BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Anfang April 1884 entdeckte Freud im "Centralblatt für die medicinischen Wissenschaften" eine Rezension zu einem kurzen Aufsatz Theodor Aschenbrandts. Aschenbrandts Artikel war vier Monate zuvor in der "Deutschen Medicinischen Wochenschrift" erschienen und stellte einen in Europa noch weitgehend unbekannten Wirkstoff vor, an dessen Erforschung nun Sigmund Freud erhebliche Zukunftshoffnungen knüpfte.
Aschenbrandt hatte in seiner Studie vom 12. Dezember 1883 in der "Medicinischen Wochenschrift" während einer Waffenübung eines bayerischen Armeekorps den Soldaten Kokain verabreicht und dabei eine beträchtliche Erhöhung der Leistungsfähigkeit, insbesondere der Marschfähigkeit unter erschwerten Bedingungen, sowie länger ausbleibende Erschöpfung durch Nahrungs- und Schlafentzug festgestellt. Das weckte das Interesse Freuds, der 1884 als schlecht bezahlter Assistenzarzt des Wiener Allgemeinen Krankenhauses ein verstärktes Interesse daran hatte, sich durch wissenschaftliche Forschungen einen Namen zu machen
The article provides an insight into the Czech translations of the lecture 'Weihnachtsgeheimnis' by Edith Stein (1891-1942), which were published in 1991 and 2003. The analysis of the translations is based on Skopos theory, the ideas of Christiane Nord and hermeneutic approaches; the author points out the specific features and demands of translating religious texts.
In seinen "Paradigmen zu einer Metaphorologie" übertrug Hans Blumenberg den Begriff 'Halbzeug' aus dem Bereich der industriellen in den der philosophischen Produktion und stiftete so eine Metapher für die vorläufigen, nicht vollends durchgearbeiteten Stadien der Text- und Gedankengenese. Denn Halbzeuge sind ihrem Begriff nach vorgefertigte Rohmaterialformen, Werkstücke oder Halbfabrikate einfachster Form, die kein Rohstoff mehr sind, zum fertigen Produkt aber erst noch weiterverarbeitet werden müssen. Ob tatsächlich die "Paradigmen" selbst, wie Blumenberg nahelegte, in diesem Sinne als philosophisches Halbzeug verstanden werden müssen, soll hier nicht Thema sein. Christian Voller geht es vielmehr darum, die Reichweite der Metapher anhand Blumenbergs eigener philosophisch-literarischen Arbeitsweise zu erproben. Dabei denkt er insbesondere an jenen Zettelkasten, der bekanntlich ein elementarer Bestandteil dieser Arbeitsweise gewesen ist.
Seit den 1880er Jahren tauchen Hungerkünstler kometenhaft in der Öffentlichkeit auf. Mit Fug und Recht kann man von einer "Mode" sprechen, wie es Franz Kafka in seiner "Hungerkünstler"-Geschichte von 1922 getan hat, einer seiner "Geschichten vom Ende", vom "Verlöschen und Verschwinden des Menschlichen", die der Kehrseite von Mode, dem Umschlag ins Vergessen zugewandt war. Über eine Generation hatten sich Hungerkünstler auf Jahrmärkten, im Zirkus und in Varietés präsentiert. Zeitungsmeldungen schürten die Sensationslust des Publikums und auch die Neugier der Wissenschaftler. So erforschte der Physiologe und Anthropologe Rudolf Virchow in Berlin im Beisein von Fachkollegen und Assistenten vor Ort Zustand und Entwicklung des Francesco/Francisco Cetti, bevor der berühmte Hungerkünstler sich öffentlich zur Schau stellte.
Heute sind es die Literatur- und Kulturwissenschaftler, die, maßgeblich angetrieben von Kafkas Geschichte, sich diesem sonderbaren Phänomen widmen; zumeist auf den Schultern von Gerhard Neumanns bahnbrechenden Untersuchungen und den Recherchen von Kafka-Forschern wie Walter Bauer-Wabnegg oder Hartmut Binder. Alles scheint inzwischen gesagt und entdeckt. Gleichwohl lassen sich noch immer Funde machen, womit allerdings nicht behauptet werden soll, dass die hier präsentierten fünf Zeitungstexte einen direkten Einfluss auf Kafka ausgeübt hätten.
Panisch / Panik
(2018)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der letzte große Systemphilosoph des deutschen Idealismus, tat sich nicht leicht, die Ursprünge und die Anfänge der eigenen Philosophie zu erzählen. [...] In die Darstellung des griechischen Geistes flicht Hegel eine weitere Anfangserzählung seiner selbst ein, die man mit Fug und Recht "Die Geburt der Philosophie aus dem Geist der Panik" nennen könnte. Der zentrale Stellenwert dieser Geschichte wird schon daran ersichtlich, dass Hegel sie als Korrektiv oder zumindest als Komplement einer prominenten aristotelischen Gründungsfigur auszuweisen versucht. Habe Aristoteles den Anfang der Philosophie auf die "Verwunderung" verpflichtet, so könne allein die "griechische Naturanschauung" die Triftigkeit dieser Behauptung demonstrieren. In Griechenland habe der Geist nämlich zum ersten Mal gelernt, die Natur als eine Art geistig vermitteltes Phänomen zu begreifen, er bleibe im Rahmen solcher Bemühungen aber noch durch und durch ein Geist der "Mitte". [...] Es sind signifikanterweise die 'Panik' und der 'panische Schreck', in denen sich die 'Mitte' des griechischen Geistes gleichsam kondensieren. Denn für Hegel galt noch als selbstverständlich, was der spätere Begriffsgebrauch des 'Panischen' und der 'Panik' vergessen machte. 'Panik' geht auf den griechischen Gott Pan zurück, jenen Gott des Waldes und der Natur, der einen menschlichen Ober- und einen tierischen Unterkörper in Form eines Widders oder Ziegenbocks besitzt.
Friedrich August Wolfs "Prolegomena zu Homer" (1795) waren in der intellektuellen Welt des späten 18. Jahrhunderts eine kleine Sensation. Wolf zeigte in seiner Schrift, dass die großen Epen der Antike nicht Produkt eines einzigen genialen Schöpfers waren, sondern "dieser kunstvolle Aufbau erst das Werk späterer Jahrhunderte" war. [...] Die Frage der ursprünglichen Formeinheit des Epos wurde von den Zeitgenossen heiß diskutiert. Dass das Problem der epischen Formeinheit die Gemüter er hitzte, ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es beim "Epos als einheitsvoller Totalität" (Hegel) um nichts Geringeres geht als einen Gründungsmythos der modernen Literatur. Denn der Roman, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zur dominanten literarischen Gattung entwickelte, bezog sich auf das Epos als seinen Fluchtpunkt. Dabei definierte sich der Roman als heterogenes Gebilde durch den Gegensatz zu der vermeintlich homogenen Formeinheit des Epos. Diese Gegenüberstellung wurde durch Wolfs Zweifel an der ursprünglichen Einheit des Epos radikal infrage gestellt.
Warum versucht sich ein zu diesem Zeitpunkt berühmter Gelehrter wie Georg Simmel, der ja 1900 "Philosophie des Geldes" publiziert, in der Dichtung? Ganz unabhängig von seinem Scheitern in diesem Fach möchte ich im Folgenden diese Frage ausweiten und in den Kontext einer umfassenderen Beobachtung stellen. Nämlich der, dass sich im Laufe der langen Jahrhundertwende Texte herausbilden, die in ihrer Form einmalig oder zumindest besonders sind und zu denen auch viele Arbeiten von Georg Simmel gehören – nicht nur die, die er als Momentbilder publiziert. In einem ersten Schritt werde ich diese neuen Texte der langen Jahrhundertwende beschreiben, um im Anschluss Überlegungen dazu anzustellen, welche Bedingungen diese Formen begünstigt haben. Abschließend wende ich mich kurz einem Vergleich von Simmel und Benjamin zu, um auf diese Weise aufzuzeigen, dass für diese Texte die Formation mehr ist als nur Grundlage für die Vermittlung von Konzepten und selbst eine konzeptuelle Funktion übernehmen soll. Daher ist es hilfreich, die jeweils formalen Strukturen und Modi genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich werde mich Simmel also nicht aus der Perspektive der Soziologie oder Kunstphilosophie nähern, sondern aus der einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft.
Es sind unruhige Zeiten Ende 1918, als sich im Zuge der Revolution in Deutschland Arbeiterräte gründen. Kurzzeitiger Vorsitzender in München ist Heinrich Mann. Auch in Berlin ist mit Kurt Hiller ein 'Literat' Vorsitzender des "Rates der geistigen Arbeiter". Am 2. Dezember 1918 wendet sich Hiller resümierend in einer Rede an die Versammelten: "Seit Jahren wirken wir Aktivisten durch Rede und Schrift für die Politisierung des Geistes und für die Vergeistigung der Politik." Hiller bedient sich mit diesem Chiasmus zweier markanter Begrifflichkeiten: dem "Geist" als Schlagwort der literarischen Gruppe des Aktivismus, der Kurt Hiller und Heinrich Mann angehören, sowie der "Politisierung", als Schlagwort einer vor allem während des Ersten Weltkriegs geführten und sich ab 1918 abschwächenden Debatte über das Verhältnis von Kunst und Politik. An diesen Chiasmus Hillers und die damit verbundene Debatte wird Walter Benjamin 1935 in den ersten beiden Fassungen seines "Kunstwerkaufsatzes" anschließen, wenn er darin von der Ästhetisierung der Politik und der Politisierung der Kunst spricht. Die Bezugnahme darauf tritt allerdings in den späteren, veröffentlichten Fassungen zusehends in den Hintergrund.
Der Bildungsroman als pädagogische Praxisform : Karl Morgensterns Schriften im deutschen Vormärz
(2019)
Sandra Markewitz untersucht das literarische Genre 'Bildungsroman' als pädagogische Praxisform. Ausgehend von Morgensterns begrifflicher Auseinandersetzung mit dem Genre, in dem das Thema Bildung zweifach aufgegriffen werde - als Sujet in der Darstellung des Bildungsgangs der Figuren sowie als Bildung der Lesenden als lernfähige Rezipienten selbst -, zeigt Markewitz, inwiefern das literarische Genre, immer auch über sich hinausgeht, sich "in die reagierend idealiter sich bildende Leserschaft hinein […] potenziert". In diesem Bezug über sich selbst hinaus sei der Bildungsroman Erfahrungsdimension und Möglichkeitsraum bürgerlicher Emanzipation.
Double blind - psychogene und psychosomatische Sehstörungen nach Sigmund Freud und Georg Groddeck
(2019)
Die Psychoanalyse des frühen 20. Jahrhunderts nahm in ihren Überlegungen Sehstörungen zum Anlass, um das Funktionieren des gesunden Auges, vor allem aber die Funktionsweisen der menschlichen Psyche zu thematisieren. Anne-Kathrin Reulecke zeigt, dass sowohl Sigmund Freud als auch Georg Groddeck davon ausgingen, dass das Sehen keine rein physiologische Fähigkeit, sondern vielmehr eine psychologisch sowie sozial und kulturell präfigurierte Aktivität ist. Sie legt dar, dass Freud eine nichtorganisch bedingte Sehstörung, die sogenannte hysterische Blindheit, als Effekt eines innerpsychischen Triebkonflikts und als dessen gleichsam neurotischen Ausweg deutet. Groddeck hingegen bestimmt das gesunde Auge als Organ eines grundlegenden Nicht-alles-sehen-Könnens. Die Kurzsichtigkeit betrachtet er als sinnvolles Hilfsmittel des Körpers, das dann eingesetzt wird, wenn die normale Tätigkeit des Verdrängens beim Sehen, die Selektion gefährlicher Bilder, nicht ausreichend funktioniert.
Als Hans Blumenberg 1974 den Kuno-Fischer-Preis für Philosophiegeschichte erhält, fällt in seiner Dankesrede der Satz: "Ich habe den Vorwurf des 'Historismus' immer als ehrenvoll empfunden." Aus dem Mund eines Philosophen muss diese Aussage verwundern, denn polemisch verwendet meint 'Historismus' schließlich das glatte Gegenteil von Philosophie: reines positivistisches Faktensammeln ohne alle Wertung. Die Genese der Phänomene klären zu wollen, ohne ihre Geltung bestimmen zu können - so ließe sich der "Vorwurf" zusammenfassen -, endet in einem aussagefreien Relativismus. Als philosophische Haltung löst der Historismus Philosophie in Geschichte auf. Dass er dennoch "ehrenvoll" sein kann, lässt sich für Blumenberg aber durchaus philosophisch begründen. Verstanden als Korrektur falscher Geschichtsverständnisse nämlich ist der Historismus für ein ganzes geschichtstheoretisches Programm nutzbar zu machen: Blumenberg nannte es einmal die "Destruktion der Historie".
Although Alexander von Humboldt is well known for his major impact on the development of new scientific knowledge and the rise of disciplines such as Geography and Ecology, his critical reflections on languages from a scientific point of view, as well as from an aesthetic perspective, still receive little attention. New research has shown that von Humboldt's writings on the languages of indigenous people may well be considered the beginning of anthropological-comparative linguistics. This article outlines the significance of von Humboldt's aesthetics of language in his own scientific texts. He explores the different dimensions of sound landscapes, combinating scientific description in prose and the sound of the indigenous terms. By this strategy, he connects different forms of "text islands" ('Textinseln') in order to create an intratextual web of knowledge archipelagos based on his concept of a science which refers to the senses ('sinnliche Wissenschaft'). The polyphonic structure of his writing opens up a collage of natural musical arrangements of animal and human sounds, fused into a common language of life forms bound together by the "phonotextual" soundscape of his writing skills. By merging epistemic and aesthetic forms, he creates a symphony of life between art, science, and nature.
Ernst Müller beschäftigt sich mit der "Umcodierung der europäischkonfessionellen in eine national-säkulare Bestimmung der Universität" im Werk Friedrich Schleiermachers. Da eine sprachliche Verfasstheit des Wissens für Schleiermacher außer Frage stehe und er deren Vermittlung in der "verschriftliche[n] Mündlichkeit" seiner Vorlesungen auch durchaus Rechnung zu tragen versuche, wolle er den Gebrauch des Lateinischen auf den einer akademischen Festsprache reserviert wissen. Ferner führe die neue Verbindung von Philosophie, Wissenschaft und Bildung bei Schleiermacher beinahe zwangsläufig zu einer Gegenüberstellung von deutscher Universität und französischer Spezialschule, da Letztere sich dem staatlichen Nutzen und der Berufsausbildung verschrieben habe. Die deutsche Universität binde Schleiermacher dabei zwar an die Nation, mitnichten aber an den Nationalstaat.
Daniel Weidner beleuchtet Johann Gottlieb Fichtes Überlegungen zu Wissenschaft, Universität, Sprache und Nation im Anschluss an Kant. Als konstitutives Merkmal der neuen Wissenschaft macht er bei Fichte die Figur des Fortschritts aus, welche die eigene Forschung ihrem Selbstverständnis nach notwendigerweise als "Durchgangsstadium" erscheinen lasse. Auf der Ebene der Vermittlung führe dies zu einem "genetischen Vortragsstil", da die Adressaten in die Lage versetzt werden müssten, die jeweilige Gedankenhandlung selbst nachzuvollziehen. Paradoxerweise sei Fichtes Vortrag indes weniger mündlich als der Kants, da er anders als dieser nicht laufend ein Lehrbuch kommentiere, sondern seine Vorlesungen als selbständige Texte verfasse. Dabei reflektiere Fichte nicht nur das eigene sprachliche Handeln, sondern auch die Sprache selbst im Sinne eines Anschauungskerns der Nation, die er in Deutschland durch seine Reden als Gemeinschaft (mit) zu konstituieren versuche.
Klassische Themen der Metaphysik sind - in Kants bündiger Zusammenfassung - Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Das sind nicht gerade Begriffe, die einem zu Herbert Marcuse als Erstes einfallen. Je berühmter er als Philosoph und Mentor der 68-Bewegung wurde, desto mehr traten seine philosophischen Grundlagen in den Hintergrund. Der Herausgeber der nachgelassenen Schriften von Marcuse in Deutschland hat zu Recht bemerkt: Die "engen Bezüge zu originär philosophischen Themen" in Marcuses Gesamtwerk sind "während der Studentenbewegung annähernd in Vergessenheit geraten". [...] Von anderen neomarxistischen Ansätzen unterschied sich die kritische Theorie nicht zuletzt durch ihr Verhältnis zur Metaphysik. Und gerade in diesem Punkt, so Schweppenhäusers These, stand sie Marx besonders nahe.
Zu den Vordenkern der Neuen Linken zählt Herbert Marcuse mit seiner weit verbreiteten, aber nicht ganz unumstrittene Theorie vom eindimensionalen Menschen. Roman Kowert untersucht in seinem Beitrag die Auseinandersetzung Marcuses auch mit Heidegger und Freud und seine damit verbundene "Intention einer Revitalisierung des Marxschen theoretischen Erbes", die für die Diskurse der 68er bedeutsam war.
Am 16. April 2019 starb unser hervorragender Kollege und Freund, Literaturwissenschaftler, Hochschulpädagoge und Literaturübersetzer, Dr. habil. Milan Žitný, PhD. Der Absolvent des Studiums der Germanistik und Nordistik an der Philosophischen Fakultät der Comenius-Universität Bratislava begann seine wissenschaftliche Laufbahn als Mitarbeiter des Instituts für Weltsprachen und Literatur an der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. Hier promovierte er mit einer Dissertation über junge nonkonformistische DDR-Lyrik.
Der Artikel schlägt vor, die Frage nach dem Berühren indirekt, d.h. ausgehend von einer Unhaltbarkeit der Unbetroffenheit aufzugreifen. In 'Schiffbruch mit Zuschauer' diskutiert Hans Blumenberg den Verlust der Zuschauerposition als einen rezeptionsgeschichtlichen Umschlagpunkt. Entscheidend hierfür sind die von Jacob Burckhardt beschriebenen Aporien der Geschichtsschreibung im "Revolutionszeitalter". Ein Blick auf Burckhardts Metaphernkonstellationen kann zeigen, dass die beschriebene "Krisis" die Logik der großen historischen Instanzen gerade unberührt lässt. Demgegenüber lässt sich mit Blumenbergs bereits 1979 angekündigter 'Theorie der Unbegrifflichkeit' eine Variante möglichen Distanzverlusts erschließen, die sich keinem hintergründigen Spiel historisch wirksamer Kräfte, sondern der immanenten – und darin keineswegs ahistorischen – Destruktion der Leistung des Begriffs verdankt. Unter dem Titel der Berührbarkeit wird die Wiederkehr des Sinnlichen zunächst als eine Krise methodischer Sicherungen reformulierbar.
Euphorisch nahm das deutsche Feuilleton im letzten Sommer ein schmales Bändchen auf: Theodor W. Adornos "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus". Ihm liegt ein von Adorno ursprünglich 1967 vor Wiener Studierenden gehaltener Vortrag zugrunde, in dem er auf den Einzug der NPD in einige deutsche Landesparlamente Ende der 1960er Jahre reagierte. Vorherrschend in den Besprechungen war der Verweis auf "erstaunliche Parallelen" zwischen dem Rechtsradikalismus der 1960er Jahre und den "gegenwärtigen Entwicklungen". [...] Magnus Klaue ist einer der wenigen Rezensenten, der in die Jubelrufe nicht einstimmt. In seiner Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kritisiert er nicht Adornos Vortrag selbst, sondern die aus seiner Sicht "um den Preis der Enthistorisierung" allzu munter betriebene Parallelisierung der damaligen mit aktuellen politischen Entwicklungen. Klaue plädiert für die Einordnung von Adornos Vortrag in seinen zeitgeschichtlichen Entstehungskontext, da sich die Situation Ende der 1960er Jahre von der heutigen deutlich unterscheide.
Seitdem Thomas Anz im Jahre 1998 seine Klassifizierung des Kanon-Begriffs veröffentlicht hat, gilt diese als Grundlage wissenschaftlicher Kanon-Debatten und eröffnet aktuelle Themenbereiche und Perspektiven für weitere Forschung. Betrachtet man die verschiedenen gesellschaftlichen Realisierungsformen des literarischen Kanons durch das Prisma der von Anz entworfenen Begriffspaare, dann werden Trennungslinien deutlich, die bis dahin unbemerkt geblieben sind. So werden aufgrund der von Anz entworfenen Gegenüberstellung von "materiellem Kanon" und "Deutungskanon" Fragen nach der Institutionalisierung des materiellen Kanons durch die Bildungsinstitutionen einerseits und nach der Bekräftigung oder Infragestellung des Deutungskanons durch die performative Praxis in gegenwärtigen Theaterproduktionen andererseits gestellt. Der vorliegende Beitrag geht den oben erwähnten Fragen nach, indem verschiedene Brünner Inszenierungen der Jahre 2010–2020 mit Blick auf die Affirmation oder die Infragestellung der kanonisierten Interpretation der Texte analysiert werden.
In seinem Buch "Einfache Formen" (1930) entwickelt André Jolles in Auseinandersetzung mit Goethes Naturkunde die Vorstellung einer besonderen Zeitlichkeit der von ihm so genannten "Einfachen Formen", die er als "Jedesmaligkeit" bezeichnet. Jolles greift damit den morphologischen Gedanken einer Vielgestaltigkeit von Form vor dem Hintergrund der sprachwissenschaftlichen Debatten seines politisierten akademischen Umfelds in Leipzig auf, das den Saussure'schen Systemgedanken der Sprache unter Rückbezug auf Wilhelm von Humboldt holistisch umdeuten wollte. Der Aufsatz verortet Jolles' Überlegungen in der formorientierten Literatur- und Kulturtheorie der Zeit. Anhand seiner Zeitbegriffe und seines Formkonzepts wird gezeigt, wie er die zeitgenössischen Ideen der Ganzheit und der Verzeitlichung von Form im Ausgang morphologischer Fragen auf eigenwillige Weise interpretierte.
Adornos Verhältnis zu Kunst und Ökonomie ist ebenso bekannt wie kompliziert. Die spätkapitalistische Gesellschaft und ihre Subjekt- und Lebensformen leiden nach Adorno unter einer problematischen Vorherrschaft der Ökonomie, die Adorno und Horkheimer "totale Kapitalmacht" nennen. Die "ökonomische Durchorganisation" der Gesellschaft zeigt sich danach auch in der Kultur, wo sie unter dem Stichwort 'Kulturindustrie' firmiert. [...] Im scharfen Kontrast zur Kulturindustrie sollen in autonomen Kunstwerken hingegen keine ökonomischen Werte von Belang sein. Ihre Negativität gründet vielmehr in der autonomen "Geltungssphäre" der Kunst "sui generis", der kritischen Abkehr von der "empirische[n] Realität" samt ihrer kapitalistischen Werteordnung und der Überschreitung "vorgefundene[r] ästhetische[r] Normativität", wie Albrecht Wellmer zusammenfasst. Dennoch drängt sich der Verdacht auf, dass auch die Losgelöstheit von Marktprinzipien eine spezifische Ökonomie voraussetzt, eine poietische Ökonomie des Kunstwerks, das seine Darstellungselemente derart anordnen muss, dass es sich der eingängigen Konsumierung und Verwertung verweigert. Es ist diese Ökonomie der Kunst - so die These -, die zum einen das 'Befremden' angesichts der kapitalistischen Lebensformen zu Bewusstsein bringt und zum anderen darüber hinausverweisen soll. Ziel des Aufsatzes ist es daher, das Verhältnis sowohl der kulturindustriellen Produkte als auch der autonomen Kunst zu den ökonomischen Bedingungen zu beschreiben, unter denen nach Adorno ja beide entstehen, um vor diesem Hintergrund ihre je eigene poietische Ökonomie genauer in den Blick zu nehmen.
Die Auseinandersetzung mit Stefan George war für Theodor W. Adornos philosophischen Werdegang entscheidend. Dieser Befund wird durch eine einfach quantitative Analyse bestätigt: Georges Name erscheint in Adornos "Gesammelten Schriften" 468 Mal. Zum Vergleich: Kafka wird 302 Mal, Goethe 298 Mal genannt. Gleichwohl hat die Forschung, trotz einiger Einzelstudien zur George-Rezeption Adornos, die Systematik und Struktur seiner George-Lektüre bislang nicht hinreichend herausgestellt. Adornos oft konstatierte Ambivalenz, die Georges philosophische 'Rettung' motiviert, erklärt sich aus seiner Doppelposition als Angehöriger der linken Frankfurter Intelligenz auf der einen, als Komponist der Zweiten Wiener Schule auf der anderen Seite - eine sozialgeschichtliche Konstellation, vor deren Hintergrund sich das Zusammenspiel dreier Problemfelder vollzieht: Erstens handelt es sich bei Adornos George-Lektüre um die Übertragung der materialistisch-dialektischen Methode auf die Kunstbetrachtung; diese hängt zweitens mit dem Problem des 'Klassischen' zusammen; drittens mit Adornos musikalischer Beschäftigung mit George. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, die Verflechtung dieser Problemfelder darzustellen und damit die Logik von Adornos komplexem Verhältnis zu George zu erhellen.
In dem vorliegenden Beitrag möchte ich mich anhand der ersten Theorie des deutschsprachigen Bildungsromans, Karl Morgensterns "Ueber das Wesen des Bildungsromans" (1819/20), dem Gegenstand 'Geschlecht' als einem elementaren Bestandteil solcher Theorien annähern, der darin dreierlei vollbringt: er wird erstens zur Produktion des Primärobjekts (Roman) poetologisch angestrengt; zweitens wird er zugleich durch die Verfahrensweise der Texte mitproduziert; und schließlich zersetzt er drittens diese Theorien paradoxerweise von innen. Die Ausgangshypothese ist dabei die folgende: Entgegen ihrem Vermögen ('faculty') (als Theorien), den Formverläufen von Literatur nur noch folgen, sie aber nicht mehr (wie noch Poetiken) vorhersagen zu können, sind Romantheorien vielmehr daran interessiert, deskriptiv und damit präskriptiv zu verfahren, und hilfreich bei dieser Beschreibungsarbeit ist die Vergeschlechtlichung ihres Gegenstandes - wenn nicht immer dezidiert auf der Textoberfläche, so zumindest doch auf der Ebene ihrer Verfahrensweisen. Insofern der Roman und seine Form an sich selbst Formgenese verhandeln und diese Verhandlung ab 1800 zu einer wird, die auch die Formen des Lebens und deren Formung beschreibt, kommt den Theorien, die diese Formen von außen regelgeleitet einhegen wollen, eine Sonderrolle zu. Die Romantheorien tragen in die dem Roman korrespondierende Form des Lebens ein spezifisches Verständnis von Geschlecht ein, womit beide Formen - Geschlecht und Roman - in ein Wechselverhältnis zueinander treten. [...] Und im Falle des Bildungsromans lautet das als Arbeitshypothese: Der Bildungs-Begriff wird operativ dort, wo er zur Theorie wird, und zwar zu einer von ästhetischer Erziehung sowie von literarischer Form, Geschlechter-Form und Lebens-Form. Beginnen möchte ich mit einer historischen und ideengeschichtlichen Verortung Morgensterns; mit Blick auf seine Vorlesungen von 1810 gilt es dabei auch, sein Verständnis von Männlichkeit näher in den Blick zu rücken. Nach einführenden Bemerkungen zu der im Fokus stehenden Theorie des Bildungsromans ziele ich auf die Erläuterung seines Gestalt- und Formenverständnisses ab, um nach der Analyse der Geschlechter-Imagines der Theorie (insbesondere ihrer Verfahrensweisen) abschließend auf diejenigen Stellen des Textes näher einzugehen, in denen sich die Theorie selbst untergräbt.
Vischers Freiheitsbedürfnis war unersättlich, und er war ständig auf der Suche nach Trost und Orientierung in einer orientierungslosen Zeit. Vischer hoffte, dies nicht nur in der Kunstschönheit in fernen Ländern zu finden, sondern vor allem in der Literatur, der Dichtung und der Philosophie. Der erste Teil des Goethe'schen Faust und Hegels Philosophie sollten daher in der zerrissenen, stürmischen Vormärzzeit zum Rettungsanker für ihn werden. Vischer wird sich von diesen Reisebegleitern nie gänzlich befreien, sie werden mehr oder weniger ausdrücklich sein ganzes Leben an seiner Seite sein, wenn er sich auf die Suche nach einem (unmöglichen) Gleichgewicht zwischen den beiden Seelen in seiner gespaltenen Brust macht: der systematischen (mit offensichtlichen Anklängen an Hegel) und der zerrissenen (die klar auf den Faust anspielt). Wir wollen, von der ersten ausgehend, beide analysieren.
Wie immer man Vischers Argumentation einordnet, deutlich machen sollte man sich zunächst, dass sie nicht allein kunstphilosophisch orientiert ist, sondern den Austausch mit sich seit den 1830er Jahren zusehends pluralisierenden und von der Zeitordnung, die Hegels Geschichtsphilosophie vorgibt, emanzipierenden literatur- und kunsthistoriografischen Diskursen sucht, womöglich sogar das Ergebnis literatur- und kunstgeschichtlicher Revisionen dieses Zeitraums ist. Dies würde bedeuten, dass es nicht allein (und vielleicht nicht einmal primär) das Gebiet der philosophischen Ästhetik (Kunstphilosophie) ist, innerhalb dessen Vischers Moderne ihre Konturen gewinnt. Im Mittelpunkt stehen würde demgegenüber die empirisch orientierte, d. h. an Einzelwerk und -künstler interessierte Kunst- und Literaturforschung. Wenn wir im Weiteren diese These verfolgen, so nicht so sehr aus dem Interesse heraus, den Anteil kunstphilosophischer Konzeption im Denken Vischers tatsächlich marginalisieren zu wollen. Interessant ist vielmehr die Möglichkeit, in heuristischer Absicht die Elemente der kunst- und literaturgeschichtlichen Rede als eigenständige Diskursformationen in der Betrachtung scharfstellen zu können. Mit diesem Ziel soll es zunächst darum gehen, das Verhältnis von Romantik und Moderne im Haushalt der hegelianischen Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung um 1840 zu bestimmen. Gefragt werden soll zudem: Wie lässt sich Vischers im Plan zu einer neuen Gliederung der Ästhetik entworfenes Moderne-Ideal in diesen Rahmen integrieren (Kap. I)? In einem zweiten Schritt wird schließlich ganz konkret jenen Spuren nachgegangen, die Vischers Argumentation im Einflussgebiet kunst- und literaturgeschichtlicher Diskursmuster seiner Zeit zu verorten erlauben (Kap. II). Abschließend wollen wir die Ergebnisse in eine Konturierung des Moderne-Begriffes einbringen (Kap. III).
Noch bevor Begriffe wie Immanenz, Realität oder Unmittelbarkeit zu gängigen Gegenständen der Ästhetik werden konnten, entwickelt Weiße ein System, in dem er der Realität und dem Hässlichen einen Platz einräumt. So stellt sein Werk ein Zeugnis der Anfänge dieser Entwicklung dar, die bereits wenige Jahre später fester Bestandteil der Ästhetiken wurde. Dies blieb jedoch nicht ohne Folgen für die Rezeption seines eigenen Werkes, in der nur selten Weißes eigene Argumentation eine Rolle spielte, der Fokus vielmehr auf die Ergebnisse gerichtet war, die bei den Nachfolgern in der Regel konsequenter und stringenter ausgeführt worden waren. Nichtsdestotrotz stellt gerade dieses frühe umfassende Werk Weißes ein interessantes Dokument des Beginns eines Paradigmenwechsels im Nachdenken über das Schöne im Vormärz dar, dessen Tragweite sich bei Erscheinen von Weißes Abhandlung noch nicht abzeichnete. Der folgende Beitrag möchte diese initialen Weichenstellungen in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Ästhetik beleuchten, wobei besonderes Augenmerk auf dem Moment der Gleichzeitigkeit liegen soll, die das Potential des Neuen, bisher so noch nicht Gedachten, mit den Denkweisen der Goethezeit versöhnen soll. Und nicht zuletzt könnte die Betrachtung dieses frühen Entwicklungsstadiums auf dem Weg zu einer modernen Ästhetik auch Aufschluss geben über das Verhältnis der beiden konträren literarischen Tendenzen des politischen und des restaurativen Schreibens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Zu Hegel nicht ohne Fichte
(2020)
Geht man die Philosophiegeschichte treu durch wie der Zeiger das Ziffernblatt an der Wanduhr, so weiß man bald nicht mehr, wo man ist. Das kommt den Hegel-Leser an, erinnert er sich noch, was bei Fichte stand, und lässt sich nicht täuschen von der brausenden Kant- und Fichte-Polemik des jungen Privatdozenten, als der sich selbst noch suchte. Bald wusste er besser, was ihn auf seinen Weg gebracht. Es gibt Polemiken in der Philosophie, wie von Leidenschaft getrieben, und am heftigsten gegen den im Denken Nächsten. Hegels Anfänge waren Kant- und Fichte-Abfertigungen gewesen. Kant und Fichte, eben 20 Jahre nach ihren epochemachenden Schriften wurden sie schon für Zurückgebliebene erklärt. Nicht Weltblick für den schöpferischen Geist der Zeit werde geöffnet von der transzendentalen Logik und deren von Fichte daraus gebildeten idealistischen Handlungstheorie. Nur schmale 'Reflexionsphilosophie der Subjektivität' komme hier mit ewig unbefriedigtem Sollen, statt auf das Weitertreibende in der Sache Geschichte selbst zu sehen. Die beiden jungen Schwaben, nach Jena, ins Zentrum des die Schulmetaphysik zurücklassenden Kantianismus gekommen, sie schrieben Philosophie wie Eroberer, die ihre geistige Herrschaft antreten wollen. Das hohe Sendungsbewusstsein für die eröffnete neue Lehre gehörte zur an sich altaufklärerischen Überzeugung, dass Philosophie - nicht mehr Religion - uns eine menschheitsführende Weltsicht öffne. Die Frage blieb, am schärfsten zwischen Hegel und Fichte, ob Philosophie vorangehe und den Weg weise, so dass auch real nach deren Programm gehandelt werden solle, oder doch nur den je geschehenen Schritt begreife und ihn anzuerkennen lehre. Aber in seinen philosophiehistorischen Vorlesungen der 20er Jahre schilderte Hegel dann die Logik des Konstruktionsprinzips 'Arbeit' in der Fichte'schen Wissenschaftslehre detailliert; noch immer kritisch, aber als die ernste Sache bei einem, der etwas gefunden habe, das mit uns fortgehe. Im Schlusskapitel der "Phänomenologie des Geistes" (1807) hatte er schon die Parallel-Wege der (europäischen) Menschheit von Ideal- und Realgeschichte ganz im Duktus des Fichte'schen Praxisbegriffes konstruiert, bis hin zum Ich-Kennwort. Das Gerüst der Hegel'schen Geistphilosophie steht überhaupt auf dem Fundament des Fichte'schen Handlungs- und Vergegenständlichungsgedankens.
Am 23. April 1967 hält Theodor W. Adorno im Deutschlandfunk einen Radiovortrag über Stefan George. Es ist nicht das erste Mal, dass Adorno sein ambivalentes Verhältnis zu dessen Dichtung thematisiert: Nachdem er unter dem Einfluss der Zweiten Wiener Schule zwischen 1925 und 1928 einige von Georges Gedichten vertont hatte, 1939/40 den Briefwechsel zwischen George und Hugo von Hofmannsthal besprochen hatte, 1957 auch in "Lyrik und Gesellschaft" ausführlich auf George zu sprechen kam, stellt Adorno in diesen bilanzierenden Überlegungen noch einmal die Frage, was an George überhaupt zu 'retten' sei. Er greift damit eine Problematik auf, die auch Walter Benjamin Zeit seines Lebens beschäftigt hat. [...] Insbesondere in Georges Baudelaire-Übersetzungen löse sich das ein, was wiederum Benjamin von einer gelungenen Übersetzung "forderte" - die rücksichtslose, fast gewalttätige Erweiterung der (eigenen) Sprache, ihr ephemerer Charakter, die beinahe "wörtliche Versenkung in die andere Sprache". Auch wenn Adornos Eloge auf Georges Übersetzungen deren Qualität sicherlich gerecht wird, befremdet doch die Nähe, in die an dieser Stelle Georges Veränderung der deutschen Sprache und Benjamins Reflexionen zur Übersetzung gerückt werden. Adorno übergeht in seiner Überblendung von Georges Praxis und Benjamins Übersetzungstheorie einen zentralen Punkt, dem sich die folgenden Überlegungen widmen wollen: Benjamins (Neu-)Übersetzung Baudelaires samt ihrem Vorwort "Die Aufgabe des Übersetzers" gewinnt aus der polemischen Distanzierung von George und seinem Kreis überhaupt erst Gestalt, sein übersetzerischer Anspruch ist in radikaler Abgrenzung zu George konzipiert. Um Georges antagonistische Rolle in Benjamins Theorie und Praxis der Übersetzung zu verdeutlichen, sollen vor allem der literaturbetriebliche Kontext von Benjamins "Die Aufgabe des Übersetzers", die Akteure, gegen die er sich wendet, sowie die Metaphern und Bilder, in die Benjamin seine Theorie der Übersetzung kleidet, in den Blick gerückt werden. Zunächst gilt es dafür, das komplexe Verhältnis Benjamins zu dem Übersetzervorbild und -antipoden George sowie dessen Kreis zu skizzieren. Ich möchte mich dann insbesondere auf das Bild vom "inneren Bergwald der Sprache selbst" konzentrieren, das Benjamin an zentraler Stelle als subtile Spitze gegen George und dessen Dante-Übersetzung verwendet. An diesem Bild erhellt sich zugleich das von Benjamin herausgestellte distanzierte Verhältnis des Übersetzers zu seinem Material, die sogenannte 'Aufgabe des Übersetzers'.
Gilles Deleuze ist zwar oft als Philosophiehistoriker hervorgetreten, hat aber offensichtlich keine Heidegger-Monografie verfasst. Ebenso wenig weist sein Werk allzu viele direkte Bezugnahmen auf Heidegger auf. Vielleicht ist diese Einschätzung aber zu oberflächlich. Erst vor wenigen Jahren hat die Philosophin Janae Sholtz in ihrem bemerkenswerten Buch "The Invention of a People" eine erste ausführliche Gegenüberstellung des Denkens von Deleuze und Heidegger unternommen. [..] Das ändert zwar nichts daran, dass kein 'Heidegger und die Philosophie' aus Deleuze' Schreibmaschine vorliegt: Es motiviert aber dazu, nach weiteren Spuren des deutschen Philosophen in Deleuze' Schriften zu suchen. Das letzte mit Félix Guattari zusammen verfasste Buch, "Was ist Philosophie?" (1991), bietet hier reichlich Anhaltspunkte. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie darin eine dezidierte Erwiderung und Fortsetzung in Differenz von Gedanken Heideggers stattfindet: Vor allem betrifft das den Streit zwischen Welt und Erde aus dem Aufsatz "Der Ursprung des Kunstwerks" (1936; 1950). Die Kapitel vier und sieben aus "Was ist Philosophie?", obwohl sie auf den ersten Blick bezugslos erscheinen mögen, entwerfen zusammengelesen eine Erwiderung auf Heideggers so berühmten wie problematischen Anspruch an die Dichter, einem geschichtlichen Volk seine Welt zu eröffnen. Nach einer kurzen Wiedervergegenwärtigung der Grundlagen von Heideggers Überlegungen zur Kunst (II) und Deleuze' oft beiläufigen, aber in ihrer Kritik systematischen Bezugnahmen darauf (III) wird zu sehen sein, wie Deleuze und Guattari in ihrer Philosophie der (De-)Territorialisierung dabei nicht nur die Begriffe Welt und Erde verschieben: Die unerhörte evolutionäre Vordatierung eines Anfangs der Kunst beim Tier etwa entzieht Heideggers Kunstwerk-Aufsatz gezielt seine Basis; den Menschen, der dank seiner Sprache privilegiert im 'Offenen' steht und allein Welt besitzen soll (IV). Über die konkreten Konsequenzen und die manifeste Bedeutung dieser Substitution soll zum Ende nachgedacht werden (V).
Die Differenz zwischen der durch Jürgen Habermas am Institut für Sozialforschung begründeten Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie lässt sich darin pointieren, dass jene eine Gruppe von Wissenschaftlern ist, während diese eine Assoziation von Individuen war, die auf sich selbst nie nur als Rollenträger reflektierten. So wie Habermas in seinen frühen Schriften an das Gesellschafts- und Subjektverständnis der Linkssozialisten der Zwischenkriegszeit anknüpfte, erstand, seit die Kritische Theorie zur Frankfurter Schule wurde, der von jeder Einsicht in die Nichtidentität von Subjekt und Gesellschaft bereinigte Wissenschaftsbegriff der Sozialwissenschaften wie ein Phönix aus der Asche wieder auf. Was Horkheimer zunehmend als Abfallprodukt dessen ansah, worum es dem Institut eigentlich gehen sollte trat erneut in den Mittelpunkt: empirische Erhebungen, Auftragsarbeiten für Institutionen, sozialkritisch gewendete Sozialtechnologie. Adornos Hinwendung zur philosophischen Ästhetik seit den frühen Sechzigern kann verstanden werden als Versuch, am anderen Gegenstand dasjenige festzuhalten, was an der Gesellschaft selbst nicht mehr entfaltet werden konnte: Ästhetische Theorie als einzig noch mögliche Sozialphilosophie, die genau deshalb keine Kunstsoziologie sein durfte. Der Begriff der Nuance, der nicht nur in der Ästhetischen Theorie bei Adorno Index dessen ist, worin sich die ästhetische Form von der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, unterscheidet, kann auch auf jene Züge der Kritischen Theorie bezogen werden, in der sie den Disziplinen, Instituten, Rollen, in denen sie sich konkretisierte, widersprach. Dass die Ästhetische Theorie seither in der Kultur-, Literatur- und Theaterwissenschaft im Glauben, sie auszubauen und zu vertiefen, um das gebracht wurde, worauf sie zielte: um das Verständnis des Ganzen, ist dabei konsequent. Haben sich doch die Einzeldisziplinen längst von einer Arbeitsteilung verabschiedet, die die Teilung mit Blick auf das Ganze, die Erkenntnis unteilbarer Wahrheit, begründen muss. Weil dieses Ganze weggefallen ist, wird es dem Betrieb heute unter dem Vorzeichen von Inter- und Transdisziplinarität injiziert, von Begriffen also, die etwas bezeichnen, was die Kritische Theorie stets gewesen ist, ohne es so zu nennen. Die 'Zwischenzeit' aber, die Horkheimer als Grund dafür angibt, dass 1951 von Kritischer Theorie nicht mehr in den Begriffen von 1931 gesprochen werden kann, bezeichnet jene Erfahrung, die ihn, Adorno und Pollock nicht nur von Habermas, sondern von allen trennt, die ihm folgten.
Hölderlin und Hegel heute
(2020)
Die Wege des Dichters und des Philosophen, die sich in revolutionären Zeiten im Tübinger Stift kennengelernt hatten, waren verschieden und doch vielfältig verbunden. Immer wieder und besonders häufig in diesem doppelten Jubiläumsjahr 2020 sind die Dioskuren des deutschen Idealismus Gegenstand der Betrachtung und Bewunderung gewesen. [...] Am 9. Dezember 2020 wollen wir uns unter dem Titel "Hölderlin und Hegel heute" den Werken dieser beiden Schwaben jedoch vor allem unter der Fragestellung nähern, was diese denn mit uns heute noch oder wieder zu tun haben könnten.
Leben und Werke der Brüder Wilhelm (1767−1835) und Alexander (1769−1859) von Humboldt vollzogen sich in vielfältigen Kultur- und Wissenstransfers. Beide waren, in jeweils unterschiedlichem Ausmaß, Forschungsreisende, wissenschaftliche Publizisten, Wissenschaftspolitiker, Staats- und Hofbedienstete. In der Vielfalt dieser Funktionen waren sie darauf angewiesen, zwischen fachlicher, politischer und öffentlicher Kommunkation vermitteln zu können, sich also selbst zu übersetzen - in einem zunächst einmal weiten Verständnis von Übersetzung, das neben sprachlichen Übertragungen auch die "Notwendigkeit kultureller Übersetzungsprozesse" meint und auf ein "Immer-schon-Übersetztsein" von Kulturen in ihrer Vielheit und Mannigfaltigkeit verweist. Solche kulturellen Transfers erweisen sich aber bei den Humboldts auf spezifische Weise als sprachgebunden. Daher lässt sich der im weiteren Sinne übersetzende Charakter ihres wissenschaftlichen und politischen Wirkens auf die interlingualen Selbstübersetzungen hin engführen, die untrennbar mit der mehrsprachigen Genese ihres jeweiligen Gesamtwerks verbunden sind. [...] Als besonderer Fall von kosmopolitischer Mehrsprachigkeit ist für beide Humboldts die deutsch-französische Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte betont worden. Für beide besaß die französische Sprache einen zentralen Stellenwert: als von klein auf gesprochene Zweitsprache und als wissenschaftliche lingua franca der Zeit um 1800. Sie war immer dort mit im Spiel, wo sich Wilhelm und Alexander von Humboldt als Selbstübersetzer betätigten. Dabei ging die Übersetzungsrichtung sowohl aus dem Deutschen ins Französische als auch umgekehrt; übersetzt wurden sowohl komplette eigene Texte als auch Abschnitte aus teils publizierten, teils unpublizierten Arbeiten, die in der jeweils anderen Sprache zum Ausgangsmaterial für neue Schriften werden konnten. Auf diese Weise entstanden zweisprachige Textkorpora verschiedenen Zuschnitts, wie im Folgenden an chronologisch angeordneten Beispielen dargelegt werden soll, und zwar sowohl hinsichtlich der jeweiligen wissenschaftlichen Kontexte als auch im mikrologischen Blick auf die Texte selbst. Zwei der Beispiele stammen von Wilhelm von Humboldt: ein deutsch-französisches Konglomerat zur Ästhetik (II.) und ein französisch-deutsches über altamerikanische Sprachen (IV.); die beiden anderen von Alexander von Humboldt: die parallel auf Französisch und Deutsch veröffentlichte Abhandlung zur Geographie der Pflanzen (III.) und die französische Übersetzung der zuerst auf Deutsch publizierten Einleitung zum mehrbändigen Spätwerk, dem Kosmos (V.). Abschließend soll nochmals die pragmatische und theoretische Reichweite der Humboldt'schen Selbstübersetzungen benannt werden (VI.).
Auf der harten Schulbank der Sprache : Leo Spitzers Bemerkungen über das Erlernen des Türkischen
(2020)
Im Folgenden werde ich mich mit einem Aufsatz von Leo Spitzer befassen, der als sonderbarer Fall von Selbstübersetzung rezipiert wurde. Dieser Text, in dem er seine persönlichen Erfahrungen mit dem Erwerb des Türkischen reflektiert und anschließend aus semantisch vergleichender Perspektive die türkische Syntax untersucht, wurde beinahe zeitgleich in einer französischen und einer türkischen Fassung veröffentlicht. Im Jahre 1935 erschien die französische Fassung des Aufsatzes über das Türkischlernen im Bulletin de la Société de linguistique de Paris: "En apprenant le turc. (Considérations psychologiques sur cette langue)" (wörtlich: "Türkisch lernend. Psychologische Betrachtungen über diese Sprache"). Im gleichen Zeitraum, sogar etwas früher, erschien auch eine türkische Fassung des Beitrags unter dem Titel "Türkçeyi Öğrenirken" ("Türkisch lernend") - ohne Untertitel -, die in drei Teilen in der literarischen Zeitschrift Varlık (Das Sein) zwischen April 1934 und Januar 1935 veröffentlicht wurde. Interessanterweise scheint Spitzer den ersten Teil der türkischen Version selbst übersetzt oder direkt auf Türkisch verfasst zu haben. Die Übersetzung der beiden weiteren Teile wurde hingegen von seinem damaligen Assistenten Sabahattin Eyüboğlu (1908−1973) vorgenommen, der an der Übersetzungspolitik der Türkei in den dreißiger Jahren aktiv mitwirkte. Mit diesem Aufsatz bekommt die Frage nach sprach- bzw. wissenschaftspolitischem Wissenstransfer in Istanbul einen sonderbaren, ja karnevalistischen Gehalt: Ein Professor, der beauftragt wurde, die abendländische Philologie und Wissenskultur in die moderne Türkei einzuführen, zeigt sich selbst in der Haltung des Lernenden, der ein sprachwissenschaftliches Selbstexperiment wagt. Dadurch wird die Wahl der Sprache als Werkzeug der Wissensvermittlung infrage gestellt: Französisch und Türkisch, beides erlernte und dadurch vergleichbare Sprachen, die in diesem Aufsatz zugleich Gegenstand und Mittel der Stilforschung sind. Meine Überlegungen zu diesem Thema gliedern sich in drei aufeinander aufbauende Teile. Nach einer knappen Hinführung zu Leo Spitzers Sprachauffassung und seinem Verständnis von Sprachwissenschaft als Stilforschung werde ich die historische Situation seines Aufenthalts in Istanbul in den Jahren von 1933 bis 1936 umreißen. In einem zweiten Schritt werde ich den besagten Aufsatz genauer in Hinblick auf Fragen der Selbstübersetzung untersuchen und fragen, was Leo Spitzer motiviert hat, diese angebliche Selbstübersetzung vorzunehmen. Weder war er Turkologe noch hat er seine romanistischen Arbeiten selbst ins Türkische übersetzt: Die philologischen Forschungen, die er während des Exils in Istanbul unternommen hat, sind entweder auf Französisch oder auf Deutsch erschienen. Die Bedeutung der Entscheidung, speziell diesen Aufsatz über die türkische Sprache selbst zu 'übersetzen', möchte ich zuletzt angesichts der wissenschaftspolitischen Rivalität von Sprachen - in diesem Fall zwischen dem Französischen und dem Türkischen - beleuchten.
Für Walter Benjamin war das Übersetzen nicht zuletzt eine Lebenserfahrung. Spätestens seit 1933, also seitdem er als Exilant in Paris lebte, war das Oszillieren zwischen dem Deutschen und dem Französischen sein täglich Brot. Von den Herausforderungen, Spannungen und Aporien dieses permanenten Changierens zeugen in seinem Werk vor allem die Selbstübersetzungen. Denn Benjamin hat - was in der Forschung erstaunlich selten beachtet wird - zahlreiche Selbstübersetzungen aus dem Deutschen ins Französische angefertigt. [...] Das Exposé zum "Passagenwerk" hat Benjamin 1935 auf Deutsch unter dem Titel "Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts" verfasst und 1939 unter dem Titel "Paris, Capitale du XIXème siècle: Exposé" selbst ins Französische übersetzt. Um diese Schrift in ihrer deutschen und ihrer französischen Fassung geht es in meinem folgenden Beitrag. Ich möchte eine vergleichende Lektüre der beiden Exposés vorschlagen. In der Passage vom deutschen Ausgangstext zum französischen Text der Selbstübersetzung verändert sich, wie sich zeigen wird, die Form der Darstellung wie auch die Art der Argumentation auf signifikante Weise: Wir können in Benjamins Selbstübersetzung des Passagenexposés nachvollziehen, wie das Deutsche und das Französische in eine Konstellation treten und dennoch in keiner Weise ineinander aufgehen, da Fremdheit und Differenz das Paradigma der Übersetzung darstellen, wie übrigens auch im Zusammenhang mit Benjamins früher Übersetzungstheorie deutlich werden wird. Dies ist im Fall der Selbstübersetzung umso erstaunlicher, da es sich hier um ein vermeintlich identisches Autorsubjekt handelt. Die Selbstübersetzung stellt somit einen Fall der Übersetzung dar, in dem sich die Voraussetzungen der Benjamin'schen Übersetzungstheorie auf exemplarische Weise kristallisieren. Bevor ich eingehender auf die beiden Exposés und auf die Form der Selbstübersetzung zu sprechen komme, möchte ich deshalb einige sehr kurze allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Übersetzungstheorie und ‑praxis bei Walter Benjamin vorausschicken und sodann die beiden Exposés - das deutsche Original von 1935 und die Selbstübersetzung ins Französische von 1939 - kurz vorstellen und (werk‑)historisch einordnen. Vor diesem Hintergrund können und sollen dann einige Beobachtungen zu den beiden Exposés en détail diskutiert werden.
Während alle vom Klima sprechen, scheint mit dem Anbruch des Anthropozäns die Zeit der Natur passé. Doch ohne den Begriff der Natur wäre ein Großteil der modernen Philosophie nicht zu denken. Hanna Hamel vermittelt in ihrer Studie zwischen historischen Positionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und ökologischen Theorien der Gegenwart. Ihre Lektüre ausgewählter Texte von Kant, Herder und Goethe entwickelt Grundzüge eines historisch-theoretischen Selbstverständnisses, das über die bloße Abgrenzung von "modernen" Naturkonzepten hinausführt. In der Konfrontation mit aktuellen Reflexionen von Bruno Latour, Timothy Morton und David Lynch wird ein Anliegen erkennbar, das alle Positionen verbindet. Mit Goethe lässt es sich als Darstellung und Theoretisierung "übergänglicher" Natur bezeichnen. Die historischen Texte werden zu einer kritischen Ressource für die Gegenwart.
Mit der Verzeitlichung und Dynamisierung der Geschichte der Moderne geht die Proliferation von Epochenkonstruktionen einher, in denen das Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft jeweils neu verhandelt wird. Unter dieser Perspektive rückt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Daniel Weidner (Universität Halle) den Begriff der Tradition ins Blickfeld. Ausgehend von einem Resümee von Arbeiten zu dessen Erforschung, die zeigen, wie höchst fragil und vieldeutig der Begriff der Tradition in der Moderne ist, plädiert Weidner für eine metaphorische Perspektive, die er am Beispiel einiger Autoren exemplarisch entwickelt. Dabei geht es um die unbegriffliche und figurale Funktion von 'Tradition', also darum, die Bedeutungs- und Diskursverschiebungen sichtbar zu machen, die sich im Wechsel der Parallel- und Leitbegriffe (statt Tradition zum Beispiel auch Geschichte, Gedächtnis, Kultur) und Hintergrundmetaphoriken (Kette, Strom, Ordnung, Wellenschlag) manifestieren. 'Tradition' erscheint als Kollektivsingular in Spannung zu den verschiedenen Traditionen (inklusive ihrer jeweiligen Praktiken der Überlieferung) sowie als Gegenbegriff zur Moderne, die sich zwar normativ als Überwindung der Traditionen begreift, dabei zugleich aber permanent Anstoß zur Bewahrung oder Neuerfindung von Traditionen gibt.
Sinnvoller als eine kategorische Scheidung beider Begriffe, zu der Kant neigt, wäre ein differenzierendes Konzept, demzufolge das Schöne als ein Sonderfall des Angenehmen zu bestimmen wäre, genauer als das Angenehme, sofern es ohne sinnliche Bestimmtheit betrachtet wird. Das Angenehme und das Schöne wären dementsprechend gar nicht als Gegensätze zu erfassen, sondern als komplementäre Bestandteile des ästhetischen Wohlgefallens. Gegen Kants in gewisser Weise kontraproduktiven Versuch, das ästhetische Urteil von allen sinnlichen Bestimmungen frei zu halten - denn was anders als sinnliche Wahrnehmung bedeutet der griechische Ausdruck 'aisthesis', der am Ursprung der Ästhetik steht? - wäre das Schöne als ein bloßer Teilbereich des Angenehmen zu fassen. Kants Purismus des Schönen, der Versuch, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und dem von allen Sinnen freien ästhetischen Urteil zu unterscheiden, läuft so letztlich ins Leere. Wo Kant gute Gründe hat, zwischen dem Schönen und dem Guten zu unterscheiden, da gibt es ebenso gute Gründe, das Schöne und das Angenehme einander anzunähern. Was damit in Frage steht, ist eine Ästhetik des Angenehmen, die die Theorie des Schönen als einen Teilbereich in sich einschließen würde, zugleich aber andere Begriffe wie den des Lieblichen, Reizenden, Rührenden, Exquisiten u. a. einbeziehen würde, um der ausschließlichen Betrachtung des Schönen und des Erhabenen entgegenzuwirken, wie sie Kant im Anschluss an Burke für die Ästhetik etabliert hat. Eine neue, an den Sinnen ausgerichtete Ästhetik könnte so unter dem Titel des Angenehmen firmieren.
Adalbert Stifters im Jahr 1857 publizierter Roman "Der Nachsommer" ist oft als Bildungs- und Erziehungsroman, als humanistische Bildungsutopie oder als restaurative Sozialutopie gelesen worden. Im Gefolge dieser Gattungszuordnungen wurden vor allem Fragen der Bildung und Ästhetik, der Sozialgeschichte und Politik zu Deutungszugängen des Texts. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, den Roman aus einer ganz anders gerichteten Perspektive wahrzunehmen: in seiner Bezogenheit auf das Thema des Todes und der Endlichkeit. Bereits das Titelwort "Nachsommer" deutet auf Vergänglichkeit hin. Gelesen als Metapher für Lebensphasen verweist es sowohl auf eine erneut intensivierte Vitalität als auch auf den näher rückenden Tod. Die Jahreszeiten Herbst und Winter fungieren traditionell als Todesallegorien. Unter dem Vorzeichen dieser Allegorik entfalten viele der im Roman dargestellten Zeitphänomene auch eine eschatologische Bedeutungsdimension. [...] Eschatologische Aussagen können als Aussagen über ein Endschicksal der Welt, der Menschheit und / oder eines einzelnen Menschen aufgefasst werden. In der Epoche des österreichischen Spätbiedermeier, das heißt in den mentalitätsgeschichtlichen Milieus Stifters und seiner Leserschaft, steht angesichts dieses Aussagekomplexes nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit einer in der Dogmatik der christlichen Religion und des katholischen Lehramts verankerten Glaubenshoffnung zur Diskussion. Können die Menschen auf ein zukünftiges Leben in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott hoffen oder sind entsprechende Hoffnungen skeptisch zu verabschieden? Auch wenn konkrete kirchlich-theologische Positionen zum Themenkreis der 'letzten Dinge' in ihrer Komplexität hier nicht differenziert zu entfalten sind, so können sie dennoch als Bezugspunkt für ein Nachdenken über Stifters Pessimismus dienen. Werden die Glaubensinhalte der christlichen Eschatologie skeptisch verneint, so soll diese Negation als zentraler Aspekt des dem Stifter'schen Werk von Sebald attestierten Pessimismus verstanden werden. Sicherlich handelt es sich bei dieser Begriffsbestimmung um eine Hilfskonstruktion mit vorläufigem Charakter. Zumindest gibt sie aber eine erste Definition und vermeidet ein Sprechen in vagen Polysemen. Wie unscharf und wie wenig aussagekräftig die Termini Optimismus / Pessimismus zur Beschreibung des Romans von 1857 letztendlich sind, wird im weiteren Verlauf des Beitrags zu zeigen sein. Im Anschluss an die Lektüre zweier Textpassagen aus dem "Nachsommer" möchte ich hierzu den Blick auf ideengeschichtliche Kontexte des Romans richten. Dabei soll vor allem auf zwei Texte ausführlicher eingegangen werden: auf Bernard Bolzanos "Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" und Johann Gottfried Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit".
Seit seiner ersten Beschäftigung mit dem Märchen in den 1920er Jahren charakterisiert Benjamin dieses als eine kollektive, populäre und profane Form, die fähig ist, den Mythos aufzulösen. Noch in seinem "Erzähler"-Essay (1936) fasst Benjamin das Märchen als die älteste Erzählform, die immer in der Lage war, Menschen Rat zu geben und sie zu lehren, wie man sich mit "List und Übermut" vom "Alptraum des Mythos" bzw. aus den "Gewalten der mythischen Welt" befreien kann. Dem Märchen gelingt dies, indem es von einer Beziehung zwischen Mensch und Natur ausgeht, die nicht auf Angst und Beherrschung, sondern auf "Komplizität" beruht. Im Licht dieser Begriffskonstellation, die Benjamins historisch-anthropologischem Materialismus eigen ist, möchte der vorliegende Beitrag einige Stücke des Buches "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" (1933–1938) wie "Tiergarten", "Steglitzer Ecke Genthiner", "Das Karussell" neu deuten. Dabei soll gezeigt und begrifflich entfaltet werden, wie Benjamin in der literarischen Aufarbeitung seiner eigenen, von einem bestimmten Ort ihren Ausgang nehmenden Kindheitserinnerungen jenes kritische Potenzial des Märchens mobilisiert und damit eine Zäsur schafft, die die bedrückende Gegenwart der 1930er Jahre unterbricht.
In seinen Schriften, insbesondere seinen späten des letzten Lebensjahrzehnts, prägte Stéphane Mosès die Begriffe der normativen und der kritischen Moderne innerhalb der jüdischen Tradition. Er erklärt, wie diese beiden Tendenzen im jüdischen Denken des 20. Jahrhunderts fast zeitgleich entstehen, nämlich in und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und wie zwei parallele Stränge nebeneinander bestehen. [...] Der Dialog von Benjamin und Scholem über Kafka gehört zu den bedeutenden Briefwechseln der Literaturgeschichte, vergleichbar demjenigen von Lessing und Mendelssohn über das Trauerspiel, der erst im 20. Jahrhundert, lange nach seinem Entstehen, wirklich bekannt und rezipiert wurde. Es ist ein großes Verdienst von Stéphane Mosès, diesen Briefwechsel von Benjamin und Scholem kommentiert und uns die Positionen der beiden Denker lebendig vor Augen geführt zu haben. Ich habe meinerseits versucht, im Sog dieses Briefwechsels das Wesentliche hervorzuheben, um Benjamin in die jüdische Moderne einzubetten. Dabei scheinen mir die Gedanken des "Zerfallsprodukts der Weisheit" und des "Gerüchts von den wahren Dingen" sowie auch der einer "theologischen Flüsterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht" die Diagnose vom Traditionszerfall in der jüdischen und nicht jüdischen Moderne äußerst prägnant zu begleiten.
Im Folgenden möchte ich dem Zusammenhang des Vielen als einer sozialen Frage nachgehen. Mit dem sozialhistorischen Wandel im 18. Jahrhundert, der langfristig auf eine bürgerliche Gesellschaft hinausläuft, ändern sich auch die zwischenmenschlichen Verbindlichkeitsformen. Die Literatur um 1800 verhandelt diese Veränderungen intensiv - exemplarisch und hervorgehoben gilt dies für die Frühromantik. Ich begreife die Frühromantik zugleich als eine literaturhistorische wie auch als eine soziale und soziologische Erscheinung. Letzteres ernst zu nehmen heißt, sie einerseits als ein "Phänomen gesellschaftlicher Gruppenbildung" in einer sozialhistorischen Umbruchsphase zu verorten, andererseits ihren Beitrag zu einer modernen Theorie des Sozialen herauszustellen. Hieran schließt mein Befund an, dass die Frühromantik gleichzeitig ein modernes literarisches und ein soziales Formenwissen ausbildet. In der Frühromantik, so lautet die These, sind Poetik und Sozialität untrennbar verschränkt - eine Verschränkung, für die ich den Begriff der Soziopoetik vorschlage. These und Begriff werden am Zusammenspiel von Fragment und Geselligkeit entfaltet. Es geht um die Vergleichbarkeit der Strukturen von Fragmentpoetik und sozialer Assoziation, nämlich um Formen des Bündelns und der Bezugnahme auf andere/s. Im Fall von Fragmenten kann man gattungspoetologisch mit Blick auf die organisierende Kraft und Bindekunst der Text-Vielheiten, die im Zeichen der experimentellen Sozialität steht, von einer poetischen Vergesellschaftung von kurzen Einzeltexten sprechen: von geselligen Texten. Während Kurzgattungen um 1800, insbesondere der Aphorismus, bislang im Rahmen einer "explorative[n] Wissenspoetik" gelesen wurden, wird hier vorgeschlagen, den Experimentcharakter der Gattungen epistemologisch und sozial zu verstehen. Ausgehend von der Beziehung zwischen Fragment und frühromantischer Geselligkeit widmet sich der Beitrag der poetischen Verfasstheit von Sozialität. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht Friedrich Schleiermachers "Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" (1799). Schleiermachers Geselligkeitsanalyse interessiert als Modelltext, der ein doppeltes soziopoetisches Wissen entfaltet: Wichtigkeit der Äußerungsform zum einen, Gemachtheit sozialer Ordnung zum anderen. Leitend ist die Problemstellung, wie (soziale) Vielheit um 1800 organisiert ist. Diese Frage wird entlang dreier Parameter verfolgt: Ein- und Ausschluss, interne Organisation, Kunstwerkcharakter und Zeitlichkeit sozialer Ordnungen. Zunächst wird in einem begrifflichen und historischen Vorlauf die 'Assoziation' als ein Schlüsselphänomen der Epoche und die Frühromantik als soziales Versuchslabor beschrieben.
Schriftsteller, die in ihren poetischen oder philosophischen Texten die Kunst des Zitierens kultivieren, können auf eine lange literarische Tradition zurückblicken, denn seit den Anfängen der literarischen Überlieferung stellt das Zitieren eine zentrale Kulturtechnik dar. Bevor im folgenden Beitrag die Frage nach einer 'Poetik des kreativen Zitats' in den Texten von Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts näher erörtert werden soll, bietet es sich daher an, einen selektiven Blick auf die Vorgeschichte der gegenwärtigen poetischen Zitiertechniken zu richten.
While Freud regularly discusses the Oedipus complex in the context of the Sophoclean tragedy, the founding document of the psychoanalytic theory of narcissism lacks any trace of the mythological substrate. Both Narcissus, who contributed no less than his name to the psychic phenomenon of narcissism, and Ovid, in whose Metamorphoses the most elaborate and effective elaboration of the myth of Narcissus is laid down, form a conspicuous blank space in Freud's 'Introduction to Narcissism'. This article will attempt to explain this lack of tradition and, in addition, discuss the figure of Pygmalion as a productive form of narcissism that can supplement Freud's theory.
Cet article s'intéresse à la collaboration entre le poète Carl Spitteler, l'ancien détenu C. A. Loosli - surnommé le "Philosophe de Bümpliz" - et Jonas Fränkel, brillant spécialiste de la littérature originaire de Pologne. À travers leurs attitudes et leurs ambitions artistiques, ces individualistes et libres penseurs intellectuellement indépendants se sont opposés aux principales forces culturelles et politiques de la Suisse (allemande). Celles-ci ont toutefois réussi à écarter le professeur Fränkel, chargé par Spitteler de l'édition de ses oeuvres, et à le déposséder littérairement. Le conseiller fédéral conservateur Philipp Etter a joué un rôle déterminant dans ce processus. L'injustice commise à l'encontre de Spitteler et de Fränkel est toujours d'actualité. Aujourd'hui, un travail de réparation devrait être pris en charge par la germanistique et la politique.
Rüdiger Campe argumentiert für die Kontinuität der Rhetorik über die Zäsur von 1800 hinweg. Gegenläufig zu Martin Urmann setzt er jedoch an der bei Descartes und Lamy abgewerteten Übung an, die im Zuge der Bildungsreform endgültig von der Bildfläche verschwunden schien. In der Moderne knüpft allenfalls Raymond Queneau mit seinen "Stilübungen" (1947) an die sich in der französischen Tradition länger erhaltene Praxis an, aber das wohl eher unter ästhetischen als rhetorischen Gesichtspunkten. Dass die Überführung schulischer Übungen in ästhetische Verfahren und stilistischen Ausdruck im modernen Sinne einen Zusammenhang bilden könnten, den Baumgartens Ästhetik von 1750 noch einmal pointiert, war trotz der jüngeren Forschung zu Baumgarten, die seine Bedeutung für das Fortleben der Rhetorik in der Moderne immer wieder hervorgehoben hat, allenfalls zu ahnen. Der Zusammenhang war gleichsam blockiert durch die historische Zäsur, die Rhetorik von Stil trennt, denn in der Folge hat Stil es nicht mehr mit rhetorischen Regeln, sondern mit Dialektiken von Norm und Abweichung zu tun. Diesen ganzen Bereich nennt Campe die taxonomische Dimension des Stils. Und sie trägt auch Verantwortung für die im 20. Jahrhundert notorische Inkriminierung von Stil als verkapptes Machtinstrument. Sehr deutlich wird diese Abwehr beispielsweise an Theodor W. Adornos gespaltenem Verhältnis zum Stil. Campe ergänzt die taxonomische Dimension des Stils um eine praxeologische - prominent verkörpert im Begriff der Schreibszene - die direkt aus der rhetorischen Praxis kommt. Was später Stil sein wird, ist in der Rhetorik nicht in den Regelwerken, weder in der Tropenlehre noch in den 'genera dicendi' zu suchen, sondern in der Praxis, die 'hexis' heißt und eigentlich das Wesen der Rhetorik ist. Dem Eindruck eines radikalen Bruchs entgegen hat das Üben nicht aufgehört und insistiert noch dort, wo es mit 'Werken' im modernen Sinne um etwas anderes zu gehen scheint.