die Wahrnehmungsgeschichte der künstlich erleuchteten Stadtzentren ist von der Komplexität geprägt, die auch das Verhältnis von Kunstlicht und Raum charakterisiert. Im Verlauf der Epoche, die mit der Aufstellung der ersten Gaslaternen zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann und die mit der Einführung der elektrischen Glühbirnen, der Neon-Röhren und schließlich der LED-Dioden ihre Fortsetzung fand, hat das von diesen Lichtern erzeugte Raumerlebnis mehrfach qualitative Veränderungen erfahren. Die folgenden Ausführungen kontrastieren vier historisch aufeinander folgende Typen von Wahrnehmungsbildern der erleuchteten Innenstädte: 1.) Reaktionen aus der ‚Pionierzeit‘ der Straßenbeleuchtung (bis Ende des 19. Jahrhunderts); 2.) Reaktionen aus der Zeit der Einführung der elektrischen Beleuchtung; 3.) die avantgardistische Kunstlichtwahrnehmung der 1920er Jahre; 4.) Wahrnehmungsbilder, wie sie aktuell angewendete Beleuchtungspraktiken nahelegen. Die beobachteten Wandlungen im Erleben der beleuchteten Stadtszenerien werden mit Tendenzen, die für die jeweiligen Stadtgesellschaften typisch sind, in Zusammenhang gebracht.
Die Bezeichnung 'Unglaubensgenosse' geht auf Heinrich Heine zurück; sie bildet den plastischen Ausdruck für eine Tendenz in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, der die Autorin in ihrer Erfurter Dissertation nachspürt. Sie tut das nicht, indem sie etwa die behandelten Texte in das Säkularisierungsparadigma einzuordnen und damit die Säkularisierungsthese wiederzubeleben versuchte, die mit der Wiederkehr der Religion in den letzten Jahrzehnten als "Großtheorie der Moderne" abgedankt hat. Fritz verwendet statt dessen den von Charles Taylor und Hans Joas geprägten, wesentlich bescheideneren Terminus säkulare Option und meint damit die ab etwa 1800 "innerhalb vielschichtiger poetologischer Netze erzählbar" werdende "Möglichkeit, nicht zu glauben": 'Wir Unglaubensgenossen' möchte damit einerseits einen Beitrag zur Untersuchung säkularer Tendenzen und andererseits textueller Verfahren und narrativer Strukturen in diesem thematologischen Umfeld leisten. Ihr Ziel hat die Untersuchung erreicht, wenn sie die kontingente Genese der säkularen Option als literarisches Thema sichtbar macht, das in Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen steht; und wenn sich spezifische Textverfahren und poetologische Charakteristika des 'Unglaubens' herausarbeiten lassen, die die poetologische Dimension der literarischen Fassung der säkularen Option ausmachen. Dabei folgt sie recht unkritisch Joas' These von den drei Säkularisierungsschüben (1791-1803 vor allem in Frankreich; 1848-1880 in Deutschland; 1969-1973 in Westeuropa) und beschränkt sich bei der Auswahl ihrer Texte und Autoren auf die ersten beiden Phasen.
Bilder von Gesichtern sind immer interpretiert und entworfen. Sie setzen weniger die konkrete Person in Szene als vielmehr das, was an ihr als bedeutsam erachtet wird. Seit Jahrhunderten konzentrieren sich auf dem Gesicht vielfältigste Deutungen, Ansprüche, Wünsche und Zuschreibungen, die einer bündig entwickelten Geschichte des Gesichts im Wege stehen. Das Buch betrachtet religions-, wissens-, literatur- und kunsthistorische Zäsuren, in denen sich ein je neuartiger Bezug von Gesichtszeichen und Bildgebung formiert. Im Fokus stehen Positionen, die das Gesicht demonstrativ ausstellen, es verstellen oder vermeiden und aussparen. Gelöschte, geleerte, verschattete, fragmentierte, verdrehte, rückansichtige Gesichter rühren epistemologisch und ästhetisch an den Rand des Erkennbaren. Sie sind noch als Gesichter erfassbar, als lesbare Oberflächen werden sie jedoch prekär und gehen nicht länger in Gewissheit und Wiedererkennung auf.
"Sinn - Unsinn - Wahnsinn. Beispiele zur österreichischen Kulturgeschichte". Tagung der Franz Werfel-Stipendiat(inn)en in Wien, 18.-19. März 2016
Das Franz Werfel-Stipendium des Österreichischen akademischen Austauschdienstes (OeAD) wendet sich an junge Germanist(inn)en und UniversitätslehrerInnen, die sich an ihren Heimatuniversitäten in der ganzen Welt schwerpunktmäßig mit der österreichischen Literatur beschäftigen. Als Plattform der ehemaligen sowie aktuellen Franz Werfel-Stipendiat(inn)en an den österreichischen Universitäten wird die alljährliche Franz Werfel-Tagung veranstaltet, die sich jeweils einem Thema aus der österreichischen Literatur widmet. Die Konferenz findet unter der Betreuung der Wiener Germanistin Konstanze Fliedl statt.
Klima wird in der industriellen Moderne zum Problem des Wissens. Anders als das Wetter ist das Klima der direkten Wahrnehmung entzogen; ein Umstand, der paradoxerweise immer problematischer zu werden scheint, je mehr Wissen über die komplexen Zusammenhänge von lokalen Wetterereignissen und globalem Klima existiert. Das moderne Klima ist ein wandelbares, globales Phänomen, dessen Erkenntnis doppelt vermittelt ist, insofern es weder sinnlich erfahrbar noch verstandesmäßig erfassbar und somit auf Modellierung angewiesen ist. Diese findet jedoch nicht allein im wissenschaftlichen Kontext statt. Vielmehr ist die Herstellung von Klima als Bedingung von (Lebens-)Wirklichkeit und Zukunft trotz ihres unterschiedlichen epistemischen Status das Ergebnis wechselseitiger Einflussnahme wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Modelle.
Das wissenschaftliche Interesse auf dem Feld der Germanistik ist in den letzten Jahren in Rumänien, besonders nach der blutigen und gewaltsamen Wende, stark gestiegen. Die Germanistikabteilung der Philologischen Fakultät in Kronstadt/Braşov veranstaltete in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens [GGR] (Zweigstelle Kronstadt) zwischen dem 07. - 09. April 2016 ihre XIX. Internationale Tagung zum Thema Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der deutschen Kultur, Literatur und Sprache.
Die multilinguale Gesellschaft ist längst schon keine bloße Utopie mehr, in vielen Teilen Europas und der Welt existiert sie bereits oder bildet sich immer stärker heraus. In unserer sechsten Ausgabe der REAL haben wir uns dieses Themas angenommen und es von unterschiedlichen Blickwinkeln und germanistischen Perspektiven aus betrachtet.
The biography and cultural activities of Count Albert Josef Hodic has become a central theme of a whole series of publications on the history and cultural history, in which this nobleman is approached from the biographical as well as cultural and historical perspective. Although in the specialized literature Albert Joseph Hoditz is associated with the attributes oscillating between creativity, versatility, pacifist and cosmopolitan attitude, the pursuit of literary history to illuminate his numerous representations in European literature is rather marginal. The article aims to contribute to the approximation of the image of Count Hoditz in German literature.
Musik und Dichtung sind spätestens seit dem Hohelied Salomos und den bacchantischen Hymnen an Dionysos engstens verbunden. Der gregorianische Gesang des Mittelalters benutzte die lateinischen Texte der Liturgie, Liedkomponisten seit Schubert nehmen ihre Libretti von literarischen Texten her, und Debussys Prélude à l'après-midi d'un faune setzt eine Bekanntschaft mit Mallarmés Gedicht voraus. Die Form der Sonate unterliegt Thomas Manns 'Tonio Kröger' (1903) sowie auch Hermann Hesses 'Der Steppenwolf' (1927), und andere musikalische Formen werden häufig mit raffinierter Bewusstheit angewendet, wie etwa in Robert Pingets 'Passacaille' (1969), Herbert Rosendorfers 'Deutsche Suite' (1972) oder Anthony Burgess' 'Napoleon Symphony' (1974). Thomas Bernhard in 'Der Untergeher' (1983) sowie französische, englische, und amerikanische Schriftsteller derselben Jahre nahmen Bachs Goldberg Variationen als Grundlage für Thema und/oder Struktur ihrer Romane. Und mehrere Komponisten haben versucht, die Musikstücke, die in Thomas Manns 'Doktor Faustus' (1947) so ausführlich beschrieben werden, zu realisieren. So verwundert es kaum, wenn gewisse Motive, die mit der Musik eng verwoben sind auch in Dichtungen auftauchen.
Handschuhe sind Bindungswesen. Sie sind zunächst einmal genuin dual, denn sie kommen immer im Paar. Da ein einzelner Handschuh aber viel leichter verloren geht als etwa ein einzelner Schuh, ist die Welt trotzdem voll von einsamen Handschuhen, besonders im Winter. Sie liegen auf Bürgersteigen, Parkbänken oder in Treppenhäusern und geben ein trauriges Bild ab. Der eine ist nichts ohne den anderen. Vielmehr: Er ist zu nichts nutze.
Dieser Bericht beschreibt meine Teilnahme am Workshop "Deutsche und Türkische Stereotype im Vergleich", der am 24. Oktober 2014 an der Marmara Universität von Dr. habil. Leyla Coşan (Projektvertreterin und Ansprechpartnerin in der Türkei) und Prof. Dr. Dr. h. c. Rupprecht S. Bauer und Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan (Projektleiter und Ansprechpartner in Deutschland) organisiert worden ist, um mit den Beteiligten konkrete Fragen in Hinblick auf die Planung und Realisierung des Projekts "Deutsche und Türkische Stereotype im Vergleich" zu besprechen.
Die großen Dichter der Römer haben in der abendländischen - und nicht zuletzt in der deutschen - Literatur des 20. Jahrhunderts ein äußerst produktives Nachleben genossen. In seinem 'Tod des Vergil' (1945) befasst sich Hermann Broch einfühlsam mit Leben und Werk des Dichters der Äneis. In Christoph Ransmayrs 'Die letzte Welt' (1988) tritt Ovid als Person nie in Erscheinung, aber die Forschungen des Romanhelden enthüllen das problematische Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit im Leben Ovids während seines Exils im fernen Tomis und in den Erzählungen seiner Metamorphosen. Günter Grass' Roman örtlich betäubt (1969) bietet unter anderem eine einsichtsvolle Analyse der Bedeutung Senecas als Seismograph für jeweils drei Generationen von Deutschen der Bundesrepublik. Und Lukrez?
Titus Lucretius Carus (circa 94-54 v.Chr.), der in der Geschichte der lateinischen Literatur als epischer Dichter neben, ja manchmal sogar über Vergil gestellt wird und vor allem als wichtigster Befürworter des Epikureismus im Rom des ersten Jahrhunderts v.Chr. galt, spielt in der Literatur des 20. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle. Wenn auch die atomistischen und vermeintlich antireligiösen Lehren seines 'De Rerum Natura' während des christlichen Mittelalters abgelehnt wurden, schätzten ihn sogar seine Gegner als einen großen Sprachkünstler. Nach seiner Wiederentdeckung in der Renaissance wurde er zunehmend als Philosoph und Naturwissenschaftler geschätzt. Aber nachdem sein Einfluss im 19. Jahrhundert bei vielen Dichtern noch hochstand, wurde sein Name danach immer seltener erwähnt. Seit der wichtigen Vortragsreihe George Santayanas über Lucretius, Dante und Goethe - Three Philosophical Poets (1910) - haben sich zwar immer wieder akademische Philosophen mit seinem Denken befasst; aber die einzige ausführliche Studie über Lukrez und die Moderne kann nur wenige literarische Beispiele heranziehen: neben den Italienern Italo Calvino und Primo Levi und dem Österreicher Raoul Schrott, die im Vorübergehen erwähnt werden, werden nur einige anglo-amerikanische Dichter zitiert, die sich aber nie ausführlich mit Lukrez oder seinem Werk beschäftigen. In einer wichtigen deutschen Forschung zur Antikerezeption wird nach Goethe nur noch Heinrich Mann erwähnt, in dessen Roman 'Die Vollendung des Königs Henri Quatre' (1938) Zitate aus mehreren lateinischen Dichtern, einschließlich Lukrez, vorkommen.
Warum dieses Schweigen?
REAL – Revista de Estudos Alemães : 2014, No. 5 = Guerra e Paz : Nos 100 anos da I Guerra Mundial
(2014)
"s' ist Krieg!" Diese tieftraurig lakonische Anfangszeile aus dem Kriegslied von Matthias Claudius – auch der Titel eines Antikriegsgedichts von Kurt Tucholsky – hat auch 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs nichts von ihrer fürchterlichen Aktualität verloren. Im Erinnerungsjahr der 'Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts' stehen aber nicht die aktuellen Konflikte, sondern vor allem 'Julikrise' und 'Augusterlebnis' oder der 'Geist von 1914' im Mittelpunkt zahlreicher Veröffentlichungen. Die fünfte Ausgabe der REAL ist neueren Beiträgen gewidmet, die sich aus germanistischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive mit Literatur und Literaten, Künstlern und Intellektuellen aus der Zeit vor und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschäftigen.
André Gide, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Robert Walser haben den verlorenen Sohn literarisch in der Moderne beheimatet: Gides "Le retour de l’enfant prodigue" erschien 1907, Rilkes "Legende vom verlorenen Sohn" 1909/10 als Schlusskapitel des "Malte Laurids Brigge" im Vorabdruck in der "Neuen Rundschau". Dort las Kafka den Text noch bevor der Roman im Mai 1910 im Inselverlag vorlag und ehe auch Rilkes Übersetzung von Gides "Rückkehr des verlorenen Sohns" 1913 erschien. Kafkas "Heimkehr" entstand im Winter 1923/24 in Berlin, blieb allerdings unpubliziert im Nachlass. Von Robert Walser sind zwei "Verlorene Söhne" überliefert: 1917
erschien eine "Geschichte vom verlorenen Sohn" in der "Neuen Zürcher Zeitung", 1928 das Prosastück "Der verlorene Sohn" im "Berliner Tageblatt". All diesen Texten ist gemeinsam, dass sie das biblische Gleichnis (Lukas 15,11-32) neu erzählen. Sie lösen Erzählverlauf, Erzählsituation und Handlungskette auf und knüpfen sie neu. Damit errichten sie jeweils unterschiedliche, von der Vorlage ganz verschiedene Bezüge
des Subjekts im Verhältnis zu seiner Umwelt. Die Versionen von Gide, Walser und Rilke sollen im Folgenden vergleichend betrachtet werden.
Das Interesse an der Bibel wächst: Das Verhältnis von biblischem und literarischem Text wird zu einem immer komplexeren Forschungsfeld der Literatur- und Kulturwissenschaft. Anhand konkreter Beispiele werden etablierte Forschungsansätze zur Beziehung von Bibel und Literatur erweitert. Im Bezug auf die Problemfelder Intertextualität, Medialität, Diskurspolitik, Säkularisierung, Normativität, Historizität und Hermeneutik wird das Verhältnis von Bibel und Literatur beleuchtet und die Schwierigkeiten diskutiert, die dieser Bereich der interdisziplinären Forschung bereitet.
Einen kleinen Ausschnitt der literarisch-künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg möchte ich im Folgenden verfolgen, indem ich nachzeichne, wie sich der Erste Weltkriegs in drei Romane einschreibt, die man mit guten Argumenten als zentrale Texte der deutschsprachigen Literatur der Zwischenkriegszeit betrachten kann, sowohl thematisch als auch ästhetisch und programmatisch.
Als Weltautor ist der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe mit seinen Werken "Werther" und "Faust" unumstritten ein weit beliebter und prominenter Autor des 18. Jh.s. Ein ebenso beliebtes Werk des Autors ist die Ballade vom "Erlkönig", eine typisch lyrische Gattung der deutschen Dichtung der Romantik. Dass es sich hierbei nicht um ein rein zum Tanzen gesungenes Lied handelt, sondern vielmehr eine in sich geschlossene Welt von Symbolen dargestellt wird, ist bereits dem Titel zu entnehmen.
Begriff, Bedeutung und Funktion der Figuration "Erlkönig" stehen so als Thema und Fragestellung im Mittelpunkt der Diskussion des Beitrags. Handelt es sich bei dem benannten Begriff und Titeltext um eine Inspiration Goethes aufgrund einer missverstandenen Übersetzung Herders? Oder ist unter dieser Begrifflichkeit doch ein Geisterwesen, gar ein König der Geister zu verstehen, was wiederum die Bedeutungsvielfalt und die Symbolwelt des Volkstümlich-Mythologischen als Grundwissen voraussetzt. In diesem Sinne kommt der gesamte Bedeutungskomplex des Textes dem türkischen Volksglauben vom Alkarısı (wörtlich "Rote Frau") einerseits und Karabasan (wörtlich "Schwarz-Druck") andererseits nahe, zumal der Text mit dem tragischen Schicksal des fiebernden und halluzinierenden Kindes ein Ende nimmt.
Ziel des Beitrages ist so die Aufdeckung der verschlüsselten Botschaften des Textes; Symbole, kulturelle Werte und Handlungsmuster der Textstruktur sollen im Rahmen der volkskundlich-kritischen Textanalyse unter Einbeziehung der Hermeneutik anhand von Fallbeispielen der deutschen und türkischen Volksdichtung herausgearbeitet werden.
Es besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Literatur an der Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses entscheidend mitwirkt. Dies gilt nicht nur in archaischen Zeiten, in denen die 'res gestae' dem Gedächtnis künftiger Generationen anvertraut werden, sondern es gilt auch für die Moderne, in der literarische Texte Teil eines Traditionszusammenhangs sind, mittels dessen eine Gesellschaft sich selbst eine kulturelle Identität zuschreibt. Insbesondere jene Elemente gesellschaftlicher Interaktion, die normativen Erwartungen ausgesetzt sind [...], werden Gegenstand bewahrenswerter Kommunikation und können dadurch als aktualisierbarer Sinn (bzw. Semantik im Luhmann'schen Verständnis) jederzeit verwendet werden. Eine so verstandene Konzeption des kulturellen Gedächtnisses beruht auf dem Gedanken der Kontinuität. Im Extremfall wird solche Kontinuität durch Rituale oder durch die Religion über Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten bzw. es wird suggeriert, dass es eine solche Kontinuität gebe. Diese Kontinuität überschreitet auch den Tod des Einzelnen.
Was aber geschieht, wenn aufgrund einer Katastrophe eine ganze Gesellschaft vernichtet wird?
Explizite Notenzitate in der Schönen Literatur sind selten, weisen sie doch auf die grundsätzliche Fremdheit zwischen den beiden Medien hin. Diese wurde schon in der romantischen Musikliteratur ebenso oft beschworen wie zu widerlegen versucht. Musik sei die bessere Sprache, meinten zahlreiche romantische Autoren, niemals würde die verbale Sprache sie zu erreichen vermögen. Gleichwohl kämpften Wackenroder und Tieck, Heine und Grillparzer um jene poetische Sprache, die so viel mehr sein soll als die Prosa. So überrascht es nicht, wenn nur wenige Autoren sich der Herausforderung stellen, mit dem Notentext selbst auch die Grenzen ihres eigenen Mediums zu bezeichnen - und noch weniger nutzen sie das Notenzitat als Indiz ihrer poetologischen Grundüberzeugungen. Nicht zufällig sind Hans Henny Jahnn, Arthur Schnitzler und Ingeborg Bachmann die wichtigsten nach wie vor seltenen Zeugen einschlägiger medienkomparatistischer Betrachtungen.
Die hier veröffentlichten Beiträge zeigen literarische Armutsrepräsentationen, die historisch und geographisch variieren und dabei keineswegs immer mit Elend gleichzusetzen sind oder der sozialen Not, die uns die Medien in den letzten Jahren in Form von biertrinkenden Proleten in den Schlafstätten der großen Metropolen präsentiert. Norbert D. Wernicke beschreibt Armut und Armenpflege in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Gotthelf und Dickens, Nadja Reinhard über einen auch heute noch aktuellen Aspekt, die soziale Ausgrenzung als Folge von Armut bei Büchners Woyzeck. Kristina Lahl betrachtet die Erwerbsarmut in den Angestelltenromanen von Hermann Ungar, Martin Kessel und Hans Fallada in der Zeit der Weimarer Republik. Über Heinrich Bölls wenig bekannten Erstlingsroman Kreuz ohne Liebe, transzendentale Heimatlosigkeit und die christliche Existenzphilosophie eines Leon Bloy schreibt Natalia Bashki. Sandra Annika Meyers Beitrag handelt von Schaustellernarrationen von Agla Veteranyi und Franco Biondi und der bedrückenden Armut in Rumänien. Eine Aufwertung des sozialen und kulturellen Kapitals gegenüber dem ökonomischen Kapital und somit eine Umwertung des Armutsbegriffs finden wir bei Immanuel Nover und in seinen Überlegungen zu einer "Poetologie des Wartens bei Clemes Meyer". Und Christoph Lorke schließlich widmet sich dem Thema Armut und Unterversorgung in der DDR aus historischer Perspektive anhand der Reportage von Daniela Dahn über das Prenzlauer "Bergvolk". Offiziell gab es in der DDR keine Armut, und auch heute ist diese soziale Realität kaum bekannt.
Im zweiten Teil dieser Ausgabe sind Beiträge aus Literaturwissenschaft und Linguistik versammelt, die nicht direkt zum aktuellen Themenschwerpunkt gehören. Den Auftakt bildet der Beitrag von Luísa Afonso Soares über das "Archiv als Gedächtnis" anhand des Romans Ich schlage vor, das wir uns küssen von Rayk Wieland.Mit den Übersetzungsmöglichkeiten epistemischer Modalität ins Portugiesische anhand des Verbs müssen beschäftigt sich der Beitrag von Maria António Hörster, Francisca Athayde und Judite Carecho. Ernst Kretschmer spürt der Geschichte eines viel diskutierten Begriffs aus der Soziolinguistik nach, den "Sprachvarietäten" und der Bestimmung von Mediolekten anhand von Textsorten.Am Ende stehen zwei Beiträge, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Internet beschäftigen. Meike Meliss zeigt, wie Online-Nachschlagewerke auch im DAF-Unterricht die klassischen Printausgaben verdrängen, und Bernd Sieberg widmet sich der Mündlichkeit im Internet und damit, wie veränderte technische Rahmenbedingungen der medialen Vermittlung diese Tendenz zur konzeptionellen Mündlichkeit begünstigen.
Weil Grenzen – ob reale, disziplinäre oder symbolische – Orte der Begegnung und Konfrontation sind, entstehen gerade in ihren Zwischenräumen vielseitige Dynamiken. Der Grenzraum zwischen Tier und Mensch ist der zentrale Ermöglichungsgrund und Austragungsort des Wandels der politischen Semantik in der Frühen Neuzeit. Für diesen Wandel spielen politische Schriften ebenso eine wichtige Rolle wie wissenschaftliche und literarische Texte. Benjamin Bühler geht den Grenzfiguren wie dem Hirten, Fuchs, Picaro oder der Bevölkerung im Feld des Politischen nach. Ausgangspunkt der Studie ist die These, dass die Verortung der politischen Akteure zwischen Tier und Mensch in Perioden des Umbruchs die Ausbildung und Erprobung neuer politischer Semantiken erlaubt.
Der Begriff des Rahmens hat in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichsten Kontexten Konjunkturen erlebt: in der Anthropologie und der Soziologie als kontextsensibler Handlungsrahmen, in den Theaterwissenschaften als Inszenierungsrahmen, in der Literaturwissenschaft als paratextuelle Rahmung, in der Linguistik als kognitiver Repräsentationsrahmen respektive als Skript – und, nicht zu vergessen, in der Kunstwissenschaft als Bildrahmen. Dabei steht jede "Aufmerksamkeit für Rahmungen" in einem Spannungsverhältnis zwischen einem Interesse für explizite, sprich: materielle und insofern sichtbare Formen der Rahmung einerseits und einem Interesse für implizite, konzeptionelle, sprich stillschweigend vorausgesetzte Interpretationsrahmen andererseits. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Das Problemfeld 'Rahmen' wird durch das Verhältnis von phänomenaler Rahmenwahrnehmung und funktionalem Rahmenwissen bestimmt, wobei sich in der Verhältnisbestimmung zugleich die Rahmenbedingungen von textuellen, theatralen, pikturalen und technischen Konfigurationen zeigen.
Die folgenden Ausführungen beleuchten anhand ausgewählter Beispiele die Art und Weise, wie Smyrna/Izmir, die Ägäis und "Kleinasien" in der deutschen Literatur dargestellt werden. Sie stehen damit zunächst im Kontext der Imagologie, die sie aber im Sinne einer kritischen interkulturellen Literaturwissenschaft erweitern. Denn es geht hier nicht (nur) darum, "Bilder" des ägäischen Raums und seiner Metropole nachzuzeichnen, sondern der Frage nachzugehen, wie die Diskurse über den fremden Ort und die fremde Region mit Fragen und Problemen des Eigenen, des Deutschen, zusammenhängen, das heißt, welche Funktion die Bilder des Fremden im Hinblick auf das Eigene haben. Die Stichproben, die ich vornehme, bezieht sich nach einem kurzen Blick auf Wielands 'Agathon' (erste Fassung 1766/67), den wichtigsten Roman der deutschen Aufklärung, zunächst vornehmlich auf Hölderlins 'Hyperion' (1797/99). Weder Wieland noch Hölderlin […] haben […] das Objekt ihrer Beschreibung niemals in Augenschein nehmen können. Insofern ist klar, dass vor allem das Bild Wieland auf Stereotypen beruht, die aber ihrerseits von einem nicht unerheblichen Interesse sind. Wie wir zeigen werden, ist Hölderlin mehr als Wieland auf eine solide Dokumentation bedacht, und er schöpft aus zeitgenössischen Reiseberichten, zumal er ja nicht wie Wieland das antike Smyrna, sondern das Smyrna/Izmir seiner Epoche darstellt. Als reizvollen Kontrast zu den Klassikern der deutschen Literatur wenden wir uns dann Feridun Zaimoglu zu, dem "Star" und enfant terrible der deutsch-türkischen Gegenwartsliteratur, der in seinem Roman 'Liebesmale scharlachrot' (2000) seinen Protagonisten Serdar von Kiel an die türkische Ägäisküste versetzt. Dabei ist sowohl beim Protagonisten als auch beim Autor die Konstellation Eigenes-Fremdes in Bezug auf die Ägäis und die Region komplex, denn für beide ist die Türkei und damit auch "Kleinasien" fremd und eigen zugleich: Sie sind nämlich in Deutschland aufgewachsen und eher mit den deutschen Verhältnissen vertraut und kommen einerseits durchaus als Fremde in das Land ihrer Vorfahren, dem sie dennoch in spezifischer Weise verbunden sind.
Die Erinnerungsikonen sind datierbare Erinnerungsakte in der Geschichte, doch erzählen sie selbst keine Geschichte. Die vielen besonderen Geschichten, die sich einst um jedes konkrete Leben rankten und nach dem Tode der Person auch noch eine Weile im kommunikativen Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft und des Dorfes erzählt wurden, sind alle längst vergessen. Dieses Schicksal trifft über 90 Prozent unserer materiellen Hinterlassenschaften, von denen sich die Gesellschaft in periodischen Ausscheidungsprozessen trennt, ohne dabei je zu einem Thema zu machen, „wie wenig wir festhalten können, was alles und wie viel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie die Welt sich sozusagen von selber ausleert, indem die Geschichten, die an ungezählten Orten und Gegenständen haften, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden (…).“ Dieses Universalgesetz des Vergessens gilt aber nicht nur für Hausrat und beiläufig Angesammeltes, sondern paradoxerweise auch für die Erinnerungsikonen, deren liebevolle und kostbare materielle Ausformung ihren Gedächtniswert noch eigens ausstellt. Ohne eine Sammlerin, die diesen Gegenständen nachträglich einen neuen historischen Wert zuschreibt, und ein Museum, das sie unter ihr schützendes Dach aufnimmt, würde die Nachwelt von dem Brauchtum, auf das diese stummen Zeugen verweisen, heute nichts mehr wissen.
[Rezension zu:] Manfred Schmeling u. Hans-Joachim Backe (Hg.): From Ritual to Romance and Beyond
(2012)
Rezension zu Manfred Schmeling u. Hans-Joachim Backe (Hg.): From Ritual to Romance and Beyond. Comparative Literature and Comparative Religious Studies. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2011. 316 S.
Die variantenreichen Beziehungen zwischen Religion und Literatur, auch über den europäischen Raum hinaus, zu analysieren, haben sich in der internationalen Wissenschaftslandschaft des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nicht nur Theologie und Literaturwissenschaft, sondern viele verschiedene Disziplinen zur Aufgabe gemacht. Wir haben es hier mit einem Untersuchungsfeld zu tun, das eine Vielzahl von Methoden und Ansätzen nicht nur erlaubt, sondern erfordert. Daher ist es durchaus sinnvoll, in einem Band verschiedene, heterogene Sichtweisen auf das Feld zu präsentieren. Eben das leistet die Aufsatzsammlung 'From Ritual to Romance and Beyond' von Manfred Schmeling und Hans-Joachim Backe, die 25 Beiträge zum Thema Religion und Literatur zusammenbindet.
Wie kommen Begriffe in die Welt? Auf diese Frage gibt es mehr als eine Antwort; eine davon aber verweist mit Sicherheit auf die akademische Welt. Ständig mit (vermeintlich) neuartigen Sachverhalten konfrontiert, erfindet diese unermüdlich neue Benennungen, um die zu analysierenden Phänomene beschreib- und fassbar zu machen. Dabei hat sich im Laufe der Zeit ein noch immer nicht abgeschlossener Katalog an Fachwörtern angesammelt. Dieser mag den Eindruck erwecken, die wissenschaftliche Begriffsbildung sei nur in den seltensten Fällen um besonders poetische oder eingängige Fachbegriffe bemüht. Doch es gibt eine unliebsame Verwandte der Wissenschaft, die Neologismen sehr zugetan ist, und deren sprachliche Welt von einem Hauch von Poesie belebt wird, die Science-Fiction. Sie steht zwischen Forschung und Fiktion, übernimmt Termini aus der Wissenschaftssprache, verfremdet sie, kombiniert sie neu, und trägt zu ihrer Popularisierung bei. Auch der Begriff "Klon" ist in diesem Kontext zu verorten, allerdings weicht er in seiner Charakteristik und Entwicklung von anderen Fachtermini ab. Gerade seine Besonderheiten machen ihn aber für die begriffsgeschichtliche Arbeit so interessant. Wie die Wissenschaftshistorikerin Christina Brandt zeigt, muss der "Klon" als "hybride Konstellation" historisch unterschiedlich gelagerter Bedeutungsebenen verstanden werden, in der die biowissenschaftliche Definition und wesentlich ältere religiöse, naturphilosophische Denkfiguren und kulturhistorische Narrative zueinander in Spannung geraten sind. Auch dieser Beitrag skizziert den "Klon" als einen Begriff, der in verschiedenen Diskursen und Disziplinen verortet ist und auf der Grundlage kulturhistorisch wesentlich älterer Narrative und Denkfiguren neue Bedeutungen generiert. Das nicht enden wollende Hin und Her um seine Auslegung und Verwendung kann aber auch als Hinweis auf bestimmte irrationale Elemente gelesen werden, die in diesem Streit um die Deutungshoheit eine Rolle zu spielen scheinen. So lässt sich nicht leugnen, dass von bestimmten Begriffen eine besondere Faszination ausgeht. Dies wird vor allem deutlich, wenn ein wissenschaftlicher Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch übergeht. Die Transferbewegung des "Klons" in den öffentlichenRaum der Alltagssprache ist – dies gilt es zu zeigen – zweifellos auch, wenn nicht gar in entscheidendem Maße, den meist äußerst phantasievollen visuellen Eindrücken zu verdanken, die in der populären Vorstellung an den Begriff gekoppelt wurden. Denn es sind vor allem Bilder, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben, die Imagination beflügeln und vermeintlich leere Begriffe in einem einzigen Augenblick mit neuem Inhalt füllen. Im Unterschied zu bisherigen begriffsgeschichtlichen Arbeiten soll deshalb hier das Augenmerk auf dem Moment der Faszination und auf dem Visuellen liegen, um so die Korrespondenz historischer Denkfiguren, Mythen und Narrative zu ikonischen Semantiken und visuellen Bildkomplexen aufzuzeigen.
Das Internet ist nicht nur ein Medium, das neue Kommunikationsformen ermöglicht, es ist selbst auch das Produkt eines verstärkten Bedarfs, Wunsches und Drangs nach Kommunikation. Beim Internet handelt es sich um ein hybrides Konstrukt, das auf drei Säulen aufruht: 1. eine neue Ordnung von Daten/ Informationen (Stichwort: Hypertext; Beispiel: Suchmaschinen wie Google), 2. die Entwicklung neuer Formen von Interaktion (Stichwort: neue Kommunikationsplattformen, Beispiele: MySpace, Facebook), 3. die globale Ausweitung der Zugangsformen (Stichwort: erschwingliche Computer und handheld devices, Vervielfältigung der Server, Knoten, Terminals). Diese drei Aspekte des Internets sind das Ergebnis zunächst eigenständiger technologischer Erfindungen und Entwicklungen, die dann miteinander fusioniert wurden. "Es ist an der Zeit, die digitale Revolution, die mehr ist als das Web 2.0, in ihrer ganzen Wucht zu erkennen", schrieb Frank Schirrmacher in der FAZ. Ich werde mich in diese grundsätzliche Debatte über das Internet und die anthropologischen und politischen Konsequenzen der neuen Datenordnung hier jedoch nicht einschalten, die derzeit von Meinungsmachern wie Frank Schirrmacher, Stephen Baker und Sascha Lobo geführt wird, sondern mich nur auf die zweite Säule, die Neugestaltung der Kommunikation durch das Web 2.0 konzentrieren.
Die Transplantationschirurgie wirft – bei all ihren Erfolgen – juristische, bioethische und philosophische Fragen auf und provoziert kollektive Hoffnungen, Phantasien und Ängste, die sich in Literatur und Film niederschlagen. Zugleich können literarische Texte und Filme das Thema neu konturieren und dabei eigenständige künstlerische Darstellungsformen entwickeln.
Irmela Marei Krüger-Fürhoffs Studie untersucht Sujet und Verfahren der Transplantation in Fiktion und Wissenschaft und betritt damit literaturwissenschaftliches und kulturwissenschaftliches Neuland. Auf der Grundlage von 90 literarischen Texten und 40 Filmen vor allem aus dem deutschen, englischen und französischen Sprachraum rekonstruiert die Monographie die kulturellen Repräsentationen der Transplantationsmedizin vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dabei nimmt sie Auseinandersetzungen mit realen Erfahrungen ebenso in den Blick wie utopische bzw. dystopische Imaginationen und analysiert, wie Literatur und Film auf medien-, gattungs- und genrespezifische Weise an der Konstruktion, kritischen Reflexion, aber auch Durchsetzung von medizinischem Wissen und Handeln beteiligt sind.
Ein besonderes Interesse der Studie gilt den Spezifika einer Poetik der Transplantation, d.h. den narrativen und ästhetischen Inszenierungen von Wissen sowie den Denkfiguren, die für die Darstellung von 'Verpflanzungen' als chirurgisch-immunologisches, wissenshistorisches und rhetorisches Verfahren eingesetzt werden.
The article focuses on traditional expressive schemata used in the collection "Des Knaben Wunderhorn" to depict scenes of eroticism and sexuality. The analysis is based on the observation that the dominant emotion in the collection is love – which is often described in erotic terms in the songs – and that the collection is dominated by songs from the medieval period, meaning that it contains schemata which are frequently euphemistic in character and have been passed down since the period of Minnesang.
Judas Ischariot, hebr. יהודה אישׂ־קריות (Yəhûḏāh ʾΚ-qəriyyôt), der im Neuen Testament als einer der zwölf Nachfolger Jesu von Nazareth erscheint, die dieser persönlich als Apostel berief, ist in der europäischen Kultur- und Religionsgeschichte seit der Antike auf viele verschiedene Weisen betrachtet und dargestellt worden. Auf die vier kanonisch gewordenen Evangelien des Neuen Testaments und das apokryphe Judasevangelium folgen patristische Erklärungen und Präsentationen des Judas in der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit und schließlich eine Fülle literarischer, bildlicher und musikalischer Darstellungen in Moderne und Gegenwart.
Lesen wir diese Zeugnisse zusammen, erhebt sich uns aus der Vielzahl der Exegesen, Porträtierungen und Inszenierungen eine schillernde Gestalt, die in ihrer Widersprüchlichkeit faszinierender kaum sein kann: Der Jünger, der seinen Herrn um dreißig Silberlinge mit dem sprichwörtlich gewordenen 'Judaskuss' ausgeliefert und sich dann aus Reue über seine Tat erhängt haben soll, erscheint als stereotype Negativfigur, als Inkarnation des Bösen, als exemplarische Verkörperung des Verräters und wird zugleich in positivem oder zumindest weitaus günstigerem Licht präsentiert. Letztere Darstellungen füllen die Figur psychologisierend mit Leben, indem sie den Menschen mit Blick auf seine Tat transparent machen, ihm ein individuelles Gesicht geben und ihn individual- und sozialethisch zu rehabilitieren suchen. Sie deuten sein Handeln als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Heilsgeschichte, exkulpieren es als Verzweiflungsakt eines enttäuschten Patrioten, der sich vom Messias Widerstand gegen die römischen Besatzer erwartet hatte, oder stilisieren es zur Heldentat. In jüngster Zeit wird Judas auch als der engste spirituelle Freund Jesu gehandelt. Seit 2006 mit erheblicher Medienpräsenz zu Ostern große Teile des aus dem Koptischen übersetzten Manuskripts des Judasevangeliums publiziert wurden, das bis vor kurzem als verschollen galt, konstruieren Literaten, Esoteriker und Verschwörungstheoretiker das Bild eines Vertrauten Jesu, den dieser in tiefste Geheimnisse eingeweiht habe: über Gott, die Schöpfung und darüber, wie geistliche Verwirklichung durch Hervorbringung des vollkommenen Menschen zu erreichen sei.
Law and literature: that is a sufficiently broad subject to warrant reference to the Fontane character Effy Briest’s "wide field." Indeed, the sites where law and literature encounter each other, where they border on each other, merge, converge, overlap, or where they relate as opposites, even finding themselves as rivals or enemies seem legion. In contrast to the intentions of Effy Briest in that famous novel, my reference to this line is not intended to abort further inquiries; instead I want to chart the field in question with the aim of developing a preliminary typology of the ways in which law and literature have been engaged and have engaged one another. Against the background of this overview, I want to turn to a much smaller field. This small field - a plot of long fallow farmland, to be exact, located between two adjacent, perfectly maintained wheat fields in a fictive Swiss village - will serve as an example or test site for "law and literature" as they emerge in Gottfried Keller’s narrative 'Romeo und Julia auf dem Dorfe', from his mid-nineteenth century collection of novellas 'Die Leute von Seldwyla'. Whether and how the case study of that small field at the centre of Keller’s story can make a case for the larger field of "law and literature" remains to be seen.
Bereits ein kursorischer Überblick über die Publizistik der letzten zwei Jahrzehnte lässt keinen Zweifel aufkommen: Das öffentliche Interesse an der Religion wächst. Und so streitbar die gesellschaftliche Gesamtdiagnose einer 'Wiederkehr der Religion' auch sein mag, so offenkundig ist die Wiederentdeckung der Religion im wissenschaftlichen Diskurs, in dem zahlreiche Beiträge von Autoren wie Gianni Vattimo, Jacques Derrida, Jürgen Habermas, Richard Rorty, Charles Taylor oder Hilary Putnam beredtes Zeugnis vom jüngsten Aufstieg des Religiösen zu einem der prominentesten Themen theoretischer Debatten ablegen. Diese Konjunktur hat inzwischen auch die Literaturwissenschaft erreicht, in der Kult und Opfer, religiöse Sprache und sakrale Praktiken, Märtyrer, Heilige und Propheten wieder zu wichtigen Themen geworden sind, die nicht zuletzt durch die ihnen zugeschriebene 'Andersheit' gegenüber dem Normalbetrieb der Wissenschaft Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Damit rückt auch ein Gegenstand ins Zentrum des Interesses, der nun gar nicht fremd, neu oder anders ist, sondern eher als paradigmatischer Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint: die Bibel, ihre Übersetzung, Rezeption, Kritik und ihr Gebrauch, ihre Stellung in der Textkultur der Gegenwart und Vergangenheit, ihre vielfältigen Beziehungen zu literarischen Texten. Offensichtlich handelt es sich um einen Phänomenbereich, der ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Problemstellungen reicht, und zwar in historischer nicht weniger als in systematischer Hinsicht. Schließlich hat sich die Literatur in Europa unter ständigem Bezug auf und in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der Bibel als 'Buch der Bücher' und 'Heiliger Schrift' herausgebildet, hat diese als Vorbild und Orientierung, als Instrument zur Autorisierung des eigenen Geltungsanspruchs, als Buch gewordene Konkurrentin und als Vorläufermodell der Dichtung gleichermaßen in Gebrauch genommen. Und ohne Zahl sind die stofflichen, motivischen, thematischen, stilistischen und kompositorischen Referenzen literarischer Texte auf die Bibel, die dabei im selben Maße als kultureller Wissensspeicher wie als ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium sichtbar wird.