BDSL-Klassifikation: 15.00.00 19. Jahrhundert > 15.11.00 Vormärz und Revolution 1848
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Wahrnehmung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmt als "Organ unseres ursprünglichen Welt-Erlebens." Das ursprüngliche Welterleben war das des Flaneurs, der mit allen Sinnen Umwelt wahrnimmt, um sich zu situieren und aus dieser Verortung Sicherheit und Anderssein zu gewinnen; die Verortung war aber auch über die Individualebene hinaus von politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Bedeutung. Man greift nicht zu hoch, wenn der Vormärz als Zeitspanne betrachtet wird, in der eine vollere Realität in sehr spezifischer Weise greifbar wurde. Die Vielschichtigkeit der Vormärz-Welt war dabei eine konstanter Innovation, die eine Initiierung jener Selbstbilder bedeutete, die über das Wahrnehmen bestätigt wurden, das selbst ein anderes geworden war. Nicht mehr informierte Wahrnehmung über die tautologisch so genannten sozialen Tatsachen; sie schuf diese vielmehr um und damit neu - das Organ des Welterlebens wirkte hier auf die Welt ein und musste Erlebnisse nicht mehr erleiden. Die Erfahrung der Welt-Erlebnisse bestand auch darin, die Sinne als sinnenöffnend zu sehen, indem die theoretische Vorrangstellung des Informationsaspekts der Wahrnehmung zurücktrat und Indices von Engagement, Eingreifen und Emanzipation deutlich werden konnten. Dies bedeutete, eine Form des "Wirklichkeitskontakts" zu suchen, die bisher nicht bestanden hatte. War der Kontakt vorher so geschehen, dass die Sinne eine bestätigende Funktion den sozialen und politischen Valeurs gegenüber einnahmen, die bezogen auf Emanzipationsprozesse und deren Möglichkeit einer Schließung gleichkam, öffnete nun die Veränderung der Wahrnehmung neue Formen des Wirklichkeitskontakts. In diesem Kontakt war vor allem entscheidend, dass nun die Bedingungen der Wahrnehmung ersichtlich wurden, sich als veränderbar auswiesen und nicht mehr im umfassenden Konstrukt "Wahrnehmung" aufgingen.
Wie kein anderes Land ist Italien im deutschsprachigen Raum seit mehr als 600 Jahren Gegenstand einer nahezu unüberschaubaren Auseinandersetzung in Kunst, Kultur, Philosophie und Politik. Als Kernland des römischen Imperiums, mit Rom als Zentrum der Christenheit und wichtiger Etappe auf dem Pilgerweg ins Heilige Land, durch jahrhundertelang politisch und wirtschaftlich mächtige Republiken wie beispielsweise Venedig, Genua und Florenz war Italien in vielerlei Hinsicht von besonderem Interesse. Dies gilt auch für die Zeit nach 1796, für die Zeit nach dem Einmarsch der französischen Truppen und die damit verbundene Umgestaltung der politischen Landkarte Italiens. Im ersten Teil stehen mit Blick auf das (post-)risorgimentale Italien zunächst exemplarische Untersuchungen in Literatur, Publizistik und Philosophie im Fokus. Der zweite Teil des Jahrbuchs ist dem Thema "Deutsche Künstler in Italien - zwischen politisch-ästhetischer Revolution und Traditionsbewahrung" gewidmet. Italien als Sehnsuchtsziel von Malern und Schriftstellerinnen sowie als Gegenstand von Reiseberichten, Gedichten und als Opernschauplatz bietet einerseits Inspiration und Freiraum zum künstlerischen Schaffen. Andererseits ist Italien aber auch ein kulturell seit Jahrhunderten beschriebenes Gebiet, das zu einer Auseinandersetzung mit den Kulturgeschichten beider Länder und bislang vorliegenden künstlerischen Gestaltungen herausfordert.
Nach wie vor ist die Geschichte der ästhetischen und auch der poetologischen Debatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, was ihre Breite und Heterogenität angeht, ein blinder Fleck der Forschung. Das überrascht angesichts der Dynamik der Verschiebungen innerhalb der Paradigmata des Schönen nach 1800, die der erstarkenden Bedeutung des Sehens im Horizont medialer Formerweiterungen ebenso Rechnung trägt wie der philosophischen Ausrichtung der Phänomenologie, der wachsenden Bedeutung der Psychologie und auch dem steigenden Einfluss von wissenschaftlichen Ordnungen auf die Künste. Allenthalben verschaffen sich neue Konzepte des Schönen, der Kontinuität, der Brüchigkeit und der Kritik, des Verhältnisses von Idee und Realität, von Phänomen und System, von Erscheinung und Abstraktion Ausdruck und werden wiederum in Ästhetik 'betrachtet' und eingeordnet. Das vorliegende Jahrbuch holt mit seinem Themenschwerpunkt die Komplexität dieser Entwicklung nicht ein, kann das auch im hier zur Verfügung stehenden Rahmen nicht. Es versteht sich als Impuls für notwendig weitere Forschungen.
In der Krisen- und Umbruchzeit des Vormärz wurden pädagogische Fragen entlang der Grenze zwischen politischen, religiösen und sozialen Problemlagen kommuniziert, indem politische, religiöse und gesellschaftliche Herausforderungen pädagogisch interpretiert wurden. Erziehung und Bildung waren Gegenstand in Pamphleten, konzeptionellen Schriften, Briefen und Aufrufen, sie wurden in Zeitschriften verhandelt und waren literarisches Sujet. In der Verbreitung und Umsetzung oppositioneller pädagogischer Ideen waren Akteurinnen und Akteuren Grenzen gesetzt: Grenzen der obrigkeitsstaatlichen Zensurbehörden, aber auch Grenzen des staatlichen Bildungswesens, die der Umsetzung alternativer pädagogischer Ideen kaum Raum ließen. Pädagogische Konzeptionen und Praktiken der Opposition waren aufgrund ihrer kritischen Ausrichtung umstritten und daher einerseits klandestin, subversiv und konspirativ, sie zielten andererseits aber auch auf das Auditorium einer bürgerlichen Öffentlichkeit, da sie mit der Hoffnung verbunden waren, Emanzipationsprozesse ihres Klientels zu initiieren. Aus der Sicht der Zensurbehörden bargen sie daher Gefahrenpotential und Sprengkraft, weshalb pädagogische Akteurinnen und Akteure mit Zensurbestimmungen und Vereinsverboten in der Folge der Karlsbader Beschlüsse konfrontiert waren, mit Flucht, Verhaftung und Verfolgung - häufig blieb ihnen nur der Weg in die Emigration. Umgekehrt wurden Erziehung und Bildung auf Seite der restaurativen Mächte auch als Mechanismen des Erhalts der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen und Privilegien profiliert. Auf pädagogischem Feld wurden im Vormärz insgesamt Interessen- und Machtkonflikte zwischen "Emanzipation und Sozialdisziplinierung" ausgetragen.
Das Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte hat aus der Kritik an der französischen Menschenrechtserklärung gelernt, dass es Menschenrechte weder ohne System der Rechte und Pflichten des Bürgers noch ohne Verankerung in der einschlägigen Organisation der Staatsorgane geben kann, die gleichzeitig die Freiheit und die Einheit des Volkes sichern. Außerdem sieht die den Reichsgesetzen zugrunde liegende Auffassung keine Grundrechte ohne Verankerung im zu schützenden geistigen Leben des Volkes vor. Unter dem Einfluss der Rechts- und Staatsphilosophie J. G. Fichtes und Hegels wurden im Vormärz rechtsphilosophische Theorien entwickelt, die individuelle Menschenrechte nicht abstrakt, sondern nur in einem "System des Rechts" aufeinander bezogener Komponenten gelten lassen, das den Menschen grundsätzlich als gesellschaftliches Wesen betrachtet und dem eine organische und geistige Auffassung der Gesellschaft zugrunde liegt. [...] Das Jahrbuch erforscht diese Zusammenhänge; neben der – vor allem – rechtsphilosophischen Inspiration der einzelnen spezifischen Aspekte der Grundrechte geht es um die folgenreiche Besetzung des politischen sowie imaginativen Ausdrucksraumes der Vormärz-Zeit durch die Idee der Menschenrechte, die sowohl in Bezug auf einzelne Grundrechte wie auch im Blick auf ihre Fundierung in der Klassischen Deutschen Philosophie, die Frage nach Frauenrechten als Menschenrechten, Protagonisten wie Friedrich Hecker oder den Zusammenhang von Menschenrechtsidee und Musik betrachtet werden.
Jahrbuch / FVF, Forum Vormärz Forschung - 11.2005 : Europäische Karikaturen im Vor- und Nachmärz
(2006)
Seit Eduard Fuchs' Jubliäumsbuch "1848 in der Caricatur" reißt die Flut der Publikationen über die Revolutionskarikatur nicht mehr ab. In diesem Band tritt sie zurück, um anderem Platz zu machen: dem Vor- und Nachmärz sowie dem europäischen Kontext der Karikatur. Sowenig die Revolution von 1848 die Bildsprache der Karikatur mit einem Schlag ändert, sowenig werden ihre Mittel und Motive von Land zu Land neu erfunden. Der Zeitrahmen dieses Bandes ist also weiter gesteckt, von 1814/15, dem Jahr der Neuordnung Europas und der Gründung des Deutschen Bundes, bis 1858/59, dem Beginn der "Neuen Ära". Ebenso breit wird der europäische Raum ausgemessen, denn in dieser Zeit geben Frankreich und England den Ton in der Karikatur an, und man errichtete eine künstliche Scheidewand, wollte man die deutsche Karikatur gegen ihre Nachbarn isolieren. Dasselbe gilt übrigens für das mehr oder weniger enge Zusammenspiel von Bild und Text, wie es sich nach Vorläufern in England ("The Scourge") und Frankreich ("Le Nain Jaune", "Le Figaro") zwischen 1830 und der Jahrhundertmitte herausbildet.
Das Moment der Opposition gehört zu den Grundmerkmalen des
Exils, beschreibt aber nur einen Aspekt seiner – erzwungenen oder eben freiwilligen – Notwendigkeit, in der sich Schriftsteller und Künstler, Juristen und Handwerker, Juden und Christen zu allen Zeiten gleichermaßen begegneten. Im Übrigen bleibt zu beachten, dass ebenso wenig wie
von einer einheitlichen liberalen Gegenbewegung zum Metternich'schen System in ganz Deutschland die Rede von einer nur annähernd geschlossen auftretenden Opposition im Vormärz sein kann; eine solche konnte sich unter den politischen Bedingungen der Nachkriegsära nicht herausbilden. Opposition im Vormärz erstreckte sich bis in die zwischen konservativer Orthodoxie und innerkirchlichem Liberalismus zerrissenen
Kirchen hinein, in denen liberale Gegenströmungen wie die "Lichtfreunde" und die "Deutschkatholiken" das Staatskirchentum der Amtskirchen in Frage stellten und so von hier aus die Revolution vorbereiteten. Ebenfalls nur eine der vielen Facetten des Exils erfasst die Koppelung des Begriffs an die Literatur, auch wenn die Erfahrung von Verfolgung und Vertreibung die Geschichte des geschriebenen Wortes seit der Antike begleitet.
Das vorliegende Jahrbuch 2006 geht in seinem Schwerpunkt der Genese und markanten Ausprägungen des modernen Jugend-Konzepts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach. Bereits die Rede vom "Jungen Deutschland", nicht selten als Epochenbegriff für die Jahre zwischen 1830 und 1848 verwendet, enthält jene Ambivalenz, die dem Thema und seinen bisweilen diffusen Konnotationen Aufmerksamkeit sichert: Der Aufbruch zu neuen (politischen, sozialen, künstlerischen) Ufern ist angesprochen, aber nicht wenige Zeitgenossen meinen auch Infragestellung bewährter Werte und Deutungsmuster. [...] Den folgenden Beiträgen kommt es weniger darauf an, Kontinuitäten und Traditionen in der literarischen Darstellung von Jugend zu verfolgen oder den jeweiligen jugendlichen Protest gegen die von den 'Alten' dominierten "fatalen bürgerlichen Verhältnisse" immer aufs Neue zu entdecken, als darauf, die Verfahren kultureller Konstruktion von Lebensaltern zu untersuchen, wie sie sich auch in literarischen Texten vollzieht. Denn diese Texte werden nicht selten - auch von ihren literaturwissenschaftlichen Kommentierungen - pauschal als Belege für einen seit zweihundert Jahren währenden Konflikt der Generationen gelesen.
Am 22. März 1832 stirbt Goethe. Nicht nur sein Leben, auch seine literarische Produktion reicht bis in den Vormärz hinein (wenn man ihn denn mit der Juli-Revolution von 1830 beginnen sieht) und lässt die klassizistische Ästhetik der 1790er Jahre am Ende weit hinter sich: 'Faust II' wird im Juli 1831 abgeschlossen und 1832 veröffentlicht, die letzte Fassung von 'Wilhelm Meisters Wanderjahre' war 1829 erschienen. Doch Goethes Tod (und damit auch das definitive Ende seines literarischen Werks) ruft nicht nur Trauer über den Verlust des unerreichbaren "Titanen" und den nun für unabwendbar gehaltenen Niedergang der deutschsprachigen Literatur hervor, er setzt auch Hoffnungen auf einen jetzt endlich möglichen Neubeginn bei den jungen Autoren frei, die sich von Goethes olympischer Überlebensgröße allzusehr in den Schatten gestellt gefühlt hatten.
Jahrbuch / FVF, Forum Vormärz Forschung - 8.2002 : Deutsch-französischer Ideentransfer im Vormärz
(2003)
Nie zuvor und nie danach haben sich französische und deutsche Kultur so tiefgreifend beeinflusst und durchdrungen wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wer heute von einer deutsch-französischen Synthese spricht, sollte auf die Zeit von Julimonarchie und Vormärz zurückgehen: Dort konnte sich diese Synthese in bedeutenden Ansätzen verwirklichen.
In den Jahren 1830-1848 wurde das traditionell sensualistische Denken Frankreichs durch die Aufnahme deutscher Literatur, Philosophie und Wissenschaft grundlegend reformiert. Gleichzeitig erkoren fortschrittliche deutsche Schriftsteller und Intellektuelle die Gründerjahre der Julimonarchie mit ihrer Metropole Paris zum Paradigma der Moderne. Auf beiden Seiten des Rheins wurde nachdrücklich über den Gedanken einer engeren Zusammenarbeit in assoziativer Form nachgedacht. - Man kann
also den Vormärz als "Sternstunde des deutsch-franzˆsischen Ideentransfers" bezeichnen.