BDSL-Klassifikation: 16.00.00 Jahrhundertwende (1880-1914) > 16.15.00 Zu einzelnen Autoren
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The tentative title of my presentation is GENDER AMBIVALENCE (AMBIGUITY?) and deals with Renaissance iconography in Thomas Mann's Death in Venice. It will show that homosexual attraction, although obvious in the story (and Mann's life) is a secondary issue and that the main concern lies with the problem provided by an aesthetic principle. (Parallel narratives, the plot is not the real/only story).
George ist nicht klug. Er ist ein Fanatiker. Sein Fanatismus lässt sich in vier Wörtern zusammenfassen: Ich bin ein Dichter. Dieses Ich Georges – den Nachgeborenen erscheint es wie eine Maske, in die sich notfalls jedermann zwängen könnte. Die Not – eine Spielart jenes ominösen ›Bewusstseins von Nöten‹, das Theodor W. Adorno zufolge die moderne Kunst begleitet – scheint groß gewesen zu sein. Wer sich einliest, beginnt bald zu begreifen, dass Georges Gedichte von kaum etwas anderem sprechen. Seine Poesie ist Zwang. Nicht passiv notierter, sondern gelebter Zwang, geübt und erfahren. Das hat den Verfasser dieser Verse als einen verdächtig gemacht, der sich gewaltsam dort Zutritt verschafft, wo, der Übereinkunft nach, alle Gewalt endet: in der Dichtung. Der Verdacht ist die Kehrseite der Faszination, die von der Gestalt ausgeht. Er schimmert durch; er grundiert sie. Verständlich also, dass der Mann die Phantasie stärker beschäftigt als das ›Werk‹, auf das er vergeblich alle Blicke hinlenkt, in dem er aufzugehen gedachte wie sein Gesicht in der Totenmaske, dem bekanntesten Zeugnis, das von ihm existiert.
Poetik von Traum und Tod
(1998)
Wem das "mot juste" sich versagt, der flüchtet in Ironie. Demzufolge könnte das Thema der folgenden Überlegungen lauten: Der Teppich des Lebens oder "die Quellen der Inspiration". Damit wäre das biographische Mißverständnis programmiert – wenn wir etwas zu wissen glauben, so dies, daß Dichter aus vielerlei Quellen schöpfen und die trüben meist die ergiebigsten sind. Das jedenfalls ist eine Interpreten-Sicht. Die andere nährt die Hoffnung, niemandem zu nahe zu treten, falls man die Art und Weise, in der Morwitz und seine Nachfolger solche Quellen gesucht und benannt haben, versuchsweise als trivial beiseiteschiebt. Nichttrivial wäre ihr zufolge das Unterfangen, Quellen im Konzeptuellen zu suchen.
Im Frühjahr 1902 schreibt der noch wenig bekannte, eben erst mit den Buddenbrooks hervorgetretene Thomas Mann an ein "verehrtes Fräulein Hilde" in Dresden einen ungewöhnlichen Brief. Nachdem er ihr zunächst artig zum Geburtstag gratuliert und sich mit einer kleinen Plauderei hinreichend bei ihr eingeschmeichelt hat, rückt er unverhohlen mit etwas ganz anderem heraus. Es ist ein Mordfall, der sich in Dresden zugetragen hat. Vor einiger Zeit habe eine 'Dame der Gesellschaft' in der Dresdner Straßenbahn einen jungen Musiker erschossen, ob sie ihm nicht, mit den Beteiligten bekannt, mehr darüber berichten könne. Der Fall habe einen "ganz merkwürdig starken Eindruck" auf ihn gemacht, vielleicht, daß er sich seiner einmal zu einer "wundervoll melancholischen Liebesgeschichte" bedienen werde. Und dann gießt er einen wahren Sturzbach von Fragen über sie aus: nach der Dauer der Beziehung zwischen den beiden, nach den Familienverhältnissen der Täterin, ob sie Kinder habe, wie man gesellschaftlich miteinander umgegangen sei, was mit den Geschenken gewesen sei, die sie dem Geliebten gemacht haben solle, wie sich die Tat im einzelnen abgespielt habe und vieles mehr. In jedem Falle aber benötige er "Détails", sie vor allem seien ihm wichtig. Wenn sie also irgend könne, so möge sie ihm doch "bitte, bitte, bitte!" einmal alles "recht genau, recht eingehend, recht ausführlich erzählen.
Ironie als Redefigur, die das Gegenteil dessen sagt, was sie meint, kommt bei Thomas Mann nicht vor. An ihrer Stelle steht - der Aufsatz legt es an einer Reihe von Beispielen dar - ein System von Über- und Untertreibungen, in dem Hochwertiges in seinem Ansehen vermindert und Geringes aufgewertet wird. Damit wird die Wirklichkeit zwar wohl karikiert, aber nicht 'verletzt.' Das ist zugleich der Grund, warum Thomas Manns Werk realistisch wirkt.
Der bürgerliche Kalender des 19. Jahrhunderts schafft eine eigene Zeitordnung. Wer 25 Jahre sein Unternehmen durch den Zeitenwechsel bringt, darf diesen Zeitraum mit goldenem Lorbeer umrahmen, ebenso derjenige, der dem Staat als Beamter ein Vierteljahrhunderts gedient hat. Eine goldene Uhr wird ihn fortan daran erinnern. Für die Ehe gleicher Dauer muß man sich mit Silber begnügen, das Goldene Zeitalter beginnt in diesem Fall erst nach fünfzig Jahren. Nicht nur das Ereignis, auch der Zeitraum selbst wird, skaliert von 25 bis 1000, kulturell erinnerungswürdig und -fähig. Wer die Jahre zählt, läßt die Verbindung zum Vergangenen nicht abreißen. Vergangenheit erhält ihren Ort und ihren Tag im Alltag der Gegenwart. Die Erinnerung der Individuen wird an Jubel- und Gedenktagen durch ein kollektives Gedächtnis abgelöst. Der 1. Mai z.B will an etwas erinnern und läßt sich dennoch auf kein ursprüngliches Ereignis zurückführen. ‘Denkmal’ kann im 19. Jahrhundert fast alles werden, nicht nur Gebilde aus Stein und Bronze, auch Profanes wie Bierkrüge, Gläser, Teller, Zigarrenkisten, Hüte: das kollektive Gedächtnis muß an ihnen nur ausreichende Flächenhaftung finden oder sich eingravieren lassen.
Lassen sich Gedanken sagen? : Mimesis der inneren Rede in Arthurs Schnitzlers "Lieutenant Gustl"
(2009)
Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entsteht ein Text, der die Frage nach der Sag- und Vernehmbarkeit von Gedanken scheinbar mühelos überspringt. Der Selbstbeobachter Arthur Schnitzler präsentiert uns die lückenlose, nur durch Schlaf unterbrochene Gedankenrede eines jungen Militärs zwischen Abend und Morgen. Damit befindet sich „Lieutenant Gustl“, erschienen am Weihnachtstag 1900 in der Wiener „Neuen Freien Presse“, im Fadenkreuz der Studier- und Konstruierbarkeit von ‚innerer Rede’. Im beinahe zeitungssprengenden Umfang von 24 halbseitigen Spalten auf 8 Seiten inszeniert Schnitzler das paradoxe Planspiel, wie es wäre, die Gedanken eines anderen unmittelbar und in situ vernehmen zu können. Es ist, dafür ist der Text in die Literaturgeschichte eingegangen, der erste konsequent durchgehaltene Innere Monolog in der deutschsprachigen Erzählliteratur.
"Es ist wohl eine Regel, daß in gewissen Jahren der Geschmack an allem bloß Individuellen und Besonderen, dem Einzelfall, dem 'Bürgerlichen' im weitesten Sinne des Wortes allmählich abhanden kommt. In den Vordergrund tritt: Das Typische, Immer-Menschliche, Immer- Wiederkehrende, Zeitlose, kurz: das Mythische." Mit diesen Worten umreißt Thomas Mann im Jahre 1942 in seinem Vortrag Joseph und seine Brüder einige Beweggründe für seine fast sechzehnjährige Arbeit an dem "abseitigen, fernliegenden Stoff [...] der biblischen Legende", die er zu einem vierbändigen Romanwerk ausarbeitete. Ein wenig seltsam mutet es hier an, wenn man Thomas Mann, den bürgerlichen Romanautor, der stets darauf bedacht war, eben gerade das ganz Besondere, den nicht alltäglichen Menschen, den Einzelgänger und Außenseiter seinen Lesern vor Augen zu führen, vom "bloß" Individuellen reden hört; ganz so, als seien seine früheren Werke – cum grano salis – lediglich Geburtswehen eines weit größeren Unterfangens gewesen, welches nun endlich im Stande sei, zum Kern vorzudringen, um die nötigen aber überständigen Randerscheinungen hinter sich zu lassen. Thomas Mann führt den Leser sicherlich etwas in die Irre, wenn er hier behauptet, das Interesse am Individuum sei ihm in gewissen – und dies meint späteren – Jahren abhanden gekommen. Der Protagonist seiner Tetralogie, Joseph, scheint doch gerade ein ganz außergewöhnlicher Mensch zu sein, der, mit einigen, später zu erörternden Besonderheiten, eben genau das Individuum par excellence darstellt. Oder verhält es sich in Josephs ganz spezifischem Fall noch etwas komplizierter und seine Besonderheit und das Typische schließen sich gar nicht gänzlich aus?
Bisherige Untersuchungen über die Religiosität des Dichters Rainer Maria Rilke zeigen zwei stark divergierende Ergebnisse: Während der Religionspädagoge Anton Bucher auf der Basis einer strukturgenetischen Analyse Rilkescher Schriften zu dem Schluss kommt, Rilke sei eine sehr reife religiöse Persönlichkeit gewesen, sieht der Literaturwissenschaftler Eudo C. Mason, der mit psychodynamischen Kriterien arbeitet, in Rilke einen reinen Narzissten und Atheisten. Die folgende Untersuchung vergleicht diese beiden Zugänge und versucht, eine Brücke zu schlagen zwischen dem "religiös reifen Rilke" und dem "atheistisch-narzisstischen Rilke".
Emil Staiger und Thomas Mann
(2007)
Im Folgenden geht es um Emil Staigers Sicht auf Thomas Mann, um die oft fehl eingeschätzte, zutiefst ambivalente Haltung, die der berühmte Germanist gegenüber dem noch berühmteren Schriftsteller zeitlebens einnahm. Anregende Anmerkungen finden sich bereits in Thomas Sprechers Buch „Thomas Mann und Zürich“ von 1992. Diese sind aber ganz der Sicht Thomas Manns verpflichtet. Dagegen gibt es bislang keine Darstellung der Staiger’schen Beurteilung Thomas Manns. Nachfolgend werden vier Staiger-Texte aus unterschiedlichen Lebensphasen heraus gegriffen. Neben dem umstrittenen Jugendaufsatz „Dichtung und Nation“ von 1933 und der „Doktor Faustus“-Rezension von 1947 handelt es sich um zwei wenig bekannte Manuskripte aus dem Staiger-Nachlass in der Zentralbibliothek Zürich: einen Text, der vermutlich 1935 im Umkreis von Manns sechzigstem Geburtstag entstanden ist sowie die Vorlesung „Erzähler des 20. Jahrhunderts“, die Staiger im Sommersemester 1965 an der Universität Zürich gehalten hat.