Komparatistik online 2013 : Weltentwürfe des Fantastischen ; Erzählen - Schreiben - Spielen
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Bernhard Hennens zeitgenössischer Roman "Nebenan" erzählt über einen Zeitraum von einigen Monaten hinweg die Geschichte einer Gruppe von Studenten der Universität zu Köln, die – nach der Öffnung eines Tors in die als "Nebenan" bezeichnete Anderswelt – im Mittelpunkt des Konfliktes zwischen "guten" fantastischen Wesen – Heinzelmännchen, die unter der Universität wohnen, und deren Verbündeten, die die reale Welt vor negativen Einflüssen aus der fantastisch-magischen Sphäre "Nebenans" schützen – und "bösen" fantastischen Wesen wie den aus "Nebenan" nach Köln entrückten Erlkönig und Grafen Cagliostro stehen. Dieser Konflikt kulminiert in einem Krieg in der realen Welt, der von den Studenten gemeinsam mit den Heinzelmännchen und anderen Parteien gewonnen wird, wodurch die reale Welt vor einer Invasion von Wesen – von Drachen bis hin zu Riesen – aus der Anderswelt und deren Machtübernahme bewahrt wird.
Der Roman zeichnet sich unter anderem durch einen mehrfachen parallelen Diskurs aus, der die beiden Ebenen des realen und fantastischen Raumes kontinuierlich miteinander kombiniert. Im Zentrum der narrativen Struktur steht das räumliche und zeitliche Nebeneinander von Fantasie und Realität, deren Ebenen nicht zu trennen sind und die nicht ohne einander existieren können. Der Wegfall der einen Ebene würde den Zusammenbruch der Handlung, der Ästhetik, der tieferen Bedeutung der Fiktion etc. bedeuten – kurzum: Der Wegfall einer Ebene würde dem Wegfall der epischen Relevanz des Textes gleichkommen.
Dieser Paralleldiskurs äußert sich in einem Verschwimmen der Grenzen, denn solche werden im Roman auf primärer Ebene kaum gezogen. So ist beispielsweise der Technisierungsgrad der Heinzelmännchen bemerkenswert, die sich als mahnende Quälgeister mit magischen Fähigkeiten und Gegenständen in die Realität einmischen, wenn esgeboten erscheint – das heißt, dass sich fantastische Wesen ganz unproblematisch, fast "natürlich", realer Technologien bedienen können, und andersherum ist nicht nur die Existenz realen Lebens in der märchenhaften Anderswelt denkbar, sondern eindeutig möglich: Die Studentengruppe rund um den Träumer Till bewegt sich ohne physische Einschränkungen oder dauerhaft Schaden zu nehmen in der völlig anders organisierten und strukturierten Welt von "Nebenan".
"Writing Worlds" – ich möchte den Titel der Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung 2013 absichtlich anders verstehen als die naheliegende Bedeutung und ihn mit "schreibende Welten" übersetzen, um mich so einer nicht schreibenden Welt zuwenden zu können: François Truffauts "Fahrenheit 451". In seiner Verfilmung von Ray Bradburys Roman verabsolutiert Truffaut die Quintessenz der Vorlage und präsentiert dem Rezipienten eine Welt, in der nicht nur bestimmte Bücher dem Zensus zum Opfer fallen, sondern die Schrift an sich verboten ist. Dabei wird das Buch durch drei Elemente als Bewahrer der Menschlichkeit und Kultur inszeniert:
1. Der Film affiziert die Bildwand mit negativen Attributen und stellt sie als gekünstelt, kalt und unmenschlich dar. Darüber hinaus fungiert sie als Sprachrohr des herrschenden totalitären Regimes.
2. Auf der Ebene der Story erleben wir als Rezipienten den Wandel der Hauptperson Montag mit. Dieser wandelt sich vom systemtreuen Feuerwehrmann zum Systemgegner. Sein Weg zur Freiheit ist dabei unmittelbar mit einer Hinwendung zum "Buch" und der Emanzipation gegenüber der Bildwand verbunden.
3. Die Bücher, die im Film verbrannt werden, sind überwiegend Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, wodurch das Verbot dieser Bücher wie eine Agitation gegen die Kultur erscheint.
Welten im Rahmen fantastischer Literatur brechen an der einen oder anderen Stelle mit der außerliterarischen Welt und unterscheiden sich von ihr meist darin, dass sie als deviante Welten wahrgenommen und von den LeserInnen nicht mehr für das Abbild der extrafiktionalen Welt gehalten werden. Ganz gleich, ob die fantastische Welt ihre Abweichung dadurch erhält, da sie in einer fernen Zukunft oder einem alternierenden Geschichtsgang, einem anderen Realitätssystem oder gar einer ganz neu geschaffenen Umgebung angesiedelt ist, das "Andere" ist für die Unterscheidung von der außerliterarischen Realität notwendig. In manchen besonderen Fällen ist die Erzählung aber nicht auf bloß eine Welt beschränkt, sondern breitet sich auf zwei oder mehrere Welten als Handlungsorte aus.
Parallelweltliteratur umfasst sowohl Texte, in denen durch das Einbrechen des wunderbaren Anderen eine "Welt in der Welt" erschaffen wird, ähnlich wie es in Homers Odyssee, Swifts Gulliver's Travels, oder, um ein neueres Beispiel zu nennen, Neil Gaiman's Neverwhereder Fall ist, als auch jene Texte, in denen eine Welt gänzlich verlassen wird und sich der Handlungsort auf eine neue, von der ursprünglichen Welt abgekoppelte, alleine stehende Welt verlagert. Als Exempel hierfür wäre neben James M. Barries Peter Pan auch das Grimm'sche Märchen der Frau Holle zu nennen. Im Folgenden wird das Augenmerk ausschließlich auf Parallelwelttexten der letzteren Kategorie liegen, da also mindestens zweivon einander getrennte Welten als Handlungsort eingesetzt sind und da ein Wechsel der ProtagonistInnen zwischen den Welten die inhaltsgebende Struktur bringt.
Das Gestalten fiktiver Welten ist ein Leitmotiv des Phantastischen. Mit dem "clash of realities" als gattungsdefinitorischem Merkmal nimmt die spezifische Weise, in der diese Bereiche inszeniert werden, und deren qualitative Bestimmung einen bedeutenden Raum in der Theorie des Phantastischen ein. Dieses zeigt sich darin zugleich auch als ein ästhetisches Paradigma, das nicht gattungs- oder gar mediengebunden ist, sondern seine spezifische Ausprägung in Abhängigkeit von dem Kontext erhält, innerhalb dessen es in Erscheinung tritt. Im Fall des phantastischen Rollenspiels wird das Überschreiten der Grenze zu diesen andren Welten zum Leitmotiv – als Raum, der nicht im Sinne z.B. einer ausgeschriebenen Text- oder Filmwelt fixiert ist, ermöglicht dieses Medium wie kein anderes die Entgrenzung der phantastischen Welt, die es in sich entwirft. Die dergestalt "grenzenlos" werdende Phantastik, der grenzenlos werdende PhantasieRaum bedingt einerseits ein schier unüberschaubares Ausmaß an Erscheinungsformen, andererseits aber auch die Problematik des Flüchtigen, Nicht-Fassbaren, das zwischen Spielwelt und physischer Realität changiert. Im Folgenden soll es um die Bestimmung dieses spezifischen Phantasie-Raumes gehen. Mit Blick auf die strukturellen Bedingungen des Mediums Rollenspiel wie seines Themas, des Phantastischen, stellen sich im Wesentlichen zwei Fragen. Erstens: Auf welche Weise eröffnet das Medium Rollenspiel seinen Raum? Und zweitens: Um was für einen Raum handelt es sich dabei?
Unter Zuhilfenahme der Lotmanschen Raumtheorie, deren Prägnanz für die Beschreibung fantastischer Literatur nicht neu ist, sondern von Marianne Wünsch, Hans Krah und Henning Kasbohm bereits beschrieben wurde, werden in vorliegendem Aufsatz die Grenzen der literarischen Fantastik abgesteckt. Im Anschluss hieran bleibt zu erörtern, wie sich das Moment der Unschlüssigkeit, also die "Unordnung der Räume", wie Kasbohm es formuliert hat, einstellt.
Dass der Erzähler hierbei eine immens wichtige Rolle einnimmt, haben Thomas Wörtche und Uwe Durst bereits angenommen. Gegenstand des zweiten Abschnittes ist die Frage, welche Aufgabe ihm genau zukommt.
Dabei wird erläutert, wieso die These vom destabilisierten Erzähler als "inszenatorische Grundlage der phantastischen Literatur" derartige Anerkennung findet. Nach einer Beschreibung dessen, was mit Destabilisierung genau gemeint ist, ist die Annahme zu plausibilisieren, dass für eine exaktere Bestimmung der Art der vorliegenden Fantastik mithilfe der Raumtheorie eine Verbindung mit der Theorie der erzählerischen Unzuverlässigkeit gewinnbringend sein kann. Abschließend finden die raumtheoretischen Folgerungen, die aus den ungleichen Möglichkeiten der Evokation des Moments der Unschlüssigkeit resultieren, Erwähnung. Ich werde mithin der Frage nachgehen, wer hier auf der Schwelle steht, wer der Grenzgänger in fantastischer Literatur ist.