BDSL-Klassifikation: 18.00.00 20. Jahrhundert (1945-1989) > 18.09.00 Stoffe. Motive. Themen
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"Noch bevor man in Europa genau wußte, wo China geographisch zu lokalisieren war, beschrieb man schon, wie es dort zuging [...]. Nicht den wahrheitsgetreuen Berichten des Marco Polo (1298), sondern den daraus zusammenphantasierten Abenteuer des Ritters Mandeville (1366) wurde Glauben geschenkt. Wer >China< beschrieb, wollte seinen Lesern vor allem ein Bild von etwas anderem vor Augen führen, wollte etwas schildern, das abschrecken oder vorbildlich sein sollte und so weit entfernt war, daß man es mangels exakterer Zeugnisse einfach glauben mußte - oder wollte. China war literarische Metapher für den Kontrast zum Abendland [...]."
Nichts ist für die heutige Situation der fiktionalen Literatur bedeutsamer, nichts greift tiefer in ihr Verhältnis zur Realität ein als die Tatsache, daß von immer mehr Menschen Selbstzeugnisse erscheinen. Briefe, Tagebücher, Memoiren, Erlebnisberichte - was lange Zeit nur von Prominenten zugänglich war, erreicht uns heute zunehmend auch von Unbekannten. Wo aber die Erlebenden selbst und unverstellt von ihren Erlebnissen berichten, sind Fiktionen überflüssig bzw. müssen, um bestehen zu können, mehr sein als biographische Mimikry. Der Roman, soweit er 'Literatur' sein will, hat darauf auch längst reagiert. Mehr denn je betont er statt seines Mitteilungs- seinen Kunstcharakter, ersetzt also seinen Mangel an originärer Information durch den immer virtuoseren Gebrauch der erzählerischen Mittel. Ob diese Entwicklung wirklich so unbegrenzt weitergehen kann, wie man derzeit noch unterstellt, kann hier offen bleiben - allzu viele folgen jenen Erzähl-Experimenten ja schon heute nicht mehr. Nur der Zusammenhang als solcher sollte unstrittig sein, zumal man ihn jüngst noch einmal wie in einer Zeitraffer- Aufnahme an dem Bedeutungsverlust beobachten konnte, den gleichsam über Nacht die DDR-Literatur erlitten hat. Lange Zeit allein erzählberechtigt (und deshalb gern für einen höheren Kulturzustand in Anspruch genommen), ist mit der neuen Mündigkeit auch sie vom authentischen Erzählen eingeholt worden, und mit jedem weiteren Bericht, der über Flucht-, Stasi- und Wende-Schicksale jetzt erscheint, wird unwahrscheinlicher, daß Romane der alten Art zu solchen Schicksalen noch entstehen.
O olhar estrangeiro
(1998)
This text tries to illustrate what we understand by strangeness, alterity and exotopy. From the point of view of a stranger, we, as Brazilians, see and read products of foreign cultures in an exotopic way, which is quite productive. The same occurs with Germans looking at US, which gives us another view of ourselves. As an illustration, the poem "calypso" from Ernst Jandl will be discussed in this context.
This text aims to describe and to discuss the two different images of Brazil present in the travel notes and in the poetry of the German writer Marie Luise Kaschnitz.
Die Zeit von etwa 1911 bis 1961 ist zugleich von einer intensiven Auseinandersetzung darüber begleitet gewesen, wie das Industriegebiet als Lebensraum zu definieren sei. Vorschläge dazu beschränkten sich nicht auf literarische Texte oder heimatselige Gedichte, sondern fanden ihre Entsprechung auch in einer Vielzahl konkreter Versuche, planend und gestaltend in diese meist als unförmig empfundene Landschaft einzugreifen. Dennoch standen sich, so wird zu zeigen sein, literarische und konkret-politische Auseinandersetzungen mit dem Ruhrgebiet gerade dort besonders nah, wo letztere erfolglos blieben. Ob sich nun ein traditionsloses Bürgertum in Ordnungsphantasien hineindachte, weil es realer politischer Handlungsfähigkeit ermangelte, oder ob sich Arbeiter in ein sozialer orientiertes Milieu phantasierten - fast immer hat die Literatur des Ruhrgebiets etwas mit Kompensation zu tun. Fast immer auch mit Zuständen, die in anderen Gegenden Deutschlands entweder nicht so akut oder aber längst selbstverständlich waren. So sehr sich im Verlauf dieses halben Jahrhunderts die Frage nach der Zukunft des Ruhrgebiets immer wieder stellte - die rückbezogene Selbstbeschau sowie die Benennung einer spezifischen Umwelterfahrung des Reviers sind zu Leitmotiven dieser Literatur geworden.
Rezension zu Elke Mehnert (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Berlin, Bern, Bruxelles, Frankfurt/Main, New York, Oxford (Peter Lang) 2001 (= Studien zur Reiseliteratur und Imagologieforschung; Bd. 5). 464 Seiten.
Das Buch vereint Aufsätze deutscher, polnischer und tschechischer Wissenschaftler zu dem Themenkomplex der literarischen Gestaltung von Flucht und Vertreibung und konzentriert sich dabei auf Schlesien, Ostpreußen, Königsberg und das Sudetenland.
The opposition city-country which appears already in Vergils Georgics and becomes very relevant in the British and French poetry of the 18th and 19th centuries, will be treated at first with regard to the German tradition of 'city-poetry'. Since about 1900 the phenomenon of the big city (metropolis) combines with demoniac and sublime motives, while French, English or American authors (Baudelaire, Wordsworth, Whitman) saw the city from a less ideological perspective. Only in the postwar-decade – after some anticipations by authors of Expressionism like Ernst Stadler or Gottfried Benn – the pluralistic, hybrid character of the city will be discovered also in German poetology. Some examples of Modern North American and Brazilian poetry will be analyzed in the last chapter of the article.
Rezension zu Axel Dunker: 'Die anwesende Abwesenheit'. Literatur im Schatten von Auschwitz, München (Wilhelm Fink) 2003. 333 Seiten.
Vom Mainzer Germanisten Axel Dunker, seit langem ein ausgewiesener Spezialist in Sachen Literatur zum "Dritten Reich", liegt nunmehr seine 2001 in Mainz eingereichte Habilitationsschrift ''Die anwesende Abwesenheit'. Literatur im Schatten von Auschwitz' gedruckt vor. Darin beschäftigt er sich mit der Frage: Wie lässt sich der Holocaust künstlerisch verarbeiten und darstellen?
Der junge Ödipus, so […] Dürrenmatt […], […] wusste, dass er als Findelkind nach Korinth gekommen war. […] Apollon[s] […] Spruch gläubig annehmend, erfüllte er in heiliger Raserei das Verheißene […]. Durch das Pestorakel […] verstand er endlich den Sinn des verhängten Schicksals […]. Im Triumph führte er den Prozess gegen sich selbst, und im Triumph verstümmelte er sich. […] Dass es sich […] um eine Mythenkorrektur handelt, ist auf den ersten Blick evident. […] Aus der Tragödie des Unwissens wird ein Drama des Wissens. […]Da für das Wirken des Schicksals […] Ödipus’ Unwissen aber konstitutiv ist, dreht sich, wenn Ödipus weiß und trotzdem handelt, die Priorität zwischen Schicksal und Wille um: Ödipus […] will das als Schicksal Verhängte erfüllen. […] Wissen statt Unwissen, Zufall statt Schicksal – so lauten die Gesichtspunkte, die den ersten Teil der folgenden Untersuchung leiten sollen. Der zweite Teil zielt auf die Bedeutung der Mythenkorrektur […]. Sieht man genauer auf die referierte Ödipus-Variante, so muss man sich Sophokles’ und Dürrenmatts Fassung als ‚mythos‘ im Aristotelischen Sinne identisch vorstellen. […] Wir stehen vor dem paradoxen Befund, dass der Mythos, obwohl er in seinem Kern verändert wird, auf seiner Handlungsgestalt beharrt, und sich […] der tragische Ausgang der Geschichte behauptet. Die alte Geschichte scheint […] einen modernen Sinn ergeben zu können, für den es genügt, die Prämissen, nicht jedoch die Fatalität des Verlaufs zu korrigieren.
Dass der Begriff 'Raum' in den gegenwärtigen Literatur- und Kulturwissenschaften eine hohe Konjunktur besitzt, belegen nicht nur Begriffe wie spatial- oder topographical turn, sondern auch eine Vielzahl von Publikationen und Tagungen, die sich mit dem Raumbegriff auseinandersetzen. Trotz dieser immensen Präsenz der Raumtheorie wird immer wieder die Frage nach deren konkreter Anwendbarkeit gestellt. Diese Frage möchte Anja K. Johannsen in einer gut zweihundert Seiten langen Monographie für die Literaturwissenschaft beantworten. Sie wählt mit W. G. Sebald, Anne Duden und Herta Müller drei AutorInnen, in deren Werken Räume nicht nur ein "Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt" entwerfen (Lotmann nach Johannsen, S. 7), sondern auch zum organisierenden Modell des Textes werden. Dies bedeutet einerseits, dass sich die jeweiligen Raumentwürfe durch eine starke Semantisierung auszeichnen und andererseits, dass die literarischen Texte "ihr eigenes Funktionieren anhand dieser Raumfigurationen" beschreiben und damit drei Varianten "literarischer Selbstreflexion" vorlegen, "die auf je sehr spezifische Weise die Potentiale der Gegenwartsliteratur ausloten." (S.7) Der aktuellen Diskussion folgend, besitzt auch Anja K. Johannsen einen dynamischen Raumbegriff, der diesen als Produkt kultureller Bezüge begreift und als "Effekte körperlicher Praktiken" (S. 17) versteht. Für die Analyse des literarischen Raumes beruft sich Johannsen vorerst im Wesentlichen auf Elisabeth Bronfen, die zwischen drei Raumkategorien innerhalb der Textwelt unterscheidet, nämlich zwischen "konkret vorhandenen, begehbaren Räumen, Raummetaphern und Texträumen." (S. 19). Sich an diesem Muster orientierend arbeitet Johannsen mit drei Analyseschritten. Im ersten Schritt wird der Bestand aufgenommen, d.h., es werden die unterschiedlichen Raumtypen verzeichnet. Dann folgt die Analyse des Raums im Hinblick auf seine Semantisierung, also auf die Frage, inwiefern der beschriebene Raum eine "Ordnung des Koexistierenden" (S. 23) liefert. Im dritten und letzten Schritt geht es um die Bedeutung des Raums für die Struktur und Ordnung des Textes, folglich um die Reflexion seines Selbstverständnisses und der ihm zugrunde liegenden Poetologie. Diese Analyseschritte erweisen sich für Johannsens Vorhaben als äußerst zielführend und ermöglichen nicht nur kenntnisreiche, sondern auch nachvollziehbare Analysen.