BDSL-Klassifikation: 01.00.00 Allgemeine deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > 01.08.00 Zu einzelnen Germanisten, Literaturtheoretikern und Essayisten
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Im Folgenden ist also zu klären:
1. warum die Romantiker mit ihrer Entdeckung, dass die Idee der Poesie Prosa sei, eine poetische Forminnovation in zweierlei Hinsicht angestoßen haben, und zwar einmal im Bereich der schreibpraktisch relevanten Poetisierung der Prosa und Prosaisierung der Poesie und zweitens im Bereich der ,Wiederaufbereitung' vergangener Poesie.
2. warum der kritischen Darstellung des prosaischen Kerns im Werk als eines "ewig nüchternen Bestandes" ästhetische und religiös-mystische Implikationen zukommen.
3. warum die Entdeckung, dass die Idee der Poesie Prosa sei, diagnostischen und resistenten Wert für die eigene Gegenwart Benjamins hatte und daher seine Fortsetzungsarbeiten (d.h. der Wahlverwandtschaften-Essay und Dichtung und Wahrheit) nachhaltig prägte.
Welttexte und Textwelten
(2008)
[Es ist] üblich, zu Beginn der Tätigkeit als Professor eine Antrittsvorlesung zu halten. Nach den Regeln der deutschen Wortbildung müsste dann die letzte Vorlesung die Abtrittsvorlesung sein. Wir kennen das Verbum antreten und das Verbum abtreten; durch die semantisch oppositiven Präfixe bilden auch die beiden Verben eine semantische Opposition. Man möchte annehmen, dass dann die impliziten Ableitungen von den beiden Verben, die Nomina actionis Antritt und Abtritt ebenfalls eine semantische Opposition bilden. Dass dem nicht so ist, hat seine Ursache in der oft zu beobachtbaren Tatsache, dass sprachliche Systeme nur ganz selten symmetrisch strukturiert sind.
Als Rückseite des Erzählens ist das dynamisierte Unbewußte deessentialisiert und in gewissem Sinne deterritorialisiert. In dieser Hinsicht ist die Allegorisierung des Unbewußten als dem Verschütteten, das es auszugraben gilt, gerade nicht zutreffend. Das Erzählmodell, das dieser Erzählung zugrunde liegt, ist aber andererseits nur die Quintessenz des 19. Jahrhunderts, weil es zugleich auf eine restlose Essentialisierung und Reterritorialisierung hinausläuft. Das Verschüttete, das wiedergewonnen werden muß, ist ja die tote schwesterliche Geliebte als das globale Signifikat, auf das alle Signifikanten, alle Fehlleistungen verweisen (und das den Rückseiten des Erzählens allemal ein Ende setzt).
Wenn ich im folgenden markanten Zeit- bzw. Kulturdiagnosen in einigen Texten Enzensbergers nachgehe, dann geschieht dies in dem Bemühen, nicht nur einzelne Themen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz aufzugreifen und zu rekonstruieren, sondern sie im Rahmen von Enzensbergers Selbstverständnis als Intellektueller und Essayist zu erörtern. […] Als unabhängiger, frei denkender Schriftsteller fühlt er sich weder einer philosophischen oder wissenschaftlichen Theorie noch einer politischen Fraktion auf Dauer verpflichtet, und in diesem Weder-Noch hat der Essay als Form seinen traditionellen Ort.
[Es] sollen hier einige wenige repräsentative Momente der Konstellation von Erinnerung und Bildlichkeit in das Blickfeld gerückt werden. In diesem Zurückrufen einiger Motive, das ein Offenes bleiben muß, sollen sich wesentliche Züge der Beziehung von Erinnerung und Bild bei Heidegger herauskristallieren, um diese Begriffe in seinem Denken in einem etwas weniger rätselhaften Lichte erscheinen zu lassen. Unter dem Gesichtspunkt dieser Beziehung läßt sich möglicherweise auch Heideggers ebenso grundsätzliche wie apodiktische Behauptung nachvollziehen, "vielleicht ist 'das Denken' stets 'Andenken'". So ließe sich für sie im Sinne einer Heideggerschen Erörterung unvorgreiflich ein Ort finden.
Der Briefwechsel [zwischen Mann und Adorno] bietet […] im Kontext der Adornoschen Ästhetik sowie später Erzählungen und Romane Thomas Manns eine hervorragende Möglichkeit, die Arbeit am Spätwerk nachzuvollziehen und als Auseinandersetzung mit dem Alter zu diskutieren. Insbesondere erlauben es die umstrittene Erzählung "Die Betrogene" (1952) und Adornos diesbezügliche Interpretation, die Konstellation von Alter, ästhetischer Theorie und literarischem Schreiben zu diskutieren.
Der folgende Beitrag richtet sich gegen einen allzu häufig alltagssprachlich und unreflektiert bleibenden Identitätsbegriff und entwickelt aus der Betrachtung der Autobiographie unter konsequenter Einbindung identitätstheoretischer Grundannahmen einen Zugriff, der die Faktizität der Autobiographie aus dem textuellen Identitätsbildungsprozeß heraus erklärt. Als Textgrundlage wurde ein relativ aktuelles Beispiel gewählt, in dem sowohl die Faktenlage als auch die Identität des Autobiographen gleichermaßen prekär erscheinen: Jens Biskys "Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich".
Wendelin Schmidt-Dengler [...] gilt als Erneuerer der österreichischen Germanistik. Er war der Leiter des Instituts für Germanistik der Universität Wien und des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek. Er war Ehrenvorsitzender der Heimito von Doderer-Gesellschaft und wissenschaftlicher Leiter des Thomas-Bernhard-Privatarchivs. Er hat die Werke von Heimito von Doderer, Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Albert Drach und Thomas Bernhard in kommentierten werkkritischen Ausgaben neu heraugegeben.
Am 16. April 2019 starb unser hervorragender Kollege und Freund, Literaturwissenschaftler, Hochschulpädagoge und Literaturübersetzer, Dr. habil. Milan Žitný, PhD. Der Absolvent des Studiums der Germanistik und Nordistik an der Philosophischen Fakultät der Comenius-Universität Bratislava begann seine wissenschaftliche Laufbahn als Mitarbeiter des Instituts für Weltsprachen und Literatur an der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. Hier promovierte er mit einer Dissertation über junge nonkonformistische DDR-Lyrik.
"Gracián ist nicht nur ein großer Autor, sondern gerade heute [1928] einer der interessantesten.«"Dieses Bekenntnis Walter Benjamins zur Aktualität des spanischen Autors gilt es ernst zu nehmen. Ziel dieses Buches ist es, Benjamins Gracián-Lektüre im Kontext der deutschen Auseinandersetzung mit dem Barock in der Moderne zu verorten und dabei die zentrale politische und theoretische Bedeutung von Graciáns Klugheitslehre in Benjamins Schriften aufzuzeigen. Gracián ist nicht nur eine der Quellen der anthropologischen Ausrichtung von Benjamins Aphorismen, sondern dessen Schriften stellen auch ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Trauerspielbuch und Benjamins Produktion der dreißiger Jahre dar. Die Auseinandersetzung mit Gracián führt Benjamin zu einem neuen Konzept einer wirksamen Schreib-Praxis sowie einer politisch wirksamen Schrift.
Double blind - psychogene und psychosomatische Sehstörungen nach Sigmund Freud und Georg Groddeck
(2019)
Die Psychoanalyse des frühen 20. Jahrhunderts nahm in ihren Überlegungen Sehstörungen zum Anlass, um das Funktionieren des gesunden Auges, vor allem aber die Funktionsweisen der menschlichen Psyche zu thematisieren. Anne-Kathrin Reulecke zeigt, dass sowohl Sigmund Freud als auch Georg Groddeck davon ausgingen, dass das Sehen keine rein physiologische Fähigkeit, sondern vielmehr eine psychologisch sowie sozial und kulturell präfigurierte Aktivität ist. Sie legt dar, dass Freud eine nichtorganisch bedingte Sehstörung, die sogenannte hysterische Blindheit, als Effekt eines innerpsychischen Triebkonflikts und als dessen gleichsam neurotischen Ausweg deutet. Groddeck hingegen bestimmt das gesunde Auge als Organ eines grundlegenden Nicht-alles-sehen-Könnens. Die Kurzsichtigkeit betrachtet er als sinnvolles Hilfsmittel des Körpers, das dann eingesetzt wird, wenn die normale Tätigkeit des Verdrängens beim Sehen, die Selektion gefährlicher Bilder, nicht ausreichend funktioniert.
Mit der Verzeitlichung und Dynamisierung der Geschichte der Moderne geht die Proliferation von Epochenkonstruktionen einher, in denen das Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft jeweils neu verhandelt wird. Unter dieser Perspektive rückt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Daniel Weidner (Universität Halle) den Begriff der Tradition ins Blickfeld. Ausgehend von einem Resümee von Arbeiten zu dessen Erforschung, die zeigen, wie höchst fragil und vieldeutig der Begriff der Tradition in der Moderne ist, plädiert Weidner für eine metaphorische Perspektive, die er am Beispiel einiger Autoren exemplarisch entwickelt. Dabei geht es um die unbegriffliche und figurale Funktion von 'Tradition', also darum, die Bedeutungs- und Diskursverschiebungen sichtbar zu machen, die sich im Wechsel der Parallel- und Leitbegriffe (statt Tradition zum Beispiel auch Geschichte, Gedächtnis, Kultur) und Hintergrundmetaphoriken (Kette, Strom, Ordnung, Wellenschlag) manifestieren. 'Tradition' erscheint als Kollektivsingular in Spannung zu den verschiedenen Traditionen (inklusive ihrer jeweiligen Praktiken der Überlieferung) sowie als Gegenbegriff zur Moderne, die sich zwar normativ als Überwindung der Traditionen begreift, dabei zugleich aber permanent Anstoß zur Bewahrung oder Neuerfindung von Traditionen gibt.
Während alle vom Klima sprechen, scheint mit dem Anbruch des Anthropozäns die Zeit der Natur passé. Doch ohne den Begriff der Natur wäre ein Großteil der modernen Philosophie nicht zu denken. Hanna Hamel vermittelt in ihrer Studie zwischen historischen Positionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und ökologischen Theorien der Gegenwart. Ihre Lektüre ausgewählter Texte von Kant, Herder und Goethe entwickelt Grundzüge eines historisch-theoretischen Selbstverständnisses, das über die bloße Abgrenzung von "modernen" Naturkonzepten hinausführt. In der Konfrontation mit aktuellen Reflexionen von Bruno Latour, Timothy Morton und David Lynch wird ein Anliegen erkennbar, das alle Positionen verbindet. Mit Goethe lässt es sich als Darstellung und Theoretisierung "übergänglicher" Natur bezeichnen. Die historischen Texte werden zu einer kritischen Ressource für die Gegenwart.
Es sind unruhige Zeiten Ende 1918, als sich im Zuge der Revolution in Deutschland Arbeiterräte gründen. Kurzzeitiger Vorsitzender in München ist Heinrich Mann. Auch in Berlin ist mit Kurt Hiller ein 'Literat' Vorsitzender des "Rates der geistigen Arbeiter". Am 2. Dezember 1918 wendet sich Hiller resümierend in einer Rede an die Versammelten: "Seit Jahren wirken wir Aktivisten durch Rede und Schrift für die Politisierung des Geistes und für die Vergeistigung der Politik." Hiller bedient sich mit diesem Chiasmus zweier markanter Begrifflichkeiten: dem "Geist" als Schlagwort der literarischen Gruppe des Aktivismus, der Kurt Hiller und Heinrich Mann angehören, sowie der "Politisierung", als Schlagwort einer vor allem während des Ersten Weltkriegs geführten und sich ab 1918 abschwächenden Debatte über das Verhältnis von Kunst und Politik. An diesen Chiasmus Hillers und die damit verbundene Debatte wird Walter Benjamin 1935 in den ersten beiden Fassungen seines "Kunstwerkaufsatzes" anschließen, wenn er darin von der Ästhetisierung der Politik und der Politisierung der Kunst spricht. Die Bezugnahme darauf tritt allerdings in den späteren, veröffentlichten Fassungen zusehends in den Hintergrund.
Although Alexander von Humboldt is well known for his major impact on the development of new scientific knowledge and the rise of disciplines such as Geography and Ecology, his critical reflections on languages from a scientific point of view, as well as from an aesthetic perspective, still receive little attention. New research has shown that von Humboldt's writings on the languages of indigenous people may well be considered the beginning of anthropological-comparative linguistics. This article outlines the significance of von Humboldt's aesthetics of language in his own scientific texts. He explores the different dimensions of sound landscapes, combinating scientific description in prose and the sound of the indigenous terms. By this strategy, he connects different forms of "text islands" ('Textinseln') in order to create an intratextual web of knowledge archipelagos based on his concept of a science which refers to the senses ('sinnliche Wissenschaft'). The polyphonic structure of his writing opens up a collage of natural musical arrangements of animal and human sounds, fused into a common language of life forms bound together by the "phonotextual" soundscape of his writing skills. By merging epistemic and aesthetic forms, he creates a symphony of life between art, science, and nature.
Ausgehend von Benjamins Analogie von Nervenbahn und elektrischer Leitung konzentriert sich der Beitrag auf eine der wichtigen Fragen, die im "Passagen-Werk" behandelt werden, nämlich ob mit der modernen Technik eine Verbindung von organischer und technischer Sphäre vorliegt oder ob die Technik vielmehr als eine denaturierte Natur anzusehen ist. Um diesem Aspekt nachzugehen und die Besonderheit von Benjamins technikphilosophischen Reflexionen herauszustellen, vergleicht Wolfsteiner sie mit Hannah Arendts Handlungstheorie und Max Benses Entwurf einer informationstheoretischen Ästhetik. Die Aktualität von Benjamins Techniktheorie wird abschließend anhand der Science and Technology Studies (STS) in der Nachfolge Bruno Latours und der technikphilosophischen Schriften Gilbert Simondons erörtert.
Der Philosoph Hent de Vries untersucht das Verhältnis von Technik und Religion in Benjamins Text "Rastelli erzählt". Im Zentrum der Interpretation steht die Erfahrung des Wunders, die Benjamin häufig in einen Zusammenhang mit technischen Apparaturen bringt. "Rastelli erzählt" behandelt das Verhältnis von Religion und Materialismus mit erzählerischen Mitteln. Die Unmöglichkeit, die Entstehung des Wunders und das Wunder selbst zu erklären, steht ihm zufolge im Zentrum von Benjamins Überzeugung, dass Religion und Materialismus sich nicht ausschließen müssen. Im Gegenteil. Vielmehr steht die Unauflösbarkeit des Wunders bei Benjamin paradigmatisch für die moderne Erfahrung von Religion, die keine Antworten mehr gibt, sondern neue Fragen aufwirft.
Der Medienwissenschaftler und Philosoph Markus Rautzenberg untersucht in seinem Beitrag die Denkfigur des Indexikalischen. Er vergleicht dazu Benjamins Überlegungen zur Bildlichkeit mit Hans Blumenbergs Reflexionen über die Vergleichbarkeit von fotografischer Belichtung und Begriffsbildung, Charles Sanders Peirce Semiotik und Ernst Jüngers Essays "Über den Schmerz". Benjamins theoretische Aussagen zur Fotografie oszillieren nach Rautzenberg zwischen dem Ideal einer mechanischen Objektivität und einer neuplatonischen Blendungsmetaphysik. Anhand von Benjamins Texten historisiert Rautzenberg den Gegensatz von 'Magie' versus 'Technik', um zu zeigen, dass diese Unterscheidung erst mit dem Aufkommen der Fotografie denkbar wird.
Der Literatur- und Medienwissenschaftler Tobias Wilke widmet sich in seinem Aufsatz der in der Forschung bislang unbeachtet gebliebenen Beziehung von "Aura" und "Medium". Dem Begriff des technischen Mediums, so Wilke, liegt ein nicht-technisches Konzept von Medialität zugrunde, das sich in enger Korrelation und Konvergenz mit dem Aura-Begriff herausbildet. Die Aura ist die sichtbare Umhüllung eines Objekts und damit ein Phänomen der optischen Wahrnehmung, in der die Konturen des Gegenstandes aufgelöst werden, wie Benjamin am Beispiel von Van Goghs "De sterrennacht" ausführt. Wilke verortet Benjamins Kunstwerk-Aufsatz an einer medienhistorischen Zäsur, die den Übergang von einem spiritistischen zu einem technologischen Verständnis von Medialität markiert.
Der Literatur- und Medienwissenschaftler Michael W. Jennings stellt in seinem Aufsatz die Bedeutung des theologischen Konzepts der 'apokatastasis' in Benjamins Texten heraus, das sich auf Origines' Lehre von der Wiederherstellung der Dinge am Ende der Zeiten bezieht. Nach Jennings basiert Benjamins Vorstellung, dass es in der Gegenwart noch keine Religion geben kann, auf der Überzeugung, dass die Bedingungen für die Möglichkeit von Religion erst nach dem Ende der Geschichte gegeben sind. In einem zweiten Schritt geht er den verborgenen Spuren des Konzepts der 'apokastastasis' in Benjamins medientheoretischen Schriften nach. Er zeigt, wie die im Kunstwerk-Aufsatz artikulierte Hoffnung, dass die vom Kapitalismus deformierten Wahrnehmungsformen durch eine revolutionäre Veränderung der Wahrnehmung zerstört und durch eine neue Sicht auf die Welt ersetzt wird, auf die Idee der 'apokastasis' zurückgeführt werden kann.
Der Philosoph und Komparatist Peter Fenves befasst sich in seinem Aufsatz mit Benjamins Ideen zur Wissenschaftspopularisierung und seiner Auseinandersetzung mit der theoretischen Physik. Er widmet sich insbesondere Benjamins Verteidigung der in Misskredit stehenden Wissenschaftspopularisierung, die eine neue Bedeutung und Funktion erhalten soll. Die latenten Bezüge zwischen Philosophie und theoretischer Physik zeigt Fenves am Beispiel des in der Quantenphysik verwendeten Begriffs der "Verschränkung" auf, der das Pendant zu Benjamins Begriff der "Aura" darstellt und zur gleichen Zeit von Heidegger verwendet wird.
In seinem Aufsatz rekonstruiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Nicolas Pethes die Verwendung des Experimentbegriffs in Benjamins Schriften und verfolgt seine Entwicklung von dessen frühen Untersuchung "Über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" bis zum "Passagen-Werk". Dabei soll nicht nur die Bedeutung der Idee des Experiments, sondern auch der experimentelle Charakter von Benjamins eigener Schreibweise herausgearbeitet werden. Das Experiment, das eng verwandt ist mit Test und Spiel, ist Teil einer Darstellungsstrategie, mit der Benjamin die Diskontinuität der Kunst- und Gesellschaftsgeschichte beschreiben will.
Die Wissenschaftshistorikerin Jimena Canales setzt Benjamins Kunstwerk-Aufsatz und die "Kleine Geschichte der Photographie" in ihren wissenschaftshistorischen Kontext. Seine Reflexionen zur Fotografie stehen, so Canales, paradigmatisch für eine veränderte Wahrnehmung der Fotografie, die von den Zeitgenossen nicht länger als originalgetreue, sondern künstliche Abbildung der Wirklichkeit angesehen wird. Benjamins Analogie von Fotografie und Psychoanalyse nimmt Canales zum Anlass, die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft und die damit verbundene strikte Abgrenzung von hermeneutischen und experimentellen Methoden in Frage zu stellen.
Ausgehend von Benjamins Texten erörtert die Wissenschaftsphilosophin Christine Blättler das in den Science Studies diskutierte Verhältnis von Genesis und Geltung und die damit verbundene Frage hinsichtlich der angemessenen Darstellungsweise von Erfahrung unter epistemologischen und sozialphilosophischen Gesichtspunkten. Sie geht dabei vom New Experimentalism aus, welcher sich gegen den in der Wissenschaftstheorie lange Zeit vorherrschenden Primat der Theorie wendet. Dem Experiment wird dabei eine autonome und objektive Funktion in der Wissensgenerierung zugesprochen. Diese Hinwendung zum Experiment steht zugleich für eine Abwendung vom Subjekt und für eine verstärkte Zuwendung zu dem, was sich als eine aperspektivische Objektivität bezeichnen ließe. Blättler setzt an diesem Punkt an, um mithilfe von Benjamins Begriff der Konstellation und seinen Überlegungen zum Erfahrungs- und Wahrnehmungswandel zu einer flexibleren Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Objekt, Technik und Subjekt zu gelangen, die es erlaubt, den Gegensatz von Genesis und Geltung zu überwinden.
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Kyung-Ho Cha widmet sich in seinem Beitrag Benjamins Reaktion auf die Entdeckung der Kernspaltung im Jahre 1938. Den Ausgangspunkt des Aufsatzes bildet der Vergleich zwischen der Methode, die seiner Arbeit am Passagen-Werk zugrunde liegt, und der "Methode der Atomzertrümmerung", womit er sich auf die Kernspaltung bezieht. Im Aufsatz wird gezeigt, wie Benjamin mit dem Begriff aus der Kernphysik die in der Geschichte verborgenen und unsichtbaren Energien zu erfassen versucht.
Walter Benjamin fordert, die "undialektische Trennung zu überprüfen, die man zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu etablieren suchte". Damit beabsichtigt er, die Geisteswissenschaften zu modernisieren, deren wahre Bestimmung er in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Phänomenen der Gegenwart sieht. Im Aufsatz wird gezeigt, dass Benjamin die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft mithilfe der dialektischen Methode, die er dem historischen Materialismus entlehnt, zu überwinden beabsichtigt. Anstatt eines unversöhnlichen Gegensatzes geht er von einer Dialektik von Natur- und Geisteswissenschaften aus.
Baudelaire, Benjamin - zwei geistesgeschichtliche Großreignisse, mit denen allein man einmal Semester von Seminaren, Seiten von Dissertationen, Jahre in akademischen Lebensläufen füllen konnte. Ganze Bibliotheken und Ästhetiken der Moderne liehen sich von dieser Korrespondenz her schreiben, von der Vorwegnahme einer ästhetischen Moderne durch Baudelaire und ihrer Radikalisierung durch Benjamin. Allein, was zwischen diesen beiden Eckpfeilern der ästhetischen Moderne geschah, läßt sich auch anders als auf den unverschlungenen Wegen einer Literaturgeschichte erzählen. Denn tatsächlich arbeitete Benjamin nicht mit Geschichten, sondern mit Maschinen; tatsächlich war, was zwischen den beiden großen B.'s der ästhetischen Moderne geschah, eher ein Kurzschluß oder eine Rückkopplung innerhalb einer Deutungsmaschine als eine gepflegte Geschichte der Literatur. Die Maschine hieß "Passagen-Werk", Baudelaire ihr vorzüglichster (oder wenigstens vollendetster) Gegenstand.
Fertig ist das Angesicht.
(2017)
In Bettines Titeln und Texten feiern Satzzeichen große Feste. Bindestriche, Gedankenstriche, Schrägstriche, Kommata, Ellipsen, Parenthesen machen sich zu schaffen - und ihr auch. Freigesetzt in ihr Tun und Lassen kommen sie in Schwung und intellektuell auf die Höhe, pfeifen auf Stimme und Schrift. Ein Komma im Frack lässt sich nicht blicken, aber mit Stifter wird man angesichts des entfesselten Kalküls der Satzzeichen sagen dürfen: "Es ist das kleinste Satzzeichen ein Wunder, das wir nicht ergründen können. Daß es ist, daß seine Teile zusammenhängen, daß sie getrennt werden können, daß die Teilung fortgesetzt werden kann, und wie weit, wird uns hienieden immer ein Geheimnis bleiben." Eigenmächtig setzt es Zeichen, die den Satz sperren oder stauen, ihn fluten oder dehnen, auch verrätseln. Und manches trägt dann ein Gesicht zur Schau. Der ernste Gedankenstrich in Theodor Storms Novellistik erschien Theodor W. Adorno als "Falten auf der Stirn der Texte" in seinem 1956 in der Zeitschrift "Akzente" erschienenen Essay "Satzzeichen". [...]
Mitteilungen
(2014)
Ernst Zinn begann in den 30er Jahren mit der Konzeption einer philologisch einwandfreien Werkausgabe und wurde damit zum "Begründer der Rilke-Philologie", wie Michael von Albrecht es in seinem Nachruf auf Ernst Zinn 1990 formuliert hat. Doch was war es, was Ernst Zinn an Rilke fasziniert und an ihn gebunden hat? Schließlich wählte er nicht die Germanistik zu seinem eigentlichen Beruf, sondern wurde 1936 mit einer Arbeit zum "Wortakzent in den lyrischen Versen des Horaz" promoviert. Horaz und Rilke - bei aller Vielfalt im Werk Ernst Zinns bilden sie doch so etwas wie die Brennpunkte seines Schaffens. Was ist es, was ausgerechnet diese beiden Dichter verbindet?
Zu den Vordenkern der Neuen Linken zählt Herbert Marcuse mit seiner weit verbreiteten, aber nicht ganz unumstrittene Theorie vom eindimensionalen Menschen. Roman Kowert untersucht in seinem Beitrag die Auseinandersetzung Marcuses auch mit Heidegger und Freud und seine damit verbundene "Intention einer Revitalisierung des Marxschen theoretischen Erbes", die für die Diskurse der 68er bedeutsam war.
Säkularisierung
(2014)
Blumenbergs Kritik an der Kategorie der Säkularisierung hat schon zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit erfahren und wird bis heute mit seinem Namen verbunden. Sie betrifft verschiedene für Blumenbergs Werk zentrale Problemzusammenhänge: die Deutung der Neuzeit ebenso wie die Logik historischer Entwicklungen, die Erörterung rhetorischer Funktionen von Theorie ebenso wie die Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus. Im weiteren Sinn steht Blumenbergs Krititk der Säkularisierung dabei im Kontext der in der Forschung höchst kontrovers diskutierten Frage, welche Bedeutung seiner gleichermaßen konstanten wie kritischen Bezugnahme auf die religiöse Tradition und auf theologische Diskurse für sein Denken zukommt.
Ende
(2014)
Das Ende ist einer der Orte, an denen sich bei Blumenberg verschiedenen Argumente und Diskurse auf höchst spannungsreiche Weise verbinden und an denen sich daher zeigen lässt, dass sein Denken nicht in der einen oder anderen These aufgeht, sondern gerade auf die Verbindung abzielt. Wenn er etwa einmal seinen eigenen Ansatz als "Phänomenologie der Geschichte" charakterisiert, so zeigt die Frage nach dem - zugleich denknotwendigen und unzugänglichen - Ende der Geschichte, wie wenig selbstverständlich jene Zusammensetzung von Phänomenologie einerseits, Geschichte andererseits ist. Sie impliziert nicht nur, auch nach dem Ende der Geschichtsphilosophie über das Ganze der Geschichte nachzudenken, sondern emphatisiert auch die Erinnerung als die zentrale Fähigkeit, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen.
Die folgende Auseinandersetzung mit der "Wahlverwandtschaften"-Abhandlung versteht sich nicht allein als Beitrag zur Rezeption Benjamins in der Literaturwissenschaft, zumal diese von Burkhardt Lindner und Vivian Liska bereits auf umfassende Weise nachgezeichnet worden ist. Ihr geht es vielmehr darum, in der kritischen Auseinandersetzung mit dem zwiespältigen Echo, das Benjamin in der Literaturwissenschaft gefunden hat, eine poetologische Dimension in seinen Schriften aufzuweisen, die in der doppelten Bedeutung als Theorie und Praxis der Dichtkunst noch heute für die Literaturwissenschaft wie die philosophische Ästhetik von Bedeutung ist. Wie zu zeigen sein wird, sind Benjamins "Wahlverwandtschaften" für die Philologie wie die Philiosophie noch immer zu entdecken.
Den folgenden Ausführungen geht es nicht primär um eine Exegese des Trauerspielbuches und auch nicht um die traurige Geschichte seiner Rezeption, die Klaus Garber und Uwe Steiner an anderer Stelle dargestellt haben. Sie zielen eher darauf ab, aus Benjamins Denken relevante und immer noch kaum abgegoltene Perspektiven für das Verstehen des Barock zu erarbeiten und insbesondere eine Alternative zur weitgehenden Verdrängung oder Einhegung der Religion in der literaturwisenschaftlichen Erforschung der frühen Neuzeit zu entwickeln. Denn Benjamins Überlegungen zur Kratürlichkeit, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen des Trauerspielbuches finden, stellen das freilich problematisch gewordene Religiöse präzise in das Zentrum der barocken Spiegelstruktur.
Rezension zu Karl August Varnhagen von Ense/Heinrich Düntzer: "durch Neigung und Eifer dem Goethe'schen Lebenskreis angehören": Briefwechsel 1842-1858. Herausgegeben von Berdt Tilp. Teil 1: Einführung und Text. Teil 2: Kommentar (Forschungen zum Junghegelianismus, hrsg. v. Konrad
Feilchenfeldt und Lars Lambrecht, Band 7), Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/Main 2002
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
An dem Schulmann Viehoff zeigt sich, inwiefern bereits in der Frühzeit der Neuphilologie die kritische Aufbereitung von Klassikern der Weltliteratur nationalen Deutungsmustern unterliegt. Der Zwiespalt zwischen universalem Anspruch und nationalem Standpunkt manifestiert sich - dies möchte der vorliegende Beitrag zeigen - in der Übersetzung von Racines Dramenwerk, die zwischen 1842 und 1846 zuerst erschien und drei Jahrzehnte später erneut aufgelegt wurde.
Rezension zu Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Sophie von La Roche - Friederike Brun - Johanna Schopenhauer (= Rombach Wissenschaften. Litterae; Bd. 122), Freiburg/Brsg.: Rombach, 2005 ; Irmgard Egger: Italienische Reisen. Wahrnehmung und Literarisierung von Goethe bis Brinkmann. München/Paderborn: Fink, Verlag ; Guntram Zürn: Reisebeschreibungen Italiens und Frankreichs im Morgenblatt für gebildete Stände (1830-1850). Frankfurt/M. [u.a.]: Lang, 2008 ; Flucht ins Land der Schönheit: Briefwechsel zwischen Georg Gottfried Gervinus und Karl Hegel auf ihrem Weg aus den politischen Konflikten des deutschen Vormärz nach Italien - und zurück (1837-1839). Aus den Beständen der Universitätsbibliothek Heidelberg/Regina Baar. (Archiv und Museum der Universität Heidelberg; 14). Ubstadt-Weiher, Heidelberg, Basel: Verlag Regionalkultur, 2008 ; Brigitte von Schönfels: Das Erlebte ist immer das Selbsterlebte. Das Reisefeuilleton in deutschen Zeitungen zwischen der Revolution von 1848 und der Reichseinigung (Presse und Geschichte: Neue Beiträge; 19). Bremen: Ed. Lumière, 2005.
Inmitten der politischen Kämpfe der Revolution von 1848 muss Friedrich Engels im Herbst aus Preußen flüchten. In dieser Zeit unternimmt er eine vierwöchige Fußwanderung von Paris über Genf nach Bern. [...] Die 25 Seiten umfassende handschriftliche Reisebeschreibung "Von Paris nach Bern" befindet sich im Marx-Engels-Nachlass des Amsterdamer Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG). [...] Alles deutet darauf hin, dass Engels die Niederschrift für das Feuilleton der "Neuen Rheinischen Zeitung" vorgesehen hatte. Der leichte und bildhafte Stil, in den er seine Eindrücke über Land und Leute kleidet, sowie die darin pointiert eingebrachten politischen und ironischen Sentenzen lassen diesen Schluss zu. [...] Vertiefen wir uns in Engels' Schilderung seiner Fußwanderung, fällt sofort auf, dass er - wie für die Reiseliteratur im Vormärz charakteristisch - die vielfältigen Eindrücke über die verschiedenen Provinzen Frankreichs und die Begegnungen, insbesondere mit den Bauern, unmittelbar verbindet mit sozialen und historischen Reflexionen, einschließlich über ihre Sprache und ihre Dialekte. Er bringt seine radikale politische Sichtweise unverhohlen zum Ausdruck.
Christoph Schmitt-Maaß beschreibt, dass vor dem Hintergrund der Ideen der historischen Rechtsschule und der Studien der Brüder Grimm eine spezifische Poetologie im Gefüge von Rechtsgeschichte, Sprachwissenschaft und Nationalliteratur entsteht, die für die Herausbildung der 'Kulturnation' eine wichtige Bedeutung zukomme. Die Durchdringung von Rechts-, Wissenschafts- und Dichtersprache erweise sich an einem Kulminationspunkt der deutschen Geschichte als bewusstseinsstiftend, insofern sich noch viele Vormärzschriftsteller im Kontext von Recht, Sprache und Poesie auf von Savigny bezögen und dessen Poetologie fortschrieben, auch wenn sie längst zur Chiffre geworden sei. Schmitt-Maaß illustriert diese Wirkungsgeschichte von Savignys und der Brüder Grimm am Beispiel von Heinrich Heine und Hoffmann von Fallersleben. Während Heine eine kritische Distanz zu den rechtshistorischen Positionen der historischen Rechtsschule einnehme, begreife Hoffmann von Fallersleben, dessen liberale Auffassungen eng mit der mittelalterlichen Literatur, etwa Walthers von der Vogelweide, in Verbindung gesetzt würden, die Aufgabe von Dichtung als Politik, die sich aus der Gemeinsamkeit von Recht und Poesie im 'germanischen' Altertum ergebe. Schmitt-Maaß weist nach, wie Literatur, Literaturgeschichtsschreibung und Jurisprudenz im Vormärz zusammentreten.