Komparatistik online 2014 Heft 2 : Polyglotte Texte
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In diesem Beitrag wird der Sprach(en)gebrauch der venezianischen Juden im 16./17. Jhd. untersucht. Dabei geht es um die Sprachen der verschiedenen jüdischen Gruppen, die gemeinsam im neu eingerichteten Ghetto wohnten. Insbesondere wird der Frage nachgegangen, welchen Gebrauch sie von unterschiedlichen Sprachen/Varietäten in unterschiedlichen kommunikativen Situationen und zu unterschiedlichen Zwecken gemacht haben. Dabei traten selbstverständlich auch Sprachmischungen auf, die von unbewussten Interferenzen über Entlehnungen (aus dem Hebräischen/Aramäischen, aber auch aus dem Venezianischen und den anderen von Juden gesprochenen Sprachen), bis hin zu ganz bewusst verwendeter Zwei- und Mehrsprachigkeit in literarischen Texten z. B. mit sprachspielerischer Absicht reichen. Die verschiedenen Textsorten, die hierzu analysiert werden (etwa Texte religiösen Inhalts, Testamente, Grabinschriften und Gedichte), spiegeln auf vielfältige Weise zugleich das Sprach- und Sprachenbewusstsein der venezianischen Juden jener Zeit wider.
Der Beitrag untersucht Polyglossie als eine Form der ästhetischen Polyphonie. Damit rücken die Aspekte der Vielstimmigkeit und Multiperspektivität in den Blick, poetologische Verfahren, die wesentlich die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts prägen. Die zivilisatorische Moderne ist gekennzeichnet durch Dialogizität und Vielstimmigkeit, Dezentralisierung und Heterogenität, Simultanität und Interferenz. Über eine Ästhetik des Polyphonen re-lektieren literarische Texte so Merkmale einer modernen Lebens- und Erfahrungswelt, was anhand von Alfred Döblins modernem Großstadtepos "Berlin Alexanderplatz" veranschaulicht wird.
"Kapabel, miserabel, aimabel" : Funktionen der französischen Sprachelemente in Heinrich Heines Lyrik
(2014)
Durch das gesamte Werk Heinrich Heines ziehen sich fremdsprachige Einstreuungen, wobei diejenigen in französischer Sprache das größte Gewicht einnehmen. Nach einem Rekurs auf Heines biographische Situation und sein Verhältnis zur deutschen und französischen Sprache werden Form und Funktion der französischen Einsprengsel – vor allem Adjektive, substantivierte Verben und Interjektionen – in Heines lyrischen Texten untersucht. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt der Beitrag, dass die französischen Elemente offensichtlich bewusst eingesetzt wurden, um bestimmte semantische Strategien zu verfolgen. Dabei können vor allem sprach-spielerische und gesellschaftskritische Funktionen nachgewiesen werden.
Der Beitrag untersucht die historischen Hintergründe und die Funktion von Polyglossie in den skandinavischen Literaturen und analysiert eine Szene aus Johan Ludvig Heibergs Vaudeville "Recensenten og Dyret" (1826, Der Rezensent und das Tier). Die Figuren dieses Stückes beherrschen verschiedene Sprachen und führen müheloses Code-Switching vor, so dass sich Polyglossie im mehrstimmigen Gesang zur Harmonie fügt. Heibergs Unterhaltungstheater wird als Ausdruck einer Offenheit für interkulturellen Transfer und als Ablehnung einer bornierten Einstellung gegenüber nationaler Kultur interpretiert.
Der Beitrag macht Polyglossie als wesentliche Komponente der kunstvoll literarisch gestalteten Redevielfalt deutlich, die allgemein als Kennzeichen von Fontanes Gesellschaftsromanen gilt. Polyglotte Rede umfasst in Fontanes Texten fremdsprachige Elemente, Dialekt und Soziolekt und betont so die soziale Funktion von Sprache. An konkreten Textbeispielen, insbesondere aus den Romanen Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Quitt, wird gezeigt, wie variabel Fontane Sprachenvielfalt einsetzt: als Polyphonie der sozialen Stimmen und als Spiegel einer komplexen modernen Realität, die in vielfältige soziale, kulturelle und geographische Teilräume zerfallen ist.
Valery Larbaud, der unter anderem als Wegbereiter von Joyce in Frankreich gilt, ist als mehrsprachig kompetenter Autor von Werken mit fremdsprachigen Einlagerungen eine wichtige Vermittlerinstanz zwischen der standardisierten literarischen Polyglossie des 19. Jahrhunderts von Mérimée bis Loti und den vielfältigen neuen Varianten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben. Noch deutlicher als an den Erzählungen und Gedichten zeigt sich das an seinen Reisetagebüchern, die jetzt in einer kritischen Gesamtausgabe vorliegen und durchaus als Literatur sui generis gelten dürfen. Mehrsprachig sind sie als Ganzes: zum einen in dem Sinn, dass ein beträchtlicher Teil von ihnen auf Englisch und nicht in Larbauds Muttersprache Französisch verfasst ist, seltsamerweise aber gerade nicht die in England geschriebenen Hefte; zum anderen durch die Übernahme von zahlreichen fremdsprachigen Wendungen in die jeweilige Trägersprache, so dass streckenweise geradezu der Eindruck einer individuellen französisch-englisch-spanisch-italienischen Mischsprache entsteht. Mit dieser Schreibpraxis verbunden und im Journal ebenfalls gut dokumentiert sind außerdem ein lebhaftes linguistisches Interesse am Sprachvergleich und ein eigenartiges, mit erkennbarer Lust betriebenes Versteckspiel mit der eigenen sprachlichen Identität gegenüber Dritten.
Trojanows Roman über den britischen Kolonialoffizier Richard F. Burton wurde als Beispiel einer neuen deutschen Literatur gefeiert, die endlich "Vielstimmigkeit" zu ihrem Programm erhoben habe. In diesem Beitrag wird der spezifische Einsatz von Polyglossie im "Weltensammler" untersucht. Dabei interessiert im (post-)kolonialen Kontext, in dem der Roman verortet wird, ob man tatsächlich von einer "Poethik [!] der Mehrsprachigkeit" (Schmitz-Emans) ausgehen kann, oder ob die "fremden Stimmen" der "Subalternen", die der Roman hören lässt, nur ein weiteres Mal exotische Fremdheit vorführen.
Der Beitrag untersucht Dantes Verhältnis zur Mehrsprachigkeit, indem er die in "De vulgari eloquentia" enthaltenen Reflexionen bezüglich des Gegensatzes zwischen Volkssprache und gramatica und bezüglich der Suche nach einer italienischen Literatursprache (volgare illustre) nachzeichnet. Obwohl Dante in "De vulgari eloquentia" die Volkssprache höher bewertet als die "gramatica", weil sie im Gegensatz zu dieser natürlich sei und allen Menschen zur Verfügung stehe, dient ihm die "gramatica" aufgrund ihrer Stabilität als Vorbild für die erst noch zu schaffende, allgemein verbindliche und zeitüberdauernde Volkssprache als Literatursprache. Nach seiner Vorstellung ist das "volgare illustre" eine Quintessenz aller italienischen Varietäten und somit im Prinzip schon ein mehrsprachiges Instrument. Die Sprache der Divina Commedia ist geprägt durch eine konstitutive Mehrsprachigkeit, welche sich einerseits aus den verschiedenen Varietäten des Italienischen speist und andererseits aus den anderen Dante verfügbaren Sprachen, insbesondere dem Lateinischen, dem Okzitanischen und dem Altfranzösischen. Im Gegensatz zu der bis dahin in mehrsprachigen literarischen Texten üblichen Abgrenzung der Sprachen kommt es bei Dante zu einer Verschmelzung der Sprachen, welche vor allem auf der von ihm geschaffenen Form der Terzine beruht.
Innerhalb der barocken, von der Rhetorik dominierten Poetik gilt Sprachmischung als Abweichung von der puritas und folglich als ein Fehler (vitium), weshalb sie auch als "barbarolexis" bezeichnet wird. In Andreas Gryphius' Scherzspiel "Horribilicribrifax Teutsch" (1663) wird diese Fehlerhaftigkeit nicht bloß ausgestellt, sondern zugleich ethisch instrumentalisiert. Es kommt so zu einer Spannung zwischen den guten und sprachlich reinen Charakteren auf der einen Seite und den schlechten, sprachlich verunreinigten Charakteren auf der anderen Seite. Die Struktur der Sprachmischung macht dabei das Konzept des verunreinigten Charakters sichtbar. Gryphius entwickelt anhand des Liebeswerbens der soldatischen Maulhelden und des Gelehrten, die als Komödientypen die barbarolexis verkörpern, das Prinzip der Hybris als des Grenzen verletzenden Hochmuts. Dieser bedroht Sprache und Erotik gleichermaßen, kann aber vom impliziten Autor des Stückes abgewehrt werden. Mittels der Überblendung ethischer, erotischer und linguistischer Verunreinigung entfaltet der barocke Autor eine purgatorische Komik und geht mit dieser dichterischen Lösung der "barbarolexis" über die bloße sprachpuristische Polemik hinaus.
Ziel der russischen Avantgarde ist eine Erneuerung und "Wiederbelebung" der im Panzer der Vernunftgläubigkeit erstarrten modernen Gesellschaften, die über einen radikalen Bruch mit der konventionellen Sprache erfolgen soll. Sprache und damit auch Leben sollen wieder als Selbstzweck erfahrbar werden. Dabei geht es bei der kühnen Zerschlagung jedweder Regeln von Lexik und Grammatik nicht einfach um das Ausleben schrankenloser künstlerischer Freiheit und Kreativität. Hinter dem Drang zu Innovation und Provokation steht ein seltsam kontrastierendes Anliegen: der Traum von der Rückkehr zu einer "Ursemiotik", einer Ursprache, die einst alle Menschen verband und in der Zeichen und Ding, menschliches Bewusstsein und Welt noch ungeschieden waren. Für diese Rückkehr ins Ursprünglich-Universelle erachtet Velimir Chlebnikov, dessen Werk hier vor allem untersucht wird, die russische Sprache als geeigneter als die Sprachen der fortgeschrittenen westlichen Zivilisationen, die sich in seinen Augen zu weit vom Ursprung entfernt haben. Nicht zufällig sucht Chlebnikov für seine Konzeption der Ursprache seine "Bündnispartner" in den orientalischen Sprachen, nicht in den westlichen. Diese Suche wird im vorliegenden Beitrag anhand zahlreicher Beispiele nachvollzogen.