BDSL-Klassifikation: 16.00.00 Jahrhundertwende (1880-1914) > 16.15.00 Zu einzelnen Autoren
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Im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals folgen die dramatischen Revenants einander dicht auf dem Fuße. Totentänze, Moralitäten, Lehrgedichte, platonische Dialoge - Formen vorbürgerlicher Theaterkunst, mit dem Odium des Undramatischen sämtlich behaftet, wagen sich nach langem Schweigen wieder auf die Bühne. Wiederbelebt gehen sie aus dem dramatischen Laboratorium eines frühreifen Alchimisten hervor und fordern flüchtige Aufmerksamkeit dort, wo der feste hölzerne Halt des großen Dramas zu schwanken begann. In der Reihe der poetischen Wiedergänger ist dem "Prolog", oder, in unscharfer Trennung von diesem, dem "Vorspiel" ein nicht geringer Platz angewiesen. Eigenen und fremden Stücken setzt Hofmannsthal einleitende, einstimmende Verse voran, Prologe und Vorspiele erweisen sich als irreduzible Bestandteile seiner Dramatik. So ist das Fragment »Der Tod des Tizian«, so sind "Der Tor und der Tod", "Die Frau am Fenster" mit einem poetischen Vorspann ausgestattet, so wird Schnitzlers "Anatol" eine sanfte Ouverture vorangestellt, so werden Pagen, Studenten und Dramaturgen mit einer Rede an das Publikum beauftragt und die Aufführungen griechischer Tragiker und Komödiendichter mit einem prologischen Kommentar versehen.
Hofmannsthals vielleicht dunkelste Verse, in ihrem Wortlaut auf vielerlei Weise verstanden und mißverstanden, enthalten doch eines, das nicht widerleglich ist: die Gebärde des Spätgeborenen, der nimmt und vergeudet, in dessen Händen das Überlieferte flüssig wird und sich in neuer Fülle verströmt. Dies gilt für Themen und Motive des kulturellen Erbes, dies gilt vielleicht noch mehr für die Traditionen der Gattungen, die in HofmannsthaIs Werk noch einmal aufleben. Der Einakter als literarische Form ist kein nationales, er ist ein europäisches Phänomen. Vielleicht gibt es keinen Autor der Jahrhundertwende, dem diese Tradition verfügbarer wäre als gerade Hugo von Hofmannsthal: die spanische Welt des Theaters und seiner Entreméses aus dem Goldenen Zeitalter, die französische Überlieferung von Rousseau über Musset und Carmontelle bis zu Mallarme und zu dem Flamen Maeterlinck, die englischen wie die italienischen Quellen - sie flossen für den jungen Österreicher gleichermaßen, wie ihm gleichermaßen auch die Zeugen der großen musikdramatischen Überlieferung gegenwärtig waren. Alle diese Elemente sind es, die, aus fremden Händen in seine übergehend, sich an die neue Form verschwenden, mit der er auf die Wahrnehmungskrise der Jahrhundertwende schreibend und verwandelnd reagiert: an den Einakter in seiner wiedererstandenen Gestalt als 'lyrisches Drama'.
Mit den Worten: "Die Zeit ist auf der Flucht" charakterisiert Ernst Moritz Arndt 1807 den 'Geist der Zeit'. Er diagnostiziert damit zugleich ein Welt- und Lebensgefühl, das zur bestimmenden Signatur der Moderne werden sollte; neue, immer schnellere Verkehrsmittel, die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und der Lebensrhythmus der modernen Metropolen führen zur Allgegenwart des 'Prinzips vitesse'. Wenn sich Marcel Proust in der Figur seines Erzählers am Ende eines geschwindigkeitsbesessenen (oder auch: geschwindigkeitsgeschädigten) Zeitalters auf die Suche nach der verlorenen Zeit macht, wirft dieser Schreib-Vorgang ein bezeichnendes Licht auf das Phänomen der Modernität. Müsste sich nicht auch die Kunst im Prozess der Geschwindigkeit auflösen und das Schicksal der Moderne teilen, mit der Zeit unmodern werden? Prousts Antwort ist hier nicht unser Thema; ihr Problemhorizont aber bestimmt das Verhältnis der Moderne zur flüchtenden Zeit.
Die folgenden Überlegungen zu einem vernachlässigten Werk Rilkes verdanken sich zwei Anregungen aus der Hofmannsthal-Forschung: zum einen Gerhard Neumanns Profilierung der Thematik des Augenblicks im Kontext der dramatischen Gattung des Einakters; zum anderen Waltraud Wiethölters Studie über die"Geometrie des Subjekts" bei Hofmannsthal. Obwohl Wiethölters Aufmerksamkeit vornehmlich dem Prosawerk Hofmannsthals gilt, ist die "Geometrie des Subjekts" ein für den lyrischen Einakter der Jahrhundertwende außerordentlich ergiebiger Begriff. Wie die später nachzuzeichnenden Parallelen zwischen Rilkes Drama "Die Weiße Fürstin" und seinem "Malte"-Roman bezeugen, ist in dieser Epoche, die im Zeichen der Abrechnung mit dem europäischen Ästhetizismus steht, eine ähnliche Problematik, was die Beschaffenheit und Darstellungsmodalitäten des Subjekts angeht, beiden Gattungen gemeinsam.
Primärtexte Hofmannsthals und Briefausgaben werden entsprechend dem für das HJb zugrundegelegten Siglenverzeichnis zitiert. Briefe und Notizen, die erstmals in der Kritischen Ausgabe abgedruckt wurden, bleiben hier unberücksichtigt.
Einzelkritiken zu aktuellen Inszenierungen sind nur in Ausnahmefallen aufgenommen.
Hofmannsthals Aufsatzentwurf "Die neuen Dichtungen Gabriele d’Annunzio’s" aus dem Jahre 1898, der hier zum ersten Male abgedruckt ist, belegt anhaltendes Interesse und eine um die Jahrhundertwende noch einmal aufllammende Sympathie, die erst 1912 in offene Ablehnung umschlagen wird. Gegenstand des ersten Teiles "Zwei Verherrlichungen der Stadt Venedig", welcher als beinahe abgeschlossen gelten kann, ist ein Bändchen von D’Annunzio mit dem Titel "L’Alllegoria dell’ autunno" (1895). Hofmannsthal kaufte es auf seiner Italienreise 1898. Über welche Dichtungen er darüber hinaus noch schreiben wollte, ist nicht bekannt. Einer genaueren Rekonstruktion der Beziehung zwischen D’Annunzio und Hofmannsthal bis zu diesem Zeitpunkt gelten die folgenden Hinweise.
Rudolf Kassner reichte seine Dissertation über den "Ewigen Juden in der Dichtung" bei der Philosophischen Fakultät der Universität Wien im Frühherbst 1896 ein, wo sie am 28. Oktober 'approbirt' wurde. Das Thema verdankte er wohl dem - ungeliebten - Doktorvater Jakob Minor, der es vielleicht schon mit Blick auf die von ihm 1904 vorgelegte Studie über Goethes "Ewigen Juden" angeregt haben mochte. Aus einem existentiellen Anliegen wuchs die Arbeit jedenfalls nicht hervor: Kassner war kein Jude, obwohl ihn spätere Kritiker immer wieder diesem Verdacht aussetzten. Er entstammte vielmehr einer alten römisch-katholischen Familie aus Schlesien. Und wenn ihm von anderer Seite gelegentlich ein versteckter oder offener Antisemitismus vorgeworfen wurde, den man an Bemerkungen vornehmlich aus dem Bereich seiner physiognomischen Schriften festmachen zu dürfen meinte, so geht auch diese Unterstellung an Kassners grundsätzlicher Überzeugung vorbei. Er bewies dem Judentum gegenüber zeitlebens eine souveräne, unverkrampfte Offenheit, im Werk ebenso wie im Leben.
Felix Salten (eigentlich Siegmund Salzmann, 1869-1945) ist bekanntlich der Autor von "Bambi" gewesen, jener rührenden 'Lebensgeschichte aus dem Walde', die durch die gleichnamige Disney-Verfilmung weltberühmt geworden ist. Felix SaIten wird aber auch eine andere, berüchtigte 'Lebensgeschichte' zugeschrieben: die der 'wienerischen Dirne' "Josefine Mutzenbacher". Mit seinem Namen verbinden sich zwei offenbar höchst disparate literarische Gattungen: 'Tiergeschichte' und 'Pornographie'.
Die Disparität dieser Gattungen bedarf anscheinend keines Nachweises. Gewöhnlich wird nicht einmal die eine auf die andere als ihren Gegensatz bezogen. Auch "Bambi" und "Josefine Mutzenbacher" haben dazu bisher selten herausgefordert. "Bambi" bietet das Panorama einer luftigen Wald-und-Wiesen-Idylle, die sich immer dann als trügerisch erweist, wenn der Mensch auf den Plan tritt; im Modus der Kontemplation beschreibt das Buch ein schicksalhaftes, mal rührendes, mal trauriges Ineinander von Unglück und Glück.
Als Schlußstein und Bilanz ihrer literaturgeschichtlich so folgenreichen Zusammenarbeit gaben Arno Holz und Johannes Schlaf 1892 im Berliner Verlag Fontane & Co einen Band mit dem Titel "Neue Gleise" heraus, der alle ihre naturalistischen Gemeinschaftswerke enthielt: von der Erzählung "Papa Hamlet" (1889) bis zum Drama "Die Familie Selicke" (1890). Als eine Art Satyrspiel ließen sie ihm im gleichen Jahr eine letzte Koproduktion folgen, die freilich ganz und gar nicht mehr naturalistisch anmutet: "Der geschundne Pegasus. Eine Mirlitoniade in Versen von Arno Holz und 100 Bildern von Johannes Schlaf". Es handelt sich dabei um eine Bildergeschichte im Stile Wilhelm Buschs, in der die beiden Freunde (denn damals waren sie es noch) selbstironisch die relative Erfolglosigkeit ihrer literarischen Doppelexistenz verarbeiteten. Schlaf zeichnete sich und seinen Partner bei unübersehbarer Porträtähnlichkeit als zwergwüchsig-kindische Protagonisten, ausgestattet mit einem Erkennungszeichen, das beide durch alle Bilder des Buchs begleitet und gewissermaßen als Emblem ihrer bohemehaften Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft dient. Dieses Erkennungszeichen ist eine gestreifte Tröte. Der französische Ausdruck dafür lautet "Mirliton"; er hat einem bekannten Pariser Cabaret jener Zeit den Namen und dem "Geschundnen Pegasus" die Gattungsbezeichnung "Mirlitoniade" gegeben, in der natürlich auch die Anspielung auf Miltons Epos mitschwingt. Die Verserzählung selbst nimmt auf das Instrument nur in der ersten Strophe Bezug:
Zwei Knaben hier
mit viel Pläsir Mißbrauchen Feder und Papier
Und blasen möglichst mit Elong
Das Klopp-Klipp-Klapphornmirlitong.
Nimmt man diese Verse beim Wort, so verraten sie uns etwas, was noch niemand realisiert zu haben scheint: die Provenienz des "Geschundnen Pegasus" von der Klapphorn-Dichtung. Das Mirliton wird ja offenbar mit dem Klapp(en)horn gleichgesetzt - einem im Laufe des 19.Jahrhunderts außer Gebrauch gekommenen trompetenähnlichen Signalhorn mit sechs Klappen.
In ihren Memoiren "Mein Leben" schreibt Alma Mahler-Werfel über ihren ersten Mann Gustav Mahler:
Er war ein Zölibatär und fürchtete das Weib. Seine Angst, 'heruntergezogen' zu werden, war grenzenlos, und so mied er das Leben ... also das Weibliche!
In diesem Satz spiegeln sich die im Wien der Jahrhundertwende zirkulierenden Weiblichkeitstheorien. Da ist die große magische Chiffre der Zeit: das Leben, als eine untere, gefährliche Macht, der man erliegen kann. Da ist ferner der Dualismus, dessen vielfaltige Varianten das Denken der Zeit bestimmen: Geist und Leben, Sittlichkeit und Sinnlichkeit, Über-Ich. Es sind die Antipoden, in denen die Jahrhundertwende die überkommenen Prinzipien der Moral und den kulturellen Bestand der Tradition den natürlichen, triebhaften Kräften des Lebendigen entgegensetzt. Da werden schließlich diese Antipoden in einer räumlichen Opposition angeordnet und in einer simplen Gleichung auf die Geschlechter verteilt. Man könnte meinen, Almas Urteil über Mahler sei inspiriert von Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" von 1903, besonders von dessen Vorstellung, daß das Leben den Mann von seiner Pflicht, von der Befolgung des kategorischen Imperativs abhalten könne und daß dieses Leben im Weiblichen inkarniert sei; dieses führt nach Weininger ein seelenloses, rein triebhaftes Dasein und zieht den Mann herunter, sofern er nicht zölibatär - in Weiningers Terminologie "keusch" - lebt.