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Ich werde im Folgenden zeigen, daß Fontane in "Effi Briest" mittels der Raumgestaltung eine Topographie des Fremden entwirft, die mit dem Verlauf und den Krisen der dargestellten Ehe korrespondiert. Der Roman projiziert die Ehekonflikte des Paares Effi–Innstetten auf den dargestellten Raum. Er tut dies über den Gegensatz von "Natur" und "Kultur", der als kulturgeschichtliches Ordnungs- und Denkmuster die Geschlechterrollen gleichermaßen wie die Topographie strukturiert. In diesem Vorgehen gerät Fontane der Romanraum zum "Ort der Zivilisationsarbeit". Und eben darin gelangt jenes "versteckt und gefährlich Politische" zum Ausdruck, das Fontane so sehr interessierte.
Fontane, ja gewiß - aber muss es Effi Briest sein? Bietet nicht Irrungen Wirrungen die wahrere, Frau Jenny Treibel die deftigere, L'Adultera die erfreulichere Geschichte? Doch Effi Briest kennt jeder, kann jedenfalls jeder nennen, und weil Bekanntheit immer auch motiviert und diesen Roman nicht zu kennen auch wiederum zu wenig wäre, kann ruhig mit ihm der Anfang gemacht werden.
Die Familie hatte sich bemüht, alle Spuren zu beseitigen, aber heraus kam es doch. "Denke Dir", Titelso lautete ein lange unterdrückter Brief Theodor Fontanes vom 1. März 1849 an seinen Freund Bernhard von Lepel, "Enthüllungen No II; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings". Und: "Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe." Mit der Veröffentlichung 1960 wußte es also die Welt, und die Vermutungen gingen auch sofort in eine bestimmte Richtung. Da die Hiobsbotschaft Fontane als ‘Aktenstück aus Dresden’ erreicht hatte, nahm man an, daß dann nur beide Kinder aus ein und derselben Verbindung stammen konnten. Zu Dresden hatte er seit 1843, dem Ende seines Volontariats in der Salomonis-Apotheke, eigentlich keine Verbindung mehr - sollte dann nicht allein ein solches dort schon bestehendes Verhältnis zu einem weiteren Kind daselbst geführt haben?
Manche mögen noch immer für einen Scherz halten, was der knapp dreißigjährige und damals noch unverheiratete Theodor Fontane am 1. März 1849 an einen seiner Freunde schrieb, einen Scherz, weil es zu seiner sonstigen Redlichkeit und Umsicht so gar nicht zu passen scheint. "Denke Dir", schrieb er an den zwei Jahre älteren Bernhard von Lepel, 'Enthüllungen No II'; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings. Abgesehn von dem moralischen Katzenjammer, ruf ich auch aus: "Kann ich Dukaten aus der Erde stampfen usw." Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe. O horrible, o horrible, o most horrible! ruft Hamlets Geist und ich mit ihm. Das betreffende interessante Aktenstück (ein Brief aus Dresden) werd' ich Dir am Sonntage vorlegen, vorausgesetzt, daß Du für die Erzeugnisse meines penes nur halb so viel Interesse hast wie für die meiner Feder.
Meine Lektüre, die Canettis "Die gerettete Zunge" und Fontanes "Meine Kinderjahre" nebeneinanderstellt und gegeneinander führt, will nachweisen, daß beide Texte durch ein gemeinsames Bezugssystem definiert sind, durch das sie bedingt und hervorgebracht werden, das in ihnen aber auch mimetisch dargestellt ist und sich selbst thematisch wird. Die Koordinaten dieses Bezugssystems sind der Tod einerseits, die Kunst, genauer die Wirkungsmöglichkeiten der eigenen Dichterexistenz, andererseits. Beide Sujets stehen bei Fontane und bei Canetti in einem Ausschließungs- und einem Bedingungsverhältnis: der Tod, der allem Dichten ein Ende macht, ist gleichzeitig das, was den Schriftsteller dazu veranlaßt, gegen ihn anschreibend Leben in die Literatur zu retten - und damit auch, das ist der dialektische Umschlag: als Leben zu zerstören. Dieses Schreiben gegen den Tod, das Beschreiben des Todes und die Inszenierung des eigenen Dichtertums als Annihilation der Todesgefahr finden sich mit signifikanten Kongruenzen und ebenso signifikanten Inkongruenzen bei Fontane und Canetti. Versucht werden soll eine Annäherung an die beiden autobiographischen Texte durch eine Rekonstruktion der Schreibsituation von "Meine Kinderjahre" und "Die gerettete Zunge".
Wenn Effi Briest in den letzten zwei Jahrzehnten in unseren Schulen fast zur Pflichtlektüre geworden ist, so hängt das aufs engste damit zusammen, daß dieser Roman heute allgemein als gesellschaftskritisch verstanden wird, Effis Schicksal also als ein Beispiel dafür gilt, wie ein natürlich veranlagter, rein seinen Empfindungen folgender Mensch an bestimmten gesellschaftlichen Konventionen scheitert und ihnen schließlich zum Opfer fällt. Effi sei es um nichts als um ein ,schlichtes und schönes Leben' gegangen, lautet etwa ein in diesem Sinne paradigmatisch gewordenes Urteil von Lukacs, die Gesellschaft jedoch habe diesen ihren Anspruch einfach ,zerstampft'. Oder man denke an die immer wieder als besonders werkgetreu gelobte Verfilmung des Romans durch Faßbinder, in der Effi, regelmäßig ganz in Weiß, von lauter deformierten Gesellschaftswesen umgeben ist, die nicht ruhen, bis sie dieses einzige unverdorbene Geschöpf zugrunde gerichtet haben. Daß hinter solchen Deutungen stets auch die Absicht steht, heutige gesellschaftliche Verhältnisse zu kennzeichnen und zu kritisieren, versteht sich von selbst, soll hier aber nicht weiter beachtet werden, zumal natürlich auch zweifelhaft ist, daß ausgerechnet der Fall Effi Briest zur Bestimmung heutiger gesellschaftlicher Mißstände viel beitragen kann. Zunächst stellt sich die Frage nach der Plausibilitat jener Deutungen selbst, denn erst einmal sind sie es, die sich bei der Behandlung des Romans bewähren müssen.