BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Ausgehend von Benjamins Texten erörtert die Wissenschaftsphilosophin Christine Blättler das in den Science Studies diskutierte Verhältnis von Genesis und Geltung und die damit verbundene Frage hinsichtlich der angemessenen Darstellungsweise von Erfahrung unter epistemologischen und sozialphilosophischen Gesichtspunkten. Sie geht dabei vom New Experimentalism aus, welcher sich gegen den in der Wissenschaftstheorie lange Zeit vorherrschenden Primat der Theorie wendet. Dem Experiment wird dabei eine autonome und objektive Funktion in der Wissensgenerierung zugesprochen. Diese Hinwendung zum Experiment steht zugleich für eine Abwendung vom Subjekt und für eine verstärkte Zuwendung zu dem, was sich als eine aperspektivische Objektivität bezeichnen ließe. Blättler setzt an diesem Punkt an, um mithilfe von Benjamins Begriff der Konstellation und seinen Überlegungen zum Erfahrungs- und Wahrnehmungswandel zu einer flexibleren Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Objekt, Technik und Subjekt zu gelangen, die es erlaubt, den Gegensatz von Genesis und Geltung zu überwinden.
Der Medienwissenschaftler und Philosoph Markus Rautzenberg untersucht in seinem Beitrag die Denkfigur des Indexikalischen. Er vergleicht dazu Benjamins Überlegungen zur Bildlichkeit mit Hans Blumenbergs Reflexionen über die Vergleichbarkeit von fotografischer Belichtung und Begriffsbildung, Charles Sanders Peirce Semiotik und Ernst Jüngers Essays "Über den Schmerz". Benjamins theoretische Aussagen zur Fotografie oszillieren nach Rautzenberg zwischen dem Ideal einer mechanischen Objektivität und einer neuplatonischen Blendungsmetaphysik. Anhand von Benjamins Texten historisiert Rautzenberg den Gegensatz von 'Magie' versus 'Technik', um zu zeigen, dass diese Unterscheidung erst mit dem Aufkommen der Fotografie denkbar wird.
Ausgehend von Benjamins Analogie von Nervenbahn und elektrischer Leitung konzentriert sich der Beitrag auf eine der wichtigen Fragen, die im "Passagen-Werk" behandelt werden, nämlich ob mit der modernen Technik eine Verbindung von organischer und technischer Sphäre vorliegt oder ob die Technik vielmehr als eine denaturierte Natur anzusehen ist. Um diesem Aspekt nachzugehen und die Besonderheit von Benjamins technikphilosophischen Reflexionen herauszustellen, vergleicht Wolfsteiner sie mit Hannah Arendts Handlungstheorie und Max Benses Entwurf einer informationstheoretischen Ästhetik. Die Aktualität von Benjamins Techniktheorie wird abschließend anhand der Science and Technology Studies (STS) in der Nachfolge Bruno Latours und der technikphilosophischen Schriften Gilbert Simondons erörtert.
In seinem Aufsatz rekonstruiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Nicolas Pethes die Verwendung des Experimentbegriffs in Benjamins Schriften und verfolgt seine Entwicklung von dessen frühen Untersuchung "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bis zum "Passagen-Werk". Dabei soll nicht nur die Bedeutung der Idee des Experiments, sondern auch der experimentelle Charakter von Benjamins eigener Schreibweise herausgearbeitet werden. Das Experiment, das eng verwandt ist mit Test und Spiel, ist Teil einer Darstellungsstrategie, mit der Benjamin die Diskontinuität der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte beschreiben will.
Der Philosoph und Komparatist Peter Fenves befasst sich in seinem Aufsatz mit Benjamins Ideen zur Wissenschaftspopularisierung und seiner Auseinandersetzung mit der theoretischen Physik. Er widmet sich insbesondere Benjamins Verteidigung der in Misskredit stehenden Wissenschaftspopularisierung, die eine neue Bedeutung und Funktion erhalten soll. Die latenten Bezüge zwischen Philosophie und theoretischer Physik zeigt Fenves am Beispiel des in der Quantenphysik verwendeten Begriffs der "Verschränkung" auf, der das Pendant zu Benjamins Begriff der "Aura" darstellt und zur gleichen Zeit von Heidegger verwendet wird.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Kyung-Ho Cha widmet sich in seinem Beitrag Benjamins Reaktion auf die Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938. Den Ausgangspunkt des Aufsatzes bildet der Vergleich zwischen der Methode, die seiner Arbeit am Passagen-Werk zugrunde liegt, und der "Methode der Atomzertrümmerung", womit er sich auf die Kernspaltung bezieht. Im Aufsatz wird gezeigt, wie Benjamin mit dem Begriff aus der Kernphysik die in der Geschichte verborgenen und unsichtbaren Energien zu erfassen versucht.
Claude Haas untersucht die Goethe-Kommentierung Heinrich Düntzers im späten 19. Jahrhundert, die konsequent gegen das säkulare Selbstverständnis der eigenen Disziplin verstößt - und von dieser damit wiederum als verachteter Außenseiter verstoßen wird. Düntzer unterläuft die Sakralisierung der Dichtung, indem er dem Dichter immer wieder im Namen einer - etwa sachlichen - Wahrheit widerspricht und diese Wahrheit noch dazu katholisch grundiert (und mit Spitzen gegen protestantische Goethe-Ausleger versieht). Denn Wahrheit ist dabei in Düntzers Augen erstens nicht schriftlich kodiert und gleicht zweitens strukturell der theologischen Figur des "deus absconditus", sodass sie gerade in dieser Abwesenheit 'sakralisiert' wird. Die 'katholisierenden' Kommentare Düntzers zu Goethes Iphigenie auf Tauris und Faust II erklären Literatur selbst gleichsam zu Religion und zeigen damit gewissermaßen die Kehrseite des Versuches, nicht mehr die Heilige Schrift, sondern den Kanon der Klassiker ins Zentrum der Textkultur zu stellen.
On history in the present day. Laudatio to Lenka Vaňková.
This paper takes as its starting point several statements by Gottfried Wilhelm Leibniz on the role of the German language in literary and scholarly life during Leibniz's era. The languages of scholarship were Latin and French, and Leibniz himself published in both these languages. German was the language of practical life. Viewed from this perspective, it was almost inevitable that medieval and early modern medicine - not in the sense of academic theory, but as a practical activity - developed its own fully-fledged specialist language, which was largely based on the vernacular. In her studies of the language of historical medicine, Lenka Vaňková has shown how such vernacular language was (and potentially still is) able to function in specialist domains.
Arkanisierung des Vorklassikers : zur Lessing-Ausgabe von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen
(2017)
Die Spannung von religiöser und säkularer Kommentierung prägt nicht nur den Umgang mit der Bibel, sondern auch mit anderen Texten, etwa mit den 'Klassikern' der Nationalliteraturen. Kai Bremer untersucht am Beispiel der Lessing-Philologie eine Arkanisierungsstrategie, die den Kommentar selbst hermetisch abriegelt und nur für 'Eingeweihte' zugänglich macht. So zeigt er, dass die sog. "P/O", d.h. die Lessing-Ausgabe von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen (1925-1935) nur solchen Lesern zugänglich ist, die bereits umfassend mit der zeitgenössischen Lessing-Philologie vertraut sind und insbesondere die früheren Lessing-Kommentare der Editoren kennen. Somit 'arkanisieren' die Herausgeber ihren eigenen Kommentar und damit auch die eigenen philologischen Praktiken: Sie schaffen einen philologischen Raum, der - vergleichbar einem heiligen Raum - nur Eingeweihten zugänglich ist.
Heiland oder Führer? : der Dichter als Kulturheros in der Literaturwissenschaft des George-Kreises
(2017)
Sowie der Heldenkult nicht länger die privilegierte Rezeption des 'heroischen' Werkes darstellt, wird er auf Politik umgestellt und dieser die Aufgabe zugewiesen, das Werk des Kulturheros gleichsam zu vollenden. Heldenpolitik kann aber niemals friedliche Politik sein. Claude Haas geht der Grundspannung zwischen 'kultischer' und 'politischer' Perspektivierung des Kulturheros im Folgenden am Beispiel jener Formation nach, die den Kulturheros in vielerlei Hinsicht in den Mittepunkt ihrer geistigen Bemühungen stellte und die seinen wirkmächtigsten Sympathisanten in der deutschen Tradition überhaupt bilden dürfte: an dem Kreis von Wissenschaftlern und Intellektuellen, sie sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts um den Dichter Stefan George herum gruppierten. Dabei ist es nicht der Kult um George selbst, den Claude Haas in den Blick bringen will, sondern zentrale wissenschaftliche Schriften aus seinem näheren Umfeld, die die Vorstellung des Kulturheros am differenziertesten - wie auch am problematischsten - entfalten. Diese sind nicht zuletzt insofern von Interesse, als sie der wissenschaftlichen Darstellung als solcher kultische Aufgaben zuweisen und sie die Wissenschaft implizit als eine Art Praktik zur Erschaffung des Kulturheros einsetzen. Dabei kann der wissenschaftliche Diskurs die Konturen sowohl eines privilegierten und exklusiven als auch die eines lediglich als vorläufig begriffenen Kultes annehmen, der nicht seinen eigenen Endzweck darstellt, sondern der in die große politische Tat einzumünden hat. Ein besonderes Gewicht kommt hier dem immanenten Anhänger des Kulturheros zu, denn dieser avanciert in der Konzeption der Figur selbst zur strukturgebenden Größe. An ihm zeigt sich erst, wo genau der Kulturheros zu sich selbst kommt - in der Kirche der Wissenschaft oder auf den Schlachtfeldern der Politik. Über die Analyse des Anhängers wird folglich der Frage nachzugehen sein, ob der Kulturheros eher als säkularer Gott (Heiland) oder als sakraler Herrscher (Führer) beschworen wird.