BDSL-Klassifikation: 16.00.00 Jahrhundertwende (1880-1914) > 16.15.00 Zu einzelnen Autoren
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Zwei Überlegungen haben die Wahl des Gegenstandes bestimmt. Die erste ist pragmatisch-systematischer Art. Als die Denkschrift Geisteswissenschaften heute 1991 den von ihr ins Auge gefassten Wissenschaften "als Kulturwissenschaften eine neue Perspektive" vorzeichnete und dazu "Kultur" als "Inbegriff aller menschlichen Arbeits- und Lebensformen" charakterisierte, hat sie zumindest hierzulande eine Welle zuvor ungesehener transdisziplinärer Gegenstandsbestimmungen, Forschungsparadigmen, Projekte und Professurdenominationen ausgelöst. Dies alles hat entschieden über frühere Rahmen wie Cultural Studies, Sciences de la culture oder (für in Deutschland so genannte 'Fremdphilologien') Landeskunde hinausgegriffen und hinausgeführt. Entsprechend den vielfältigen Aspekten, die 'Kultur' zu bieten vermag, stehen deren Erkundung tendenziell kaum endliche Räume offen. Neue und bedeutende Erkenntnisse über jeweils besondere Ordnungen "des geselligen Verkehrs der Menschen" und die darin wirkenden "Absichten" wurden und werden erarbeitet. Die Folge von 'turns', die nicht selten auf ernste Erkenntnis zielen, mit deren Propagierung aber auch Aufmerksamkeit, Netzwerke und Drittmittel für einzelne Bereiche dieser Arbeit geschaffen werden sollen, ist beeindruckend. Nicht alle Beteiligten möchten andererseits die aus dem 19. Jahrhundert hergebrachte Organisation der Wissenschaft in voneinander getrennten Disziplinen überhaupt in Frage gestellt sehen - seien es deren Vertreter selbst, die das Bewährte als zu Bewahrendes betrachten, seien es die Administratoren nach älteren Mustern gewirkter Universitäten, die Finanz- und Stellenpläne sparversessen weiter oder wieder so zu stricken suchen wie bisher. Extremistische Tendenzen entweder zum Aufgeben der Disziplinen zugunsten kleinteiliger Gegenstandsbereiche oder zur Rücknahme der kulturwissenschaftlichen Öffnung, zum Beispiel zugunsten einer erneuten Rephilologisierung, sind in Wissenschaftsgremien und Wissenschaftsverwaltungen unverkennbar.
"Der Mensch ist gar nicht gut/ Drum hau ihn auf den Hut./ Hast du ihn auf den Hut gehaut/ Dann wird er vielleicht gut". Mit dem grotesk-frivolen, bänkelsängerischen Ton verpackt Brecht im Lied von der Unzulänglichkeit ein durchaus ernstes geschichtsphilosophisches Programm: den Menschen - in schlechter, kapitalistischer Gegenwart – besser zu machen. Dazu reichen aber guter Wille, gute Absichten und Pläne keineswegs aus: "Denn für dieses Leben/ Ist der Mensch nicht schlecht genug./ Doch sein höh'res Streben/ Ist ein schöner Zug." Damit der Mensch die Gesellschaft und sich selbst besser machen kann, muss er zunächst vorübergehend härter, skrupelloser‚ 'böser' werden. Erst wenn er zunächst einmal klüger und 'böser' wird, ist er befähigt, an einer besseren Zukunft zu arbeiten. Das ist dialektische Revolutions- bzw. Geschichtsphilosophie; das ist im Kern eine dialektische Figur in der Tradition der Theodizee.
Voltaire prägte 1767 den Begriff einer "philosophie de l’histoire", nachdem Leibniz 1710 den Begriff der Theodizee eingeführt hatte - als eine Lehre zur Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel, des Bösen in der Welt. Die radikale Freiheitsphilosophie des Deutschen Idealismus ist im Kontext der Theodizee begreifbar. Sie entlastet Gott, indem sie zeigt: "nicht Gott ist verantwortlich für diese schlimme Welt, denn nicht er macht und lenkt sie - sondern ein anderer: nämlich der Mensch oder (wie Kant, Fichte, Schelling statt dessen sagen) das Ich." Kant rief nicht zufällig "Gott" als wichtigste der "Vernunftideen" herbei, die zwar keine Erkenntnisse stiftet, den Erkenntnisprozess aber produktiv, regulativ begleitet. Hegel begreift - im Anschluss an Schiller - Geschichte als Universalgeschichte mit dem "Endzweck", "die Freiheit sich zum Bewußtsein […] und damit zur Wirklichkeit zu bringen", zugleich als eine "Theodizee", denn jener Endzweck ist genau "das, was Gott mit der Welt will".
Hermann Menkes war die längste Zeit seines Berufslebens Journalist, seit 1907 fest angestellt beim "Neuen Wiener Journal" (NWJ). Neben Rezensionen, Theater- und Ausstellungsbesprechungen sowie Kulturnachrichten bespielte er ein Format, das, unter der Überschrift "Bei …", von Besuchen im Hause von Wiener Künstlern berichtete. Vier seiner hier erstmals vollständig dokumentierten und kommentierten Artikel galten Hofmannsthal. Zwei, aus den Jahren 1907 und 1910, sind im engeren Sinne 'Hausbesuche'; einer ist ein Gespräch anlässlich der Wiener Erstaufführung des "Jedermann" von 1913. Ein Artikel vom Januar 1924 erinnert an den jungen Hofmannsthal im Vorfeld seines 50. Geburtstages - wie überhaupt Menkes in den 1920er Jahren in einer Reihe von Reminiszenzen an die Jung-Berliner und -Wiener offenkundig an einem Mythos 'Jahrhundertwende' arbeitete (s. dazu den bibliographischen Überblick). Nicht aufgenommen wurden ins Thema der Hausbesuche Menkes' Nachruf auf Hofmannsthal und seine Besprechung des "Buches der Freunde" von 1929; auf einen Artikel vom 8. März 1934, drei Jahre nach Menkes' Tod, eine Bricolage aus seinen bereits gedruckten Gesprächen mit Hofmannsthal unter der Überschrift "Mein Wiedersehen mit Hofmannsthal", wurde ebenfalls verzichtet.
Du dilettantisme = Über den Dilettantismus / herausgegeben und übersetzt von Rudolf Brandmeyer
(2016)
Der hier übersetzte Text ist das zweite Kapitel einer Renan-Studie, die Bourget 1882 in einer französischen Zeitschrift veröffentlichte: Paul Bourget: Psychologie contemporaine. Notes et portraits. M. Ernest Renan. In: La Nouvelle Revue, 15. Jg., 15. März 1882, S. 233–271, hier S. 245–254: II. Du dilettantisme.
Die Titelgebung zeigt die relative Selbstständigkeit des Kapitels an: Abweichend von den anderen Kapitelüberschriften dieser Studie wird die behandelte Person nicht genannt und eine für Abhandlungen typische Überschriftsform gewählt. In diesem Punkt ist das Kapitel der "Théorie de la décadence" aus Bourgets Baudelaire-Studie von 1881 verwandt, gibt es doch ebenso wie jene "Théorie" eine aus dem Werk des behandelten Autors gewonnene, aber Anschlussfähigkeit suchende Analyse und Kritik des eigenen Zeitalters. Für deren Diagnose gab Bourget mit diesen beiden Texten wesentliche und prägende Vorgaben. Die Renan-Studie bildet das zweite Stück einer Serie von insgesamt zehn Aufsätzen zur "psychologie contemporaine", die in der "Nouvelle Revue" von November 1881 bis Oktober 1885 erschienen.
Ich äußere mich hier nicht als Hofmannsthal-Experte und bin auch seit langem nicht mehr hauptberuflich Philologe. Dennoch habe ich gern den Vorschlag angenommen, hier etwas beizutragen, weil "Der Turm" auch von großem theatertheoretischen Interesse ist. Zudem hatte ich mich immer wieder mit dem Dichter Hofmannsthal zu beschäftigen, zumal mit den frühen lyrischen Dramen, die in die Genealogie des postdramatischen Theaters der Gegenwart gehören. Das letztere ist keineswegs, wie oft geargwöhnt wird, per se textfeindlich, nur weil es eine Fülle überraschender neuer Theatermöglichkeiten jenseits des klassischen Modells einer Dramen-Aufführung entdeckt hat. Im Gegenteil kennt es von Peter Handke bis Heiner Müller, von Elfriede Jelinek bis Sarah Kane großartige zeitgenössische Theatersprachen, die allerdings nicht mehr dem Modell der dramatischen Repräsentation entsprechen. Sie entfernen sich mehr oder weniger weit von der tradierten Spannungslogik des dramatischen Theaters, ohne es doch gänzlich zu verlassen, während umgekehrt Künstler wie Robert Wilson, Jan Lauwers, Jan Fabre, Claude Régy und andere Bühnenidiome von komplexer 'poetischer' Art schaffen.
Dichterhäuser produzieren Mythen. Dies ist bei Hofmannsthals barockem Wohnhaus in Rodaun bei Wien nicht anders. Als Vorbesitzer seines Hauses erwähnt Hofmannsthal in einem Brief an Eberhard von Bodenhausen vom 16. März 1901 beiläufig einen Fürsten Trautson: das Haus sei "zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia von einem Fürsten Trautsohn, der ein Schwarzkünstler gewesen sein soll, für seine Geliebte gebaut worden". Das gemeinhin als 'Schlösschen Fuchs' oder 'Fuchs-Schlössel' bezeichnete Anwesen wurde von Hofmannsthal von 1901 bis zu seinem Tod 1929 bewohnt und von seiner Familie noch bis 1937 gemietet. Das Landhaus aus dem 17./18. Jahrhundert, dessen Erbauungs- oder Umgestaltungsdatum nicht belegbar ist, wird in der Forschungsliteratur zu Hofmannsthal, in Zeitungsartikeln und in der Lokalgeschichtsschreibung kaum mit Trautsohn, sondern vielmehr mit einer anderen Vorbesitzerin in Verbindung gebracht: mit einer der Kaiserin Maria Theresia nahestehenden Gräfin Fuchs.
Ein Gegenstand des vorliegenden Jahrbuchs ist mit den "Turm"-Dramen ein Werkkomplex, der den Lesenden und Forschenden die Rezeption nicht leichtmacht. Zweifellos ist der späte Hofmannsthal mit seinen Schrifttumsbelehrungen und taumelnden Führerschaften, seinen mitteleuropäischen Größenphantasien und dem aggressiven Kulturkonservativismus nicht eben populär - weder unter den Hofmannsthal-Leserinnen und -Lesern, noch in der Forschung. Das Unternehmen der 18. internationalen Tagung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft, sich im September 2014 in Basel ausschließlich diesem formal zerklüfteten und schwer zugänglichen Werkkomplex zu widmen, stellte daher ein Wagnis dar. Ein Wagnis auch deshalb, weil die einzig angemessene analytische Zugangsweise zu den drei im Zeitraum zwischen 1925 und 1927 entstandenen Dramen die ideologiekritische zu sein scheint. Doch hat die Forschung zu den politischen Ideologien des späten Hofmannsthal diese ideologiekritische Arbeit bekanntlich bereits geleistet. So wurde im weiteren Kontext der politischen Schriften der 1920er Jahre die erste Fassung des Dramas als für den Totalitarismus ideengebender Denkraum gedeutet. Die Frage nach den Herrschafts- und Souveränitätskonzeptionen, die im Zentrum der "Turm"-Dramen steht, wurde von einer fatalen historischen Finalität her gelesen, nämlich der Annahme einer Zwangsläufigkeit des Wegs von der Avantgarde in den Nationalsozialismus.
Als im Januar 1904 die von Paul Nikolaus Cossmann, Josef Hofmiller und Wilhelm Weigand konzipierten "Süddeutschen Monatshefte" in München zu erscheinen beginnen, handelt es sich dabei um eine der letzten großen Neugründungen im Feld der reichsdeutschen Rundschaupublizistik vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Trotz ihres verhältnismäßig späten Erstpublikationsdatums hatte die Zeitschrift eine offenkundige Lücke innerhalb der Münchner Presselandschaft geschlossen. Darauf weist bereits der Germanist Franz Muncker hin, wenn er die "Süddeutschen Monatshefte" in einer Rezension aus Anlass ihres fünfjährigen Jubiläums als die "erste Münchner Monatsschrift" charakterisiert - und damit keineswegs nur den führenden Rang der Zeitschrift herausstreicht.
"Ich hatte Zweifel geäußert", erinnert sich Max Mell an ein Gespräch mit Hugo von Hofmannsthal vom Mai 1925, über die Art, wie Sigismund von der Zigeunerin ermordet wird, und sagte: es gibt eine mystische Art der Verknüpfung […] und eine intrigante, die das alte Schauspiel meinte; daß aber diese mystische Art die Sinnfälligkeit der intriganten, ihre theatralische Qualität haben müßte. […] [Olivier] müßte also schon zu Beginn eine drohende Haltung einnehmen, etwa konspirieren und seine künftige revolutionäre Haltung andeuten […]. Das leuchtete Hofmannsthal sehr ein […].
Versteht man Hofmannsthals ein Jahr spätere Äußerung, in der dritten Fassung des "Turm" die epische Tendenz abwehren und statt dessen das dramatische Moment wahren zu wollen, vor dem Hintergrund dieses Gesprächs, liegt es nahe, das Dramatische an die Intrige zu knüpfen.
"Der Turm" und der Krieg
(2016)
"Vor dem Turm. Vorwerke, halb gemauert, halb in Fels gehauen. Zwischen dem Gemäuer dämmerts, indessen der Himmel noch hell ist." Die Szenenbeschreibung zu Beginn von Hofmannsthals Trauerspiel "Der Turm" skizziert eine düstere, unbehagliche Situation. Ein wuchtiges Hindernis stellt sich da in den Weg, zur Hälfte von Menschenhand gebildet, zur anderen aus der Natur genommen. Dunkle Konturen, die sich eben erst, im Licht der Dämmerstunde, zu neuen Formen ordnen. Vom Blick der Herannahenden erfasst wird das massive Bollwerk im Vorfeld eines beeindruckend aufragenden Verlieses, jenes titelgebenden Turmes, der hier buchstäblich seinen Schatten voraus wirft.
Räumliche Lage und dramaturgischer Zeitpunkt treten zu einer doppelt bestimmten Schwellenposition zusammen, beide befinden sich vor dem Turm. Es sind Kriegszeiten, das Leben ist karg, die Söldner murren, sind aufgewühlt. Soldaten "auf Grenzbewachung" durchstreifen das Gelände.