Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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Der Beitrag sucht Georg Christoph Lichtenbergs Position im Sprachdenken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bestimmen. Diese ist durch eine Kombination von anthropologischen und technisch-pragmatischen, sprachhandwerklichen Überlegungen zur "Wörterfertigung" geprägt, bei der Fragen von Lexik und Nomenklatur im Vordergrund stehen. Zu den Leitkriterien des guten Stils gehören Lichtenberg zufolge Wahrheit und Genauigkeit sowie Natürlichkeit und Individualisierung.
Der Beitrag untersucht den Gebrauch des Tonbegriffs im ästhetischen und poetologischen Diskurs des mittleren und späten 18. Jahrhunderts. Ausgangspunkt dafür ist eine Verhältnisbestimmung der Termini Schreibart, Stil und Ton, aus der die gattungspoetologische Bedeutung des Tons hervorgeht. Entgegen dem seit der romantischen Ästhetik dominanten Verständnis verbindet die Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts (Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Joachim Eschenburg, Johann Jakob Engel, Johann Christoph Adelung) mit dem Begriff nicht nur die klangliche Dimension von Literatur, sondern auch eine affektive Grundierung von Gattungsformen und ein Konzept für die Beschreibung von gattungshybriden Texten.
Am Nachdruck, wie er bei Johann Christoph Gottsched, Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger, Johann Georg Sulzer und Johann Gottfried Herder diskutiert wird, lässt sich exemplarisch beobachten, wie eine Gruppe von rhetorischen Verfahren zur Kennzeichnung von nationalen Kollektivstilen ausgebaut wird. Eine wichtige Voraussetzung für die Ausweitung des Nachdrucks von einer Stilfigur zu einem 'nachdrücklichen Stil', so die hier verfolgte These, ist der über physikalische Leitvorstellungen von Druck, Stoß und Wurf geleistete metaphorische Anschluss an ästhetische Kraftvorstellungen.
Der Begriff des 'körnigen Stils' steht in der Sprach- und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts für eine kurze und gehaltvolle, oft auch als 'nachdrücklich' beschriebene Schreibart. Im Literaturstreit zwischen Johann Christoph Gottsched und den 'Schweizern' erlangte er zugleich programmatische und polemische Bedeutung. Im Zentrum des Aufsatzes steht die für das 'Körnige' konstitutive Konstellation von Kürze, Kraft und Konkretion. Ausgehend von Theodor W. Adornos stilsoziologischer Beobachtung, dass der lakonische Stil in Briefen des 18. Jahrhunderts Ausdruck bürgerlicher Notdurft sei, zeige ich an Texten von Johann Christoph Adelung, Johann Jacob Breitinger, Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Gottfried Herder, dass das Stilideal des Körnigen im 18. Jahrhundert mit dem Streben nach einer Erneuerung und Bereicherung der deutschen Schriftsprache einherging. Zum Kapital, aus dem diese neue Sprache sich speisen sollte, gehörte das ausdifferenzierte Vokabular des Handwerks und des Handels. Der zeitgenössischen Theorie zufolge stellte der körnige Stil also weniger die Notdurft als den Reichtum und die Sprachmächtigkeit des Bürgertums zur Schau.
In seinem Frühwerk "Über die neuere deutsche Literatur" arbeitet der junge Johann Gottfried Herder an der Herausbildung einer neuen Prosa. Durch kommentiertes Zitieren aus den "Briefen, die neueste Literatur betreffend" entwirft er das Ideal einer 'biegsamen' und 'behaglichen' ungebundenen Schreibweise, die sich ganz wesentlich in Stilversuchen manifestiert - in beschriebenen, kritisierten und zitierten sowie denjenigen des Verfassers selbst.
Beispiel und Regel im 18. Jahrhundert. Ein Blick in Christian Ludwigs zweisprachige Wörterbücher
(2024)
Zweisprachige Wörterbücher des 18. Jahrhunderts sind eine wichtige Quelle für die Analyse impliziter stilistischer Urteile. Sie wurden einerseits, insbesondere in der zweiten Jahrhunderthälfte, von den präskriptiven Regeln der großen monolingualen Wörterbücher und Grammatiken beeinflusst, andererseits hatten sie die Aufgabe, Fremdsprachenlernern deskriptiv Gebrauchsmuster an Beispielen vorzuführen. Der Beitrag zeichnet nach, wie sich die Autoren dieser doppelten Herausforderung stellten und wie das entstehende präskriptive Regelsystem vor dem Hintergrund der Stilpluralisierung im 18. Jahrhundert zu interpretieren ist.
In seiner "Poétique française" (1763) und seinen "Eléments de littérature" (1787) entwickelt der französische Dichter und Theoretiker Jean-François Marmontel Ansichten zum Stil, die von der traditionellen Regelpoetik geprägt sind, allmählich aber einen Übergang zur Individualstilpoetik andeuten. Während er diese verschiedenen Paradigmen durch den Geschmacksbegriff noch zu vereinen sucht, zeigt die deutsche Rezeption seiner Theorie, insbesondere Gottlob Benedikt von Schirachs Übertragung, wie sich der Kompromiss aufzulösen beginnt und wie sich neben der Durchsetzung der Individualstilpoetik auch eine Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst anbahnt.
Für die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein umfassender Wandel im Bereich des Stilverständnisses konstatiert, das ab 1750 von zwei gegensätzlichen Stilbegriffen geprägt ist: einem traditionell rhetorischen einerseits und einem sich neu etablierenden Individualstil andererseits. Der Beitrag versucht, mit einem Schlaglicht auf das Frühwerk Johann Georg Hamanns ("Sokratische Denkwürdigkeiten" und "Wolken") diesen für das Verständnis der stilgeschichtlichen Umbrüche zentralen Autor im skizzierten Diskursfeld zu verorten. Ein näherer Blick auf Hamanns sokratische Schreibart erlaubt es, die geläufige Rollenzuschreibung, die in Hamann vor allem einen Wegbereiter des Individualstils erkennt, zu problematisieren und ein Paradox herauszuarbeiten: Die Entwicklung zum Individualstil beginnt im Falle von Hamanns ironisch verstellter Maskenrede mit einer radikalen Depotenzierung der Autorinstanz.
Im vorliegenden Beitrag geht es um die Frage, wie sich Natürlichkeit als ein zentrales Stilkonzept im 18. Jahrhundert auf die syntaktische Gestaltung von Texten ausgewirkt hat. Grundlage der empirischen Untersuchung sind neunzig Musterbriefe, die aus drei Ausgaben des Schröter'schen Briefstellers (1,1743, 7,1767, 8,1785) stammen und die im Sinne der 'neuen' Stilauffassungen überarbeitet wurden. Die Briefe zeigen unter anderem einen Rückgang in der Satzkomplexität, eine Aufwertung der Selbstreferenz und eine verstärkte Einbindung mündlichkeitsnaher Strukturen.
Um 1750 zeichnet sich eine grundlegende Verschiebung in der Funktion des Stilbegriffes ab, die sowohl die Theorie als auch die Praxis literarischen Schreibens veränderte. Während sich das an der frühaufklärerischen Erkenntnistheorie orientierte Ideal der ersten Jahrhunderthälfte als analytischer Stil beschreiben lässt, zielt die Dichtungstheorie und -praxis in der zweiten Jahrhunderthälfte auf einen synthetischen Stil, der sich im poetischen Text als "übersummatives Ganzes" (Ulf Abraham) manifestiert; die poetische Absicht wird durch diesen Stil in einem korrelativen Verhältnis von Text und Einbildungskraft verwirklicht. In einer vergleichenden, den historischen Kontext einbeziehenden Analyse zweier Gedichte von Barthold Heinrich Brockes und Friedrich Gottlieb Klopstock wird nachgewiesen, dass sich das Verständnis von Stil von einer Art Verdoppelung des Erkenntnisprozesses (Brockes) zu einer kognitiven Funktion (Klopstock) hin verschiebt.
Hugh Blairs umfangreiche "Lectures on Rhetoric and Belles Lettres" sind eines der erfolgreichsten Werke der englischsprachigen Rhetoriktradition. Der Stilbegriff bildet das Zentrum von Blairs Ästhetikkonzept. Blair greift einerseits auf die rhetorische Tradition zurück, bezieht sich andererseits aber auch auf wahrnehmungstheoretische Überlegungen aus der zeitgenössischen empiristischen Psychologie. Neben den ästhetischen Qualitäten des Stils rücken dabei Fragen der Verständnissicherung durch stilistische Klarheit in den Fokus. Blairs "Lectures" greifen damit über das Feld der Ästhetik entscheidend hinaus.
Um 1750 gelangt die ethopoetische Funktion des Stils in den Fokus verschiedener Autoren, welche die Kategorie in Rhetorik, Poetik und Ästhetik neu vermessen. Johann Christoph Gottscheds Rhetorik weiß den Stil als Übung zu nutzen, um Empfinden und Denken der Schüler zu trainieren. Der Charakter der Schüler resultiert somit aus einem Ausbildungsprogramm, das vom Spracherwerb bis zum Verfassen von Reden reicht. Johann Jacob Breitinger erläutert in seiner Poetik, wie die Sprache auf einer semiotischen Ebene auf verschiedene Arten Kraft ausübt, um das Gemüt zu bewegen und damit sinnliche Erkenntnisse zu generieren. Stil als Übung und Stil als Darstellungsverfahren vereint Alexander Gottlieb Baumgarten in seiner Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, die sowohl eine Vervollkommnung des sinnlichen Erkennens anstrebt als auch die Verfahren beleuchtet, die für die Darstellung der sinnlichen Erkenntnis verantwortlich sind.
Der interdisziplinäre Sammelband eröffnet neue Perspektiven auf den Stil als bislang unterkonturierte literaturwissenschaftliche Leitkategorie unter transnationalen, wissens-, gattungs- und sprachgeschichtlichen Gesichtspunkten. Im 18. Jahrhundert zeichnet sich im Nachdenken über Schreibarten eine Neujustierung der Stilkategorie ab, die den Stil zur Reflexionsgröße für ästhetische Diskurse macht. Der Band sondiert die Pluralisierung, Historisierung und Individualisierung der Stilkategorie, die ihr neue literatur- und kulturtheoretische Anwendungsbereiche eröffnet. Die Bewegungen zwischen den Sprachen, Literaturen, Medien und semantischen Feldern erschließt die Publikation, indem sie europäische Vergleichshorizonte eröffnet und literatur- ebenso wie sprachwissenschaftliche Ansätze präsentiert. Damit leistet sie einen Beitrag zum Feld der komparatistisch ausgerichteten Germanistik, insbesondere der Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts und des europäischen Kulturtransfers.
How can music history help us understand the establishment of national character? This article discusses a prosaic text by Johann Friedrich Rochlitz as a medium for implementing stereotypical ideas of "the Italian" in German music historiography and, thereby, in public consciousness. It shows how particular musical qualities of the story's fictional protagonists are blurred with ideas of national character. Against this background, the predominant reception of the author Rochlitz in the realm of German music historiography can be reevaluated from a more transnational scholarly perspective. Key to this reassessment is investigation into the categories of fictional and musical characters with regard to notions of both "the German" and "the Italian."
This article contributes to the European history of musical nationalism with regard to operatic debates in the eighteenth century. The investigation reveals that within operatic debates national categories were used for all levels of the multimedia genre of opera: music, text, composer, and actor. Moreover, the relationship between national character and national taste was a highly critical point: there was general agreement that only outstanding aesthetic abilities enable composers to go beyond their own particular national character. Only in this respect could aesthetic abilities stand above national taste, which was said to be shaped by national character.
Throughout history, songs have been considered effective instruments to strengthen the formation of collective identities. Eighteenth-century Dutch songwriters engaged with this idea in their striving for national unity. Political songs from that period employ several tropes, and the music often reinforces such images through musical imagery and intertextual references. Moreover, the imagined identities voiced in the songs might have become embodied identities through the performative act of singing. Therefore, for an investigation of the construction of collective identities in songs, the imagological approach can be expanded to musical imagery and take into account cognitive theories explaining the effects of singing.
Italy has experienced a high number of earthquakes. However, the identity of "the Italians" has not yet been defined by their "landscape of wounds." Referring to an earthquake in central Italy (Amatrice) in August 2016, the French satirical magazine Charlie Hebdo published a controversial caricature of two wounded Italians standing alongside the "Lasagnes," a pile of bodies layered like the well- known Italian pasta dish. By analysing the caricature's text, intertext, and context, while drawing on imagology and geopoetics, this article aims to show how earthquakes are linked to Italian cultural stereotypes and national identity.
In visual narratives such as comics, national images are actually depicted. While Franco-Belgian comics have been the subject of detailed studies regarding the national stereotypes they convey, Flemish comics have been largely ignored. This article focuses on three albums of the Flemish comic series "Suske en Wiske", in which the heroes travel to a fictitious Eastern Bloc country, Japan, and China. It will examine how both heteroimages and auto-image are presented (visually, textually, and as part of the plot), and how comic characters may combine contradictory ethnotypes. As it will turn out, in the early album (1945) ethnotypes are perpetuated, whereas in later ones (1984, 2008) they are rather undermined.
Visual representations of sexual violence in the Bosnian War in Jasmila Žbanić's "Grbavica" (2006) and Angelina Jolie's "In the Land of Blood and Honey" (2011) reveal different dimensions of victim feminism. Both directors sought to raise awareness of the issue of wartime rape and to direct viewers' attention to the pain of the distant Other. An intersectional analysis of the two productions (one domestic and one US-based) helps convey the impact of national and gender stereotyping both on self-representations and on representations of Otherness. Moreover, the analysis of a cinematic response to the Western gaze encourages rethinking prevalent images of the so-called Balkans.
This article examines striking similarities between stereotypical characters in Caroline Lee Hentz's US-American plantation novel "The Planter's Northern Bride" (1854), and Charlotte Brontë's classic "Jane Eyre" (1847). Especially, a connection can be made between Hentz's Italian "Madwoman in the attic" Claudia, and Brontë's transatlantic Caribbean counterpart Bertha. An intersectional methodology performed through a close reading will show how both women are literally and metaphorically trapped within spaces and stereotypes. This article transfers imagology into a global setting while extending its scope beyond investigating national characteristics.
Nationality traditionally is one of imagology's key terms. In this article, I propose an intersectional understanding of this category, conceiving nationality as an interdependent dynamic. I thus conclude it to be always internally constructed by notions of gender, sexuality, race, class, religion, age, ability, and other identity categories. This complex and multi-layered construct, I argue, is formed narratively. To exemplify this, I analyse practices of stereotyping in Honoré de Balzac's "Illusions perdues" (1843) and Henry James's "The American" (1877) which construct the so-called 'Parisienne' as a synecdoche for nineteenth-century France.
Starting from the definition that stereotypes are based on categorization and attribution, this article first deals with the relationship between categorization and stereotyping as well as images and imagology. The multitude of categories and stereotypes used in the process of perception raises the question of which categories are decisive in which social contexts and how different social categories are intertwined. Following an examination of categories, stereotypes, and images, these questions of interdependence lead to the fourth important topic of this article: intersectionality.
This study compares and analyses hetero-stereotypes in Flaubert's travelogue "Voyage en Égypte" and Bachmann's prose fictions "Wüstenbuch" and "Das Buch Franza" in order to find out to what extent Flaubert resorts to stereotypical representations of the colonial Orient, and Bachmann perpetuates, transforms, or revises Flaubert's imagological discourse in the age of postcolonialism. Whereas Flaubert's sexist and racist narrative posits white superiority, Bachmann's protagonists subvert the male hegemonic stance of her French predecessor, insisting on white and male inferiority, causing just another stereotypization of race and gender.
The ways in which Self and Other are represented in fiction play a significant role in the formation of racial and other stereotypes in any culture. This article is a reading of the children's book "The Brave Rabbit in Africa" (1931) by Slovak modernist author Jozef Cíger-Hronský. It attempts to point out and analyse the ways in which racial and national identities are constructed in the written text of the book. Arguably, the story deploys colonialist motifs typical of Western literature in order to appraise the modern, civilized identity of the young Slovak nation.
A study on "The Travel Journal and Pictures" : Li Danlin's image of foreign lands and cultures
(2022)
This article studies the hetero-images in premodern Chinese painter Li Danlin's travelogue "The Travel Journal and Pictures" with regard to Daniel-Henri Pageaux's and Jean-Marc Moura's theories. Li draws pictures of foreign lands and cultures to express his exoticist interest, following the tradition entailed from "The Classic of Mountains and Seas". He transforms the reality and constructs two forms of hetero-images: those of Western cultures by applying clichés, and stereotyped images of indigenous peoples as "Manyi." These hetero-images give us insights into premodern Chinese ideology and offer an example of Occidentalism as a Sinocentric form of ethnotype.
The "World Geography" ("Wanguo dili quanji" 萬國地理全集) published in 1844 by the Protestant missionary Karl F.A. Gützlaff was the first geographical account to introduce some European ethnotypes to China. Based on recent archival findings, my article compares this book with both its presumed Western source and its rendering in the 1847 edition of Wei Yuan 魏源's "Maps and Documents of the Maritime Countries" ("Haiguo tuzhi" 海國圖志). It thus explores the role that interlingual and intralingual transfers respectively played first in negotiating and then renegotiating two European stereotypes in their early travels to and within the Qing empire.
This article aims to show that imagology is a promising method for analysing images of the European Other and the Turkish Self as expressed in Ahmet Hamdi Tanpınar's novel "Huzur" (1948; trans. "A Mind at Peace", 2007). The narrative challenges the rhetoric of early Turkish nationalism by promoting a synthesis of the national present with both the melancholically evoked Ottoman heritage and with European cultures. At the same time, the novel's protagonists stand for diverse and often contradicting conceptions of Self and Other and thus provide an insight into the various identity conflicts present in Republican Turkey.
This article compares two similar yet never compared cases of intra-European othering: Spain and the South Slavic region. Their common denominator is what I call the Periphery Problem: a hierarchical cultural difference between Europe's symbolic centre (Western Europe) and its exotic peripheries. Using paradigmatic examples intertextually linked to Prosper Mérimée, this article focuses both on the centre (exemplified by Mérimée), and the peripheries' recent responses to Mérimée through meta-images (your image of others' image of you). The structural commonalities in characterization and the entanglements of internal and external images show that national characterization in Europe is profoundly a transnational phenomenon.
This article applies imagology to "migration literature" - a genre that is described as a "peripheral phenomenon" in the 2007 handbook "Imagology", but that requires more thorough attention due to the increasing number of significant writings by immigrant authors. Focusing on works by Rafik Schami, Tahar Ben Jelloun, Amara Lakhous, Igiaba Scego, Hatice Akyün, Yoko Tawada, and Emine Sevgi Özdamar, and considering theoretical observations by Edward Said, Salman Rushdie, and Homi Bhabha, this article analyses how most texts prefer arguments and metaphors of everyday life to the traditional images and stereotypes of nationalistic discourse. It concludes by distinguishing two perspectives central to most of them: that of an "in-between" and/or a "Third Space."
The fall of the Berlin Wall and its literary representations have often been described as a purely (white) German affair, as a discourse regarding (East/West) German identity. Taking on Leerssen's claim for a trans-/postnational imagology, this article provides an analysis of two novels depicting the fall of the Berlin Wall from transnational, not-(only)-German perspectives: Yadé Kara's "Selam Berlin" (2003) and Paul Beatty's "Slumberland" (2008). Comparing images and stereotypes used by both the Turkish-German narrator of Kara's and the African American narrator of Beatty's novel, it aims to undertake an exemplary case study of how imagology may be employed in contexts characterized by complex interferences of national, ethnic/racial, and urban ascriptions of belonging.
This article analyses processes of collective and individual identity formation in European travel writing from the late eighteenth and the middle of the nineteenth century and argues that these processes are based not least on the national stereotypes described and performed in the texts. I explore how the genre-specific stylistic elements of multilingualism and intertextuality inform the performance of auto- and hetero-images and in doing so suggest converging travel writing studies and imagological studies. To illustrate my thesis, I analyse travelogues by Charles Dickens and Karl Philipp Moritz.
This article outlines a production-oriented imagology and equips the imagological toolkit with concepts and terminology from cultural memory studies, reception aesthetics, narratology, rhetoric, and text linguistics. It thereby presents the theoretical framework which makes it possible to analyse generic elements without a national connotation with regard to their function in generating a national image. Using as examples genres from English Romanticism and how they evoke Englishness, the article highlights the aesthetic complexity of national images and their range of variation. Simultaneously it paves the way for a more nuanced deconstruction of these images.
Images, the main object of imagological analysis, are by nature value-charged. Despite this fact, previous research has neglected the axiological foundations of imagology. This article discusses in brief some fundamental axiological questions of imagological investigations. The here analysed corpus includes an eighteenth-century visual-textual source (the so-called "Leopold-Stich"), and a famous imagological handbook ("Imagology", by Beller and Leerssen). The analysis starts with the problem of value connotations of the signifier of geocultural spaces and continues with a cluster of questions concerning the nature of value of imagotypical representations. The final part examines two relevant imagological phenomena—diachronic changes in evaluation of certain geocultural spaces and a somewhat opposite phenomenon of evaluative apriorism.
Imagological analysis can be fruitfully applied to political discourse, most importantly the discourse of international antagonism and national self-positioning used in government decision-making circles. Historians studying that discourse have tended to see its rhetoric of national characterization merely as a distracting accompaniment to actual, factually driven policies and developments. This, it is argued here, questionably presupposes that those policies were never driven by anything but cerebral reasons of state (such as these are seen by latter-day historians); it makes us unduly heedless of an important historical corpus throwing light on the force of emotive and national prejudice in policymaking.
With this volume, the editors Katharina Edtstadler, Sandra Folie, and Gianna Zocco propose an extension of the traditional conception of imagology as a theory and method for studying the cultural construction and literary representation of national, usually European characters. Consisting of an instructive introduction and 21 articles, the book relates this sub-field of comparative literature to contemporary political developments and enriches it with new interdisciplinary, transnational, intersectional, and intermedial perspectives. The contributions offer [1] a reconsideration and update of the field's methods, genres, and theoretical frames; [2] trans-/post-national, migratory, and marginalized perspectives beyond the European nation-state; [3] insights into geopolitical dichotomies such as Orient/Occident; [4] intersectional approaches considering the entanglements of national images with notions of age, class, gender, sexuality, and ethnicity/race; [5] investigations of the role of national images in visual narratives and music.
Oksana Mikheieva beschäftigt sich mit dem eigentlichen Kriegsgebiet im Osten der Ukraine und untersucht in Mikrostudien die Reaktionen der Zivilbevölkerung auf den andauernden Konflikt, die Veränderungen der Alltagswelt sowie die Antworten und Erklärungsmodelle, die Menschen im Ausnahmezustand entwickeln.
Jan Zofka wendet sich dagegen den Grenzgebieten im Südosten zu und untersucht, welche Mobilisierungsdiskurse die russischsprachigen Separatisten im moldauischen Dnjestr-Tal und auf der Krim nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus aktivierten und wie sehr diese noch von sowjetischen Nationalitätenkonzepten geprägt waren.
Sencovs Camera
(2023)
Einen Gegenentwurf zu all den Kriegshelden und Märtyrern des Vaterlands stellt Oleh Sencov dar, der als Filmschaffender in seiner Gefängniszelle, wie Kateryna Mishchenko ausführt, in Zeiten des Revanchismus und der Gegenrevolution wie kein anderer für das Versprechen des Euromaidan stand, dass auch eine andere, bessere Zukunft möglich gewesen wäre.
Unsere Helden. Eine Inventur : zu einer Ausstellung im Nationalen Kunstmuseum der Ukraine 2014/2015
(2023)
Aus Anlass seiner kuratorischen Tätigkeit bei einer Ausstellung in Kiew im Zeichen des Euromaidan verfolgt Michael Fehr die aktuelle Renaissance von Heldennarrativen bis zum sowjetischen und antiken Heroenmythos zurück und zeigt am Beispiel der Sammlung des Nationalen Kunstmuseums der Ukraine auf, welche unterschiedlichen Funktionen verschiedene Heldentypen in bestimmten Konstellation erfüllen können.
Roman Dubasevych zeigt am Beispiel der populären Diskurse, wie das postkoloniale Ressentiment gegen einen russifizierten Osten im Medium der Nachrichtenreportage, des Musikvideos und des Actionfilms "Cyborgs" ("Kiborhy", 2017) zu einer oft durchaus ambivalenten Mythisierung von Kriegerfiguren führt.
Igor' Sid analysiert aus seiner eigenen Erfahrung als Organisator und Vermittler des russisch-ukrainischen Dialogs heraus, wie die im Literaturbetrieb seit der Jahrtausendwende sich vertiefenden gegenseitigen postkolonialen und postimperialen Ressentiments zu einer Verschärfung des Konflikts beigetragen haben, skizziert aber auch mögliche Auswege aus der verfahrenen Situation.
Der Beitrag von Susi K. Frank zeigt anhand ukrainischer russischsprachiger Lyrik aus der Zeit vor und nach der 'Revolution der Würde', dass es gerade die Ideologisierung und Instrumentalisierung des Russischen im Ukraine-Konflikt ist, die Dichterinnen und Dichter wie Aleksandr Kabanov, Boris Chersonskij oder Anastasia Afanas'eva dazu nutzen, eine lyrische Reflexion über die 'postimperialen' Bedingungen ihres Schreibens zu initiieren.
Abgründe und Beweggründe : zu den affektiven Implikationen eines identitätspolitischen Konflikts
(2023)
Tatjana Hofmann analysiert den "postkolonialen Revanchismus", der wesentlich zur Eskalation des Konflikts beitrug und schon Jahrzehnte vor dem Euromaidan in literarischen Werken wie Jurij Andruchovyčs "Moscoviada" (1993) artikuliert wurde, ehe er dann in der aufgeheizten Debatte nach der Präsidentschaftswahl von Petro Porošenko den innerukrainischen Literaturbetrieb dominierte und die Weiterentwicklung eines nichtessentialistischen postmodernen Raum- und Kulturdenkens erschwerte - was auch prinzipielle Fragen zu den affektiven Dispositionen literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung selber aufwirft.
Mit dem Ausbruch eines Krieges in der Ostukraine hatte vor 2014 niemand gerechnet. Die rasante Geschwindigkeit, mit der die innenpolitische Krise in einer der einst stabilsten ehemaligen Sowjetrepubliken zu einem hybriden Krieg eskalierte, deutet dabei nicht nur auf rationale militär- bzw. wirtschaftsstrategische Interessen hin. Obwohl die Ukraine und Russland eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte und kulturelle Nähe verbindet, offenbart der Konflikt auch tiefe gegenseitige Ressentiments und geschichtspolitische Obsessionen, die bereits lange vorher in künstlerischen Werken und kulturellen Diskursen präsent waren. In der Ukraine-Krise kam es zu einer Reinszenierung kollektiver Phantasmen, historischer Helden- und Opfermythen. Paradoxerweise aber eröffneten die Gewaltbereitschaft und Kriegslust, mit der alle Parteien auf lokaler, nationaler und virtueller Ebene diese Dynamik vorantrieben, unter anderem Kulturschaffenden auch Möglichkeiten, die gefühlte Ohnmacht zu überwinden und gesellschaftlich handlungsfähig zu werden. Diese Entwicklung ist tief durch die (post-)sowjetischen Erfahrungen geprägt und zugleich eng mit globalen und medialen Veränderungen verbunden. Die Fallstudien des Bandes loten die affektiven und diskursiven Dimensionen des Konfliktes aus und leisten damit einen Beitrag zur Konzeptualisierung der postsozialistischen Gesellschaften und Kulturen im Osten Europas.
Die Leerstelle Walter Benjamin : zur Verfehlung einer kulturwissenschaftlichen Wahlverwandtschaft
(2023)
Unter den 53 Namen der Autoren, deren Beiträge in dem Jahrzehnt zwischen 1921 und 1931 in den neun Bänden der Vorträge der Bibliothek Warburg erschienen sind, springt eine signifikante Lücke ins Auge; es fehlt darin der Name Walter Benjamins. Die Tatsache, dass keine seiner Arbeiten den Weg in die Vorträge fand, ist mehr als bemerkenswert - dies nicht nur wegen der zahlreichen Korrespondenzen seiner Schriften zu den Forschungen der KBW und der deutlichen Nähe zwischen den Interessen Benjamins und Warburgs, die gegenwärtig zu den bekanntesten Köpfen der 'ersten Kulturwissenschaft' gezählt werden. Ihre Namen werden nicht selten zusammen diskutiert. Die Abwesenheit Walter Benjamins in den Publikationen der KBW wie überhaupt in deren gesamtem Netzwerk ist besonders irritierend, weil er sich seinerseits intensiv und ausdauernd darum bemüht hat, mit der Forschergruppe um Warburg in Kontakt zu treten, und seine Wertschätzung für Aby Warburg und dessen Bibliothek mehrfach in seinen Veröffentlichungen zum Ausdruck brachte. Die latente Wahlverwandtschaft der beiden herausragenden Kulturwissenschaftler aber konnte nicht manifest werden, weil ihre Formulierung einseitig blieb und eine Resonanz von der anderen Seite ausblieb.
Erich Rothackers Vortrag von 1927 nimmt gegenüber den anderen Vorträgen in der KBW eine Sonderstellung ein: zum einen, weil es ein privatissime, also ein nicht öffentlicher, nur vor einem ausgewählten Publikum gehaltener und von vornherein nicht zum Druck geplanter Vortrag war; zum anderen, weil an diesem Tag mehrere Vorträge gehalten wurden, die offenbar in einem thematischen Zusammenhang standen. Aus dem Tagebuch der KBW geht hervor, dass Warburg um diese Zeit die Form der regulären Vorträge und deren Publikation als erschöpft ansah und mit neuen Formen experimentieren wollte. Vielleicht zeigt sich in der konstellativen Anordnung verschiedener Vorträge an einem Tag ein solches experimentelles Herangehen. Deswegen werde ich mich in meinen Ausführungen nicht allein auf Rothackers Vortrag, sondern auf den gesamten Vortragstag, den 16. Juli 1927, und die beiden anderen Vorträge dieses Tages beziehen.
Edgar Winds Vortrag vom 11. Juli 1931 : 'Abschiedsvorstellung' der Bibliothek Warburg in Hamburg
(2023)
Die Debatte über die Bedeutung des Humanismus und des 'Nachlebens der Antike' für die europäische Tradition sollte aufgrund ihrer geradezu brisanten Aktualität im Jahr 1934 im Zentrum einer programmatischen Schrift stehen, die in einer deutschen und einer englischen Version publiziert wurde: Edgar Winds Einleitung zur "Kulturwissenschaftlichen Bibliographie zum Nachleben der Antike". [...] Über einen erstarrten Begriff des "Humanismus" und über eine rein normative Auffassung der Antike hinaus plädiert Wind in der Einleitung zur "Bibliographie zum Nachleben der Antike" für eine unumgängliche Auseinandersetzung mit dieser, da wir der Antike "geschichtlich verhaftet" sind. Auch wenn die unter Zeitdruck fertiggestellte englische Version seiner programmatischen Einleitung stark verkürzt und politisch abgeschwächt wurde, lässt sich auch dort dieses dem Forschungsprogramm der Bibliothek Warburg zugrunde liegende Engagement spüren: "To study the survival of the classics is not only to view the European tradition, but also to participate, however modestly, in the shaping of it." In meinem Beitrag möchte ich aufzeigen, dass Wind seine Überlegungen zu diesem Thema anhand eines Fallbeispiels aus dem 18. Jahrhundert und in Anlehnung an Warburgs Methode und Sprachgebrauch vor der Emigration eigenständig - und teilweise in bewusster Abgrenzung zu anderen Mitgliedern des Warburg-Kreises - entwickelt hatte.
Von antiklassisch zu antimanieristisch : Walter Friedländers Neubewertung von Epochenbegriffen
(2023)
Ab 1921 bekleidete Friedländer eine außerordentliche Professur in Freiburg und arbeitete in dieser Zeit seine Vorstellungen über die Modifikation und Reinterpretation kanonisch gewordener Epochenbegriffe aus. In seiner Antrittsvorlesung widmete er sich als einer der Ersten der manieristischen Periode der italienischen Malerei. Sein Aufsatz "Die Entstehung des antiklassischen Stiles in der italienischen Malerei um 1520", der aus seinem Habilitationsvortrag hervorgegangen war, aber erst 1925 erschien, darf als Gründungsdokument einer Rehabilitierung des Manierismus gelten. Für Friedländers späteren Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg im Curriculum 1928 /29 ist dieser Aufsatz von großer Bedeutung, und deshalb muss auf seinen Versuch der Neubewertung dieser künstlerischen Strömung kurz eingegangen werden. 'Manierismus' wurde als Epochenbegriff im 19. Jahrhundert von Jacob Burckhardt eingeführt und sowohl von ihm wie auch von seinen Nachfolgern weitestgehend pejorativ verwendet. [...] Bis heute ist der 'Manierismus' als Stil- und Epochenbegriff ein polarisierendes Streitthema in der Kunstgeschichte geblieben: Der Auffassung, der Manierismus sei eine konsequente Weiterentwicklung oder Übersteigerung der Renaissance, die schließlich im Barock resultiere, steht eine andere Position gegenüber, zu deren Lesart auch Friedländers gehört. Sie erkennt den Manierismus als eine eigene Stilepoche an, die durch einen starken Bruch mit der Renaissance im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts eingeläutet worden sei. [...] Um den negativ konnotierten Terminus des Manierismus mitsamt seiner ablehnenden Valenz zu umgehen und andererseits einen "neuen Stilwillen" zu betonen, wählt Friedländer den Begriff "antiklassisch". [...] Vier Jahre nach Erscheinen seines Aufsatzes zum Manierismus widmete sich Friedländer aus Anlass seines Vortrags an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg der Ablösung des antiklassischen Stils. Für die erneute Gegenbewegung der Kunst um 1590, die andere vor ihm unter den Epochenbegriff des Barock subsumiert hatten, schlägt er die Bezeichnung des antimanieristischen Stils vor. [...] Friedländer war weniger daran interessiert, sich als Begriffspräger in die Kunstgeschichte einzuschreiben, als vielmehr daran, homogenisierende Epochenbegriffe kritisch ins Visier zu nehmen. Eine Zusammenfassung unter einen "Generalnenner, etwa wie Barockzeitalter" lehnte er ebenso ab wie andere "ziemlich willkürlich gesetzte und definierte Termini" wie Gotik, Renaissance, Klassizismus etc. Friedländer plädierte auch in weiteren Abhandlungen für mehr Differenzierung und für eine Betrachtungsweise, die nicht in einem monolithischen Stildenken aufgeht, sondern eine Überlagerung der Generationen und ein Nebeneinander disparater Haltungen und Schulen berücksichtigt. Er hat dabei immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die etablierten Epochenbezeichnungen der Kunstgeschichte oft einem Begriffsarsenal der Herabwürdigung früherer Epochen entsprang. [...] Was konnte Friedländer mit seinem Vortrag "Der antimanieristische Stil um 1590 und sein Verhältnis zum Übersinnlichen" zum Erreichen der Ziele der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg beitragen? Welche methodischen Überschneidungen konnten sich möglicherweise ergeben, auch wenn theoretische und methodische Grundsatzdebatten so wenig die Sache von Friedländer wie von Warburg waren?
Franz Dornseiff ist heute kaum bekannt. Wenn überhaupt, dann kennen Nichtgräzisten sein Buch "Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen", das bedeutendste, von Thomas Mann, Peter Hacks u. a. hochgelobte und viel genutzte onomasiologische Wörterbuch der deutschen Sprache, das gegenwärtig in 8., erweiterter Auflage und auch digital vorliegt. Wenig deutet in seinem gedruckten Werk darauf hin, dass Dornseiff mit Aby Warburg und der KBW zu tun hatte. Warburg-Zitate sucht man vergeblich, und auch der Vortrag von 1924 über "Das Beispiel" erscheint zunächst merkwürdig erratisch. Immerhin wurde in dem Sammelband "Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen" Dornseiffs Vortrag 2007 erneut, aber kommentarlos abgedruckt. In der ausführlichen biographischen Darstellung durch seinen Leipziger Schüler Jürgen Werner fehlt ein Warburg-Bezug Dornseiffs, bis auf einen Hinweis auf die Vorträge der KBW, völlig. Dieser Ausgangsbefund hat sich im Laufe meiner Recherchen und Lektüren geradezu ins Gegenteil verkehrt: Dornseiffs Werk, so würde ich jetzt sagen, ist eng am Forschungsprofil von Warburg und der KBW angelehnt, viele seiner Themen lassen sich auf diesen Diskussionskontext beziehen. Im Nachlass von Dornseiff finden sich nicht nur sieben ungedruckte, zum Teil ausführliche Briefe sowie acht Postkarten Warburgs an Dornseiff, sondern auch die Briefwechsel mit Fritz Saxl und Gertrud Bing, den beiden wohl wichtigsten Organisatoren der KBW.
Alfred Dorens Vortrag in der Bibliothek Warburg, gehalten in der Reihe von 1924 /25 und publiziert 1927, stand unter der von vornherein zwei Typen utopischen Denkens differenzierenden Überschrift "Wunschräume und Wunschzeiten". Doren durchmisst hier, beginnend in der Antike, das weite Feld vom Gegebenen abweichender Erlösungs- bzw. Veränderungshoffnungen. Die Renaissance ist die Epoche eines Übergangs zu stärker säkular verfassten Utopien, und dieser wird für Doren insbesondere durch den Utopia-Dialog von Thomas Morus markiert, der ihm eine beispielhaft maßvolle Position gegenüber den fortdauernden Herausforderungen irrationaler, chiliastischer oder apokalyptischer Visionen markiert. Fluchtpunkt des Gedankenganges ist die Gegenwart der frühen Weimarer Republik, selbst eine Zeit der Übergänge und so vielfältiger wie widersprüchlicher Projektionen neuer Weltentwürfe.
Am 8. März 1924 trägt Ernst Hoffmann (1880-1952), Altphilologe und Philosophiehistoriker aus Heidelberg, in der Bibliothek Warburg zum Thema "Platonismus und Mittelalter" vor. Somit tritt Hoffmann, der über Aristoteles' Physik bei Hermann Diels promovierte und mehrere Arbeiten zu Plato vorgelegt hat, in die Reihe der Philologen ein, die - nach den Kunsthistorikern, aber vor den Religionswissenschaftlern - zu den wichtigsten Gruppen der Vortragenden in der KBW gehören.
Als "Mittelpunkt und Leitstern" der von ihm gegründeten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek hat Aby Warburg die "Frage nach dem Einfluss der Antike auf die späteren Kulturepochen" bezeichnet. Es mag daher nicht verwundern, dass unter den Wissenschaftlern, die in den Jahren von 1921 bis 1931 für einen Vortrag nach Hamburg eingeladen worden sind, auch zahlreiche Klassische Philologen waren. Der auch heute noch bedeutendste und bekannteste Philologe, der eine Einladung nach Hamburg angenommen hat, ist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff. Am 26. April 1924 hat Wilamowitz in der Bibliothek Warburg einen Vortrag mit dem schlichten Titel "Zeus" gehalten. [...] Wilamowitz' Beziehung zur Bibliothek Warburg ist in der Wilamowitz-Forschung bislang kaum beachtet worden. Dabei ist Wilamowitz' Vortrag schon deshalb von besonderem Interesse, weil er eine Vorstudie zu seinem letzten großen, unvollendet gebliebenen Werk "Der Glaube der Hellenen" bildet. [...] In Anbetracht des von Wilamowitz gewählten Themas erscheint es besonders reizvoll, der Frage nachzugehen, ob, und wenn ja, wie sein Vortrag Bezug nimmt auf die kulturwissenschaftliche Methode und die Forschungsfragen der Bibliothek Warburg. Im Folgenden werde ich zunächst auf Wilamowitz' akademische Karriere, sein Verständnis der Klassischen Philologie und seine Ansichten zur griechischen Religion eingehen; anschließend werde ich den Vortrag im Hinblick auf die Beziehung zur KBW und zu Warburgs eigener Forschung diskutieren. Für Davide Stimilli ist Wilamowitz' Vortrag ein "verpasster Austausch". Es zeigt sich aber, dass dies nur äußerlich zutrifft; inhaltlich und methodisch erweist er sich als kritisch-konstruktiver Beitrag zum kulturwissenschaftlichen Programm der Bibliothek.
Robert Eisler (1882-1949) hatte sich bereits des Öfteren und vorwiegend in englischer Sprache zu Orpheus zu Wort gemeldet. Seit dem Dritten Internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Oxford 1908 trat er regelmäßig in England auf. Schließlich war es Eislers Buch "Orpheus - The Fisher" (1921), das den Anlass für eine Einladung an die KBW gab. Fritz Saxl (1890-1948) war durch das Buch auf ihn aufmerksam geworden, weil auch er in seinen Arbeiten Kunst- und Religionsgeschichte zusammenbringen wollte. [...] Eisler lebte in Metropolen wie Wien und Paris, aber auch lange Zeit in der Provinz - etwa in Feldafing am Starnberger See in Bayern oder in Unterach am Attersee in Oberösterreich. Er provozierte heftige Debatten, weil er die Dinge unorthodox anfasste, und das nicht nur beim akademischen Establishment, dem er nie angehörte, sondern auch allgemein seinem Lesepublikum gegenüber, dessen Selbstgewissheiten er gerne irritierte.
Historiker an der KBW : Hans Liebeschütz, Percy Ernst Schramm, Richard Salomon und Karl Brandi
(2023)
Für die Geschichtswissenschaft, so sind die Historiker-Vorträge an der KBW aus heutiger disziplinärer Sicht zu bilanzieren, spielte Warburgs Verständnis von Kulturwissenschaft weder im Zuge der Warburg-Renaissance seit den 1970er Jahren oder des 'iconic' turn der 1990er Jahre eine so große Rolle, dass es das Fach maßgeblich beeinflusst hätte. Es waren die Forschungsergebnisse der eng mit der KBW verbundenen Wissenschaftler Schramm, Liebeschütz oder Salomon, die für die Mittelalter- und Renaissanceforschung relevant blieben, sie veränderten aber nicht das Selbstverständnis der Disziplin. Mit der weit stärkeren Warburg-Rezeption in den Kunst- und Literaturwissenschaften lässt sich das Echo unter Historikerinnen und Historikern nicht vergleichen.
Richard Reitzenstein ist neben dem Philosophen Ernst Cassirer der Forscher, der den größten Einzelanteil an den Publikationen der Bibliothek Warburg hat. Wie erklärt sich diese mehrjährige enge Zusammenarbeit? Welche Berührungspunkte gibt es zwischen Reitzensteins Vorträgen, dem Forschungsziel der KBW und den kunsthistorischen Studien von Aby Warburg und Fritz Saxl? Wie verhält sich insbesondere Reitzensteins Fokussierung auf die altiranische Religion als religionsgeschichtliche Einflusssphäre zu dem ausdrücklich auf die Antike bezogenen rezeptionsgeschichtlichen Forschungsinteresse der KBW? Wie haben die Beteiligten selbst ihre Zusammenarbeit gesehen? Um die Beziehung von Reitzenstein und der Bibliothek Warburg wissenschaftsgeschichtlich näher zu bestimmen, werfe ich zunächst einen Blick auf Reitzensteins wissenschaftliche Karriere, die sich bereits zum Zeitpunkt seines ersten Vortrags über fast 40 Jahre erstreckte. Anschließend wende ich mich den fünf Vorträgen zu und arbeite verschiedene Punkte heraus, die sich auf das Projekt der Bibliothek Warburg beziehen. Außerdem berücksichtige ich die Korrespondenz zwischen Reitzenstein und der KBW anhand der im Warburg Institute Archive in London aufbewahrten Briefe und Postkarten. Zum Abschluss sollen die einzelnen Aspekte dann zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden.
Gertrud Bing : Zentralfigur in Aufbau und Netzwerk der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg
(2023)
Warburg, Saxl, Bing - das ist die Trias der KBW und die Urzelle der 'living Warburg tradition'. Wie sehr das Unternehmen ein kollektives war und in anderer Form weder hätte entstehen noch funktionieren können, wird immer noch weitgehend übersehen. Als einer der Ersten erkannte Arnaldo Momigliano diesen Zusammenhang, wie seinem Nachruf auf Bing von 1964 zu entnehmen ist. Die KBW war zu einem Netzwerk der Produktion und Speicherung von Wissen geworden, das Warburgs letztes Vorhaben, der "Bilderatlas Mnemosyne", manifestierte. Er ist zwar ein Fragment geblieben, stellt aber eine neue Methode bildwissenschaftlicher Forschung dar. Ohne Saxl und Bing, die angestellten Mitarbeiter*innen, wäre daraus - wie auch aus vielen anderen Unternehmungen Warburgs - nichts geworden. In dieser Trias ist Bing die bisher von allen am wenigsten Bekannte und am stärksten Unterschätzte.
Das Problem der Bibliothek Warburg ist die Frage nach Ausbreitung und Wesen des Einflusses der Antike auf die nachantiken Kulturen. Ich möchte vom Persönlichen ausgehen und zu zeigen versuchen, wie Warburg zur Stellung seines Problems kam, welche Wege er zu dessen Bearbeitung und Lösung selbst einschlägt und anderen gezeigt hat.
Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) wird seit vielen Jahren intensiv erforscht, das Werk Aby Warburgs in einer Studienausgabe herausgegeben. Das Interesse an seiner Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts reißt nicht ab. Umso erstaunlicher ist es, dass bislang Studien zu den an der KBW gehaltenen Vorträgen fehlten. Die von Fritz Saxl 1921 initiierten Abendvorträge spiegeln das intellektuelle Netzwerk der KBW und ihren wissenschaftlichen Anspruch wider und wurden bis 1931 in einer eigenen Reihe publiziert. Eingeladen waren wichtige Vertreter ihrer Fächer, die dennoch heute außerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen oft in Vergessenheit geraten sind. In diesem Band werden die Vortragenden daher vorgestellt, bevor die Aufsätze sich auf das an der KBW referierte Thema konzentrieren. Gemeinsamer Bezugspunkt ist der erste in der Reihe der Vorträge, mit dem Saxl der Zuhörerschaft Warburgs Forschungsanliegen und -ansätze vorgestellt hatte. Wie nah ist der jeweilige Vortrag diesem Programm, wo setzt er sich davon ab, und welche der gedruckten Vorträge können als eine Erweiterung und Fortführung des Warburg'schen Ansatzes angesehen werden?
This chapter makes the case for a literary history that accounts for the multilingual nature of medieval Denmark, giving particular attention to Danish, German, and Latin. It relates such a project to current research interests such as crossing the boundaries of national philologies; demonstrates the need for it by reviewing existing surveys of the period; and outlines some lines of enquiry, including the translation and transmission of texts, that it could pursue.
This essay interprets Dante's "Commedia" as an 'open work' (Eco). It grounds its open-endedness in its representations of interruption: from fictional obstacles in the protagonist's path in the "Inferno" to the narrator's anxiety over unfinishedness in the "Paradiso". Taking its cue from Boccaccio's creative rewriting of Dante's life, the essay resists the pressure of 'total coherence' embedded in (and often projected onto) the "Commedia", in order to reclaim the material vulnerability of the text and of its author.
Ökologie
(2022)
Als die Ökologie 1866 von Ernst Haeckel aus der Taufe gehoben, d. h. offiziell zu einer biologischen Teildisziplin ernannt wird, gehört die Annahme einer 'ganzen Natur' zu ihren zentralen Glaubenssätzen. Der vielseitig tätige Haeckel betrachtet die Natur als ein "überall zusammenhängendes 'Lebensreich'", das von einer gleichbleibenden Substanz getragen und beseelt wird. In einer gewissen Spannung zu diesem versöhnlichen Bild stehen manche Aspekte von Haeckels ökologischer Lehre. Beschrieben werden dort die wechselseitigen Einwirkungen von Organismus und Umgebung sowie der Organismen untereinander, und diese Interaktionen können durchaus feindselig ausfallen. [...] Haeckels Ausführungen markieren nicht nur den nominellen Auftakt der biologischen Ökologie, sie läuten auch bereits die wechselvolle Karriere von Ganzheitsbegriffen innerhalb dieses Forschungsfeldes ein. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich dabei insofern ausmachen, als der Kategorie des Ganzen hier eine spezifische Funktion zukommt: Sie dient dazu, den größeren Zusammenhang zu benennen, innerhalb dessen die Wechselwirkungen in der Natur, welche dies im Einzelnen auch sein mögen, beschreibbar werden. Denn von Haus aus hat es die Ökologie nicht mit isolierten Individuen zu tun, sondern mit den Bezügen, die zwischen diesen und ihrer Außenwelt bestehen. [...] Hinzu kommt, dass sich auch das Verständnis des Ökologischen selbst in den letzten rund 50 Jahren gravierend gewandelt hat. 'Ökologie' bezeichnet seither nicht mehr allein eine biologische Teildisziplin, sondern eine Weise des Denkens, die auf Relationalität im weitesten Sinn bezogen ist, die sich also mit Beziehungsgefügen, Verbundenheiten und Inklusivität befasst. In diesem erweiterten Verständnis hat die Ökologie seit den 1960er Jahren, besonders aber seit der Jahrtausendwende in den verschiedensten Wissens- und Anwendungsfeldern Einzug gehalten. Während Forschungszweige wie der vor etwa drei Jahrzehnten institutionalisierte 'Ecocriticism' noch explizit an die Leitbilder des Naturschutzes und der Umweltethik anknüpfen, hat sich das ökologische Denken inzwischen vielerorts aus dem durch 'Natur' bestimmten Bezugsrahmen herausgelöst. Dies geht mit einer Problematisierung der Annahme einher, dass es so etwas wie eine 'erste' Natur, auf die sich Ökologie exklusiv zu beziehen hätte, überhaupt geben kann. So lässt sich gegenwärtig einerseits eine kaum noch überschaubare Diversifizierung des ökologischen Denkens feststellen, während andererseits Ansätze zu einer 'allgemeinen Ökologie' entwickelt werden, die die vielfältigen ökologischen Phänomene ontologisch, d. h. unter dem Gesichtspunkt des 'ganzen Seins', zu erfassen suchen.
Mit ontologischen Problemen des Ganzen beschäftigt sich Robert Matthias Erdbeer in seiner Untersuchung des modernen Computerspiels. Er knüpft dabei an moderne Spielkonzeptionen von Schiller über Gadamer bis hin zu Wolfgang Iser an, die das Spiel als Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, v. a. aber in der Koppelung von Vorhandenem und Möglichem einer außerordentlichen "ontologischen Belastung" ausgesetzt hätten. Diese Belastung setze das Computerspiel in seinem eigenen Medium konsequent um und fort. Beim Gaming gehe es um eine grundlegende "Inszenierung von Handlungsmodalität" im Sinn einer "kohärenten Selbst- und Welterfahrung". Ganzheit komme dabei insbesondere über das Weltmodell der virtuellen Storyworld, über das Selbst als Avatar und in der Reflexion und Gestaltung des Spiels als Integral der Medienkünste zum Ausdruck.
Dimensionen des Werkbegriffs
(2022)
Ingo Meyer fragt nach Ganzheitsvorstellungen mit Bezug auf den Werkbegriff von der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert bis in die zeitgenössische kunst- und literaturwissenschaftliche Schulenbildung hinein. Obwohl (oder weil) das Werk an materielle Träger gebunden sei und zwingend der Realisation bedürfe, begreift Meyer es als "ontologischen Skandal". Klassische Zuschreibungen an das Werk wie 'Mikrokosmos', 'Äquilibrium' oder 'Harmonie' sowie überhaupt die aus ganz unterschiedlichen Richtungen an das Kunstwerk herangetragene Forderung nach "Kontingenzvernichtung" forderten die Frage nach seinem ontologischen Status stets aufs Neue heraus. Seinen vielleicht privilegiertesten Ausdruck findet das Problem Meyer zufolge in der Kategorie der Werkgenese, die keineswegs einfach als Produktionsästhetik (miss)verstanden werden dürfe. Die Irritation darüber, dass das Werk überhaupt 'da' sei, könne nicht mit Gattungsordnungen, Kanonisierungsreflexionen, Marketingstrategien oder klassischen Dichotomien wie Produktions- und Rezeptionsästhetik stillgestellt oder unsichtbar gemacht werden. Vielmehr gelte: "Das Paradoxe am Kunstwerk aber ist der Umstand, dass mit zunehmender Elaboriertheit seine Unbestimmbarkeit zunimmt, völlig konträr zu Handwerk oder Wissenschaft."
Stefan Willer fragt nach den Ganzheitspostulaten enzyklopädischen Wissens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ganzheit begreift er dabei als eine Kategorie, die von unterschiedlichen Formen der Enzyklopädie erst hergestellt werden müsse und die hier besonders intensive Verbindungen zu Phänomenen wie 'Summe', 'Gesamtheit' oder gar 'Überfülle' unterhalte. Dies zeige sich vornehmlich am Problem enzyklopädischer Ordnungsmuster, die auf "die Registrierung, Sortierung und mitunter auch Systematisierung von Wissen" abheben und sich schnell mit der Frage nach einer Begrenzbarkeit dieses Wissens konfrontiert sehen. Eine zusätzliche Schwierigkeit für Enzyklopädien stelle das Verhältnis der verzeichneten Realien zur Medialität der Sprache dar. So gelte es etwa für Diderot als ausgemacht, dass die Sprache aufgrund ihrer fehlenden Systematizität "nur eingeschränkt als Medium der Wissensdarstellung geeignet" sei. Willer beleuchtet die Affinitäten zwischen Enzyklopädie und Roman, der seinerseits oft auf "Totalisierung", auf den "Einschluss heterogener Elemente" und auf die "Überschreitung jeglicher Gattungslogik" verpflichtet worden sei, und lässt seine Überlegungen in eine Lektüre von Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" einmünden, in dem die enzyklopädische Anhäufung von Wissen auf Handlungsebene zwar als ziel- und nutzlos klassifiziert werde, sie sich auf der Ebene der Textkonstitution jedoch zugleich als unabdingbar erweise. Den Anspruch auf Ganzheit oder Vollständigkeit des Wissens kündige Flauberts Roman folglich nicht einfach auf. Vielmehr stelle er einen "Widerspruch zwischen der textkonstitutiven und der poetologischen Funktion von Wissen" zur Schau.
Wissenschaft
(2022)
Georg Toepfer wendet sich Ganzheitsidealen der Wissenschaft und ihrer Theorie von der Antike bis zur zeitgenössischen Wissensgeschichte zu. Ganzheit kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit ihrer inneren Einheit auf methodologischer Ebene, sie fragt nach der Ganzheit oder Ganzheitlichkeit ihrer Gegenstände (im Rahmen etwa einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus), sie kann eine Summe aller Wissenschaften als Ganzheit in Aussicht stellen oder den Versuch unternehmen, eine Einheit oder Ganzheit der gesamten Menschheit zu befördern. Insgesamt sei festzuhalten, dass Forderungen nach einer Einheit der Wissenschaft verstärkt zu Zeiten aufkämen, in denen sich epistemologisch wie praktisch das exakte Gegenteil beobachten lasse. Auch wirke die Ganzheitsrhetorik der Wissenschaft "mitnichten integrativ", sondern arbeite im Gegen teil oft "mit massiven Ausgrenzungen". Das Ganzheitsproblem habe die wissenschaftliche Selbstreflexion oft auch hinsichtlich ihrer eigenen Visualisierbarkeit beschäftigt. Dies findet seinen Niederschlag in frühneuzeitlichen Diagrammtypen wie dem Baum, dem Haus oder dem Bergwerk, in der zweidimensionalen Landkarte der 'Encyclopédie' oder in einer von Jean Piaget noch im 20. Jahrhundert bearbeiteten Kreisfigur. Solche Formen des Ganzen offenbarten die "Simplifikation" des wissenschaftstheoretischen Zugriffs und müssten oft ganze Wissensbereiche ausschließen; im Fall Piagets etwa die kompletten Geisteswissenschaften.
Daniel Weidner untersucht die (als 'absolut' begriffene) Metapher der Welt im Werk Hans Blumenbergs und wirft in enger Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition die Frage auf, ob 'Welt' im Plural überhaupt noch eine Ganzheit meinen könne. Der philosophische Zugriff auf die 'Welt' oder auf 'Welten' - ähnliches gelte mit Blick auf Blumenberg vornehmlich für den 'Horizont' - gestalte sich insofern als schwierig, als sie auf Gegenstandsebene immer implikativ bleiben müsse. Diesem Problem begegne Blumenberg mit der Ausgestaltung vierer historischer Wirklichkeitsbegriffe, die die 'Welt' in einer "Spannung von Evidenz und Mitpräsenz, von Intention und Erfüllung" situierten, und zwar als Anschauung (in der Antike), als Offenbarungsmitteilung (im Mittelalter), als sukzessive sich entfaltende "Verläßlichkeit" (in der Neuzeit) oder als Widerstand. Letzteres scheint vornehmlich für die Moderne zu gelten, der Welt und Wirklichkeit oft als ein "ganz und gar Unverfügbares" erschienen. Anschließend beleuchtet Weidner die unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst, die Blumenberg diesen Modellen von Welt und Wirklichkeit attribuiert. Die von Blumenberg dem Roman als "formale Totalstruktur" zugeschriebene "Welthaltigkeit" entspreche dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit. Durchaus also würden Wirklichkeit oder Welt Blumenberg zufolge in der Kunst tentativ erfahrbar; dies jedoch gerade nicht im Sinn der einen Totalität des vollkommenen Kunstwerks, wie es die idealistische Ästhetik in der Regel suggerierte.
Wo das Ganze als Prozess begriffen wird, droht es mitunter zu entgleiten. Im Denken des Ganzen haben sich reiche Traditionen herausgebildet, die (auch) in dieser Gefahr eine Chance sehen. Die Überzeugung einer kategorialen Ungreifbarkeit, Unbestimmtheit oder Unerreichbarkeit des Ganzen dominiert ganze Bereiche des Wissens und der Künste. Dabei scheinen solche Vorstellungen mit den Forderungen nach möglichst 'handfesten' Formen oder Bedingungen von Totalität gleichursprünglich zu sein. Tentative oder gar hypothetische Formen des Ganzen sind entsprechend oft unter dem Zeichen eines imaginierten Verlusts von Totalität formuliert worden. Dies gilt zumal mit Blick auf die moderne Kunst und Ästhetik, die das Kunstwerk als einen Mikrokosmos vorstellte, dem sein eigener Makrokosmos indes längst (oder immer schon) abhandengekommen zu sein schien.
Mit Blick auf die neuere historiographische Entwicklung plädiert Marian Füssel für eine prozessuale Betrachtung des Ganzen. Nur dies erlaube die Aufsprengung des Gegensatzes zwischen einer Mikro- und einer Makroebene von Geschichte. Angesichts der Komplexität und der wechselseitigen Durchdringung historischen Geschehens - als Beispiele nennt Füssel Handel und Krieg - sei dieser Gegensatz nicht adäquat. Zu diesem Fazit gelangt Füssel, nachdem er prominente Ganzheitsvorstellungen unterschiedlicher Schulen der Geschichtsschreibung vom Historismus über die 'histoire totale' und die Sozial- bis hin zur Mikro- und Globalgeschichte vorgestellt hat. Historische Ganzheitsvorstellungen, die auf einer Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem beruhten oder die dem Prinzip der Repräsentation verpflichtet blieben, muteten heute genauso unbefriedigend an wie solche, die undifferenziert "Fragmentierung, Dezentrierung und Pluralisierung" feierten. Die Kritik an herkömmlichen Ganzheitsvorstellungen der Historiographie ist für Füssel demnach nicht Anlass, das Ganze zu verabschieden, sondern, es zu rekonzeptualisieren. Dass auch Füssel mit dem Fokus auf den 'Prozess' jenes Phänomen als Chance für das Ganze begreift, das vormals oft als dessen Bedrohung identifiziert wurde, zeigt das Ausmaß der Umbrüche, in denen die Formen des Ganzen sich derzeit in praktisch allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen offenbar befinden.
Die Ganzheit der Epoche
(2022)
Barbara Picht beschäftigt sich mit Ganzheitsvorstellungen, die dem Begriff der Epoche im modernen Geschichtsdenken zugrunde liegen. Ganzheit wie Einheitlichkeit betrachtet Picht dabei insofern als maßgeblich, als die Epoche einerseits über ausschließlich sie selbst charakterisierende Merkmale definiert werden solle, dabei andererseits aber auch solche Züge herauspräpariert werden müssten, die eine bestimmte Epoche mit anderen verbinde. Die Behauptung der Ganzheit einer Epoche sei in der Regel mit politischen Absichten verbunden. Zum Problem für die Integrität der Neuzeit als Epoche wird die für das moderne Geschichtsbewusstsein konstitutive Vorstellung einer 'offenen Zukunft'. Das schreibe dem Selbstverständnis der Neuzeit eine grundlegende Paradoxie ein. Die Neuzeit kenne zwar einen Anfang, könne aber in einer offenen Zukunft an kein Ende kommen und deshalb auch keine - ganze - Epoche sein. Diese Schwierigkeit erweist sich Picht zufolge jedoch als Glücksfall, denn die für das Ganze der Epoche prekäre Prozessualität habe eine "historiographisch produktive Dauerunruhe" ausgelöst.
Karin Kukkonen nimmt nicht den Text als Medium ins Visier, sondern die Form des Romans, dem sie ein hohes Bewusstsein für die eigene "Unabgeschlossenheit" attestiert. Der von Georg Lukács auf die Moderne gemünzten Formel der "transzendentalen Obdachlosigkeit" trage der Roman dadurch Rechnung, dass seine Teile "nie den Eindruck eines geschlossenen Ganzen" zu erwecken versuchen. Kukkonen legt dies am Beispiel der narrativen Darstellung moderner "Protokolle" offen, die sie als Mechanismen zur Ordnung jeweiliger Lebenswelten begreift. Moderne Romane kündigten in der Regel eine "organische Logik der Lebensgeschichte" auf und verschrieben sich buchstäblich einer "sozialen, prozessualen Logik des Protokolls". Solche Protokolle könnten von Zügen und Fahr- oder Bau plänen über das Schlangestehen bis hin zur Organtransplantation reichen. Die literarische Umformung der Prozesslogik moderner Protokolle analysiert Kukkonen vornehmlich bei Zola, Sorokin und Maylis de Kerangal.
Andrea Polaschegg untersucht aus medienpoetischer Sicht die Friktionen zwischen dem Text und den philosophischen oder literarischen Ganzheitspostulaten, die an dessen Stoffe, Gegenstände oder gar Gattungszuschreibungen herangetragen werden. Den Text begreift Polaschegg als "transitorisches Medium", "das vorne beginnt und hinten endet" und das jede Bemühung unterläuft, "eine organische Einheit wechselseitiger Teil-Ganzes-Beziehungen oder eine statische Einheit aus übereinandergeschichteten Teilen zur Darstellung zu bringen". Dieser Einsicht hätten sich mit letzter Konsequenz allerdings bislang weder poetologische noch literaturwissenschaftliche Denktraditionen gestellt. Seit der Autonomieästhetik lasse sich ganz im Gegenteil eine Fülle an Versuchen beobachten, die fundamentale 'Sukzessivität' von Texten metaphorisch über konzeptionelle 'Simultaneisierungen' stillzustellen. In diesem Umfeld nimmt Polaschegg insbesondere die oft als Ganzheitsgarant dienende Metaphorik der Architektur in den Blick, die sie bis in das bekannte, den 'Aufbau' dramatischer Texte visualisierende Pyramidenmodell Gustav Freytags hinein verfolgt.
Astrid Deuber-Mankowsky wirft einen Blick auf Alfred N. Whitehead und sein 1929 erschienenes Hauptwerk "Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie". Zur Ausformulierung seines denkbar umfassenden Ziels einer "vollständigen" Kosmologie rekurriere Whitehead auf eine "systematische Philosophie des Prozesses". Whitehead sei davon überzeugt, dass die philosophische Erkenntnis sich den Ergebnissen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zu stellen habe und zugleich versuchen müsse, sich gegen deren Absolutheitsansprüche zu behaupten. Während die Quantentheorie gezeigt habe, dass sich kleinste Teilchen diskontinuierlich zueinander verhalten, beharre Whitehead auf der Möglichkeit, ein Ganzes zu denken und am "Prinzip der Kontinuität" energisch festzuhalten. Sein Bemühen ziele darauf ab, das berühmte, auch von Leibniz systematisch aufgegriffene Diktum "natura non facit saltus" wieder in sein Recht zu setzen. Die Spannung zwischen Kontinuität und Atomizität begreife Whitehead konsequent als "Komplementarität", ein entscheidendes Relais hierfür stelle seine Entdeckung der "realen Potentialität" dar. Anders als man vielleicht zunächst annehmen könnte, steht Whiteheads Interesse an Leibniz damit nicht in fundamentalem Widerspruch zu dem Latours, umso weniger als eine Zäsur zwischen Natur und Sozialem oder eine Einschränkung von Subjektivität auf den Menschen schon für Whitehead keine Verbindlichkeit mehr besaß.
Hanna Hamel beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit Latours vieldiskutierter Gaia-Konzeption. Latours Aufkündigung einer pseudoobjektiven Anschauungsform der Erde als 'Globus' und die Favorisierung der Imagination Gaias als "wüstes Gewirr" sei dem Versuch geschuldet, klassische Vermittlungsideen von Innen und Außen oder die Repräsentation des einen durch das andere kategorisch zu verabschieden. An deren Stelle trete "ein Ganzes ohne distinkte Teile, ohne polare, absichtsvolle oder gar harmonische Ordnung". Übergänge und Kreuzungen etwa von natürlichen und sozialen Ordnungen habe Latour immer schon in ihrer Prozessualität kenntlich gemacht. Es handle sich dabei stets um "zeitlich wie räumlich wirksame wechselseitige Modifikationen einer Vielzahl von Wirkmächten". Ohne Berücksichtigung dieser Größen lässt sich der Klimawandel in den Augen Latours (wie Hamels) weder bekämpfen noch überhaupt adäquat erkennen.
Siarhei Biareishyk beschäftigt sich mit Spielarten der Kritik an der platonischen Ideenlehre, die er von der epikureischen Tradition über Spinoza bis hin zu Deleuze verfolgt. Diese habe ein Denken von prozessualer und "modaler Ganzheit" ("modal whole") herausgebildet, das gerade auf die Instabilität und die Endlichkeit des Ganzen abhebe. Damit arbeite sie der Vorstellung sowohl einer möglichen Pluralität von Ganzheiten als auch der einer inneren Heterogenität jedes einzelnen Ganzen bis heute überzeugend zu. Im Gegensatz zu einem von vornherein als übersummativ konzipierten Ganzen entfalte diese Tradition Formen des Ganzen, die dynamisch sind und sich prozesshaft konstituieren. Biareishyk versteht das als Chance, Diversität und Disparatheit philosophisch fundieren zu können, ohne die Hoffnung auf Ganzheit(en) preisgeben zu müssen. Lukrez und Spinoza attestiert er auf diese Art und Weise philosophisch wie politisch ein ganz ähnliches Potential wie das, das Latour oder Cuntz in der Leibniz'schen Monadologie sehen.
Zeitliche Prozesse können Formen das Ganzen mitunter vor erhebliche Herausforderungen stellen. Das zeigt sich insbesondere dort, wo das Ganze zum Zweck einer bildlichen Veranschaulichung fixiert werden soll. Historisch betrachtet lassen sich in den Beziehungen zwischen Ganzheit und Prozessualität ähnliche Entwicklungen feststellen wie in denen zwischen Ganzheit und Teil. Forderungen nach einer maximalen Integrität des Ganzen, die im Prozess eine Bedrohung oder Gefahr wittern, erweisen sich bei genauerem Hinsehen oft erst als moderne Perspektive. Folgerichtig lehnen sich aktuelle Ganzheitskonzeptionen an frühneuzeitliche philosophische Modelle (neben Leibniz gilt dies v. a. für Spinoza) an, wenn sie auf eine programmatische Versöhnung zwischen Ganzem und Prozess abzielen.
Welt, Wort, Mensch : (Un-)Gestalten des Ganzen in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften"
(2022)
Musil entwickelt seine literarische Ganzheitsreflexion in enger Auseinandersetzung mit der Wissenschaft seiner Zeit: von der Gestaltpsychologie bis hin zur Thermodynamik, wie Inka Mülder-Bach in ihrer Lektüre des "Mann ohne Eigenschaften" zeigt. Musils Text sei einerseits von zahlreichen Dualismen geprägt, andererseits erteile er einem 'klassischen' Verständnis von Teil und Ganzheit eine deutliche Absage. Einem Briefpartner beschied Musil 1931 kurz und bündig: "Eine Totalität lässt sich nicht durch noch so viele Einzelheiten darstellen." Zentral ist hierbei nicht zuletzt der Begriff der Darstellung. Totalität wird bei Musil in erster Linie zu einem Problem des eigenen literarischen Verfahrens. Mülder-Bach legt dar, dass das Phänomen der Ganzheit unzählige Aspekte seiner Schreibweise tangiert: vom Wortbau über die Syntax und die Metaphorik bis hin zu der für die Darstellungsebene des Romans zentralen Form des 'Gleichnisses'. Auch die politische Prekarität 'Kakaniens' oder das Geschwisterverhältnis seien als Spiegelungen und Ausdruck der Ganzheitsproblematik zu begreifen. Den Umgang mit Figuren der Vielfalt, der Vollständigkeit, der Teilung, der Verdopplung, der Mitte, der Grenze, der Symmetrie oder des Gleichgewichts sieht Mülder-Bach dabei oft in zunächst paradox erscheinende Versuche einmünden, Trennung und Verbindung irgendwie zusammenzuziehen oder gar zu vereinen. Auch die bekannte auf die Geschwister gemünzte Wendung der "Ungetrennten und Nichtvereinten" erschließe sich erst vor diesem Hintergrund. Angesichts des fragmentarischen Charakters des Romans seien alle Musil'schen Antworten auf das Ganzheitsproblem freilich als "tentativ" zu begreifen.
Sophie-C. Hartisch untersucht die Funktion der Konstellationsmetapher im Diskurs der geisteswissenschaftlichen Selbstbeschreibungen im frühen 20. Jahrhundert. Die doppelte Grundlagenkrise sowohl der Naturwissenschaften als auch der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften bewirken in ihren Augen die Attraktivität eines Denkens in 'Konstellationen'. Mit der (streng genommen) falschen Suggestion eines sogenannten 'Sternbildes' würden abstrakte Strukturen vermeintlich anschaulich und könne Totalität als "Kippfigur zwischen Werden und Darstellung" repräsentiert werden, die die Ganzes-Teil-Problematik neu konfiguriere. Zwar verspreche die 'Konstellation', die Geisteswissenschaften mittels einer Anlehnung an die Astronomie gegen die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu profilieren. Allerdings ist die für die Konstellation zentrale Kategorie der 'Bedeutsamkeit' (der Sterne) keine astronomische, sondern eine astrologische Vorstellung. Die als Pseudowissenschaft verpönte Astrologie wird in den Geisteswissenschaften unter der Hand zum Garanten für die Legitimität und Objektivität historisch ausgerichteter Wissenschaften.
Der Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts gilt das Interesse des Beitrags von Eva Axer. Sie untersucht in erster Linie die Kategorie der 'inneren Form', die neben der Literatur- auch die zeitgenössische Sprachwissenschaft beschäftigte. Im Werk Wilhelm Scherers, Reinhold Schwingers und Oskar Walzels werde die 'innere Form' emphatisch als eine in sich geschlossene Sinneinheit literarischer Texte konzipiert, die den Blick auf den Aufbau und eine Beziehung der Teile untereinander indes keineswegs ausschließe. Prinzipiell werde die 'innere Form' als ein den Teilen vorgängiges Ganzes gedacht, der ein hohes Maß an Dynamik eigne. Die Hoffnung auf eine innere Einheit des Werks erweise sich in der Regel allerdings als so mächtig, dass Wechselbeziehungen zwischen Innen und Außen, materielle Bedingungen oder funktionale Beziehungen der Literatur in dieser wissenschaftlichen Tradition keine systematische Berücksichtigung finden könnten.
Carlos Spoerhase wendet sich dem Verhältnis von Teil und Ganzheit im Denken der literarischen Form zu. Für die Imagination ganzheitlicher Werke - als Paradebeispiel dient Spoerhase die Shakespeare-Apologie der Romantik - sei nicht allein die Vollständigkeit der Teile und ihr ausgewogener Bezug zum Ganzen, sondern auch die Beziehung der Teile untereinander zentral. Zwar erfolgten literarische Ganzheitsvisionen immer wieder über Analogien mit dem Menschen, der Architektur oder biologischen Systemen. In der Regel garantiere aber ein "nichtsinnliches Prinzip, das im Innern des Werkes situiert wird", erst dessen "ganzheitliche Formstiftung". Anders als es etwa die Prominenz der stabilen Unterscheidung zwischen 'System' (als Musterbeispiel geschlossener und einheitlicher Ganzheit) und 'Aggregat' (im Sinne einer lockeren Anhäufung) in der Dichtungstheorie um 1800 suggeriere, würden literarische Werke zwangsläufig keineswegs mit "maximalen Einheitlichkeitszuschreibungen" versehen. An Goethes Poetik etwa lasse sich das Bemühen um eine "Gradierung von Ganzheit" ablesen. Ganzheit ist demnach weniger eine den Teilen vorangehende oder übergestülpte Totalität. Vielmehr sind es die unterschiedlichen und vielfältigen Verknüpfungsweisen der Teile, die über Art und Konzeption der Ganzheit literarischer Werke entscheiden.
Michael Cuntz greift die Leibniz'sche Monadologie in systematischer Absicht auf. Zwar gehe es auch der Monadologie zunächst um die Organisation der Relationen zwischen Teilen und Ganzem. Allerdings trage Leibniz als "Denker des Fluiden" in diese Organisation keineswegs die heute selbstverständlich anmutenden Implikationen und Hierarchien ein. Moderne Dualismen und Binarismen, etwa der zwischen Natur und Kultur, besäßen für Leibniz noch keine Gültigkeit. Die Monaden selbst seien zudem als geschlossen und offen zugleich konzipiert. Jede Monade enthalte die Welt und alle anderen Monaden. Nicht die stabile Differenz, sondern die 'Faltung', die 'Korrespondenz' und die 'Ähnlichkeit' regelten in der Monadologie die Beziehungen. "Untrennbar und doch unabhängig von einander oder verschieden - diese vermeintlich paradoxe, komplexe Struktur der Relation" betrachtet Cuntz als deren aktuelle Provokation, über die man sich durch die für Leibniz maßgebliche Überzeugung einer 'Weltharmonie' nicht hinwegtäuschen lassen sollte. Die Monadologie könne nämlich einen bedeutenden Beitrag zur Verstärkung von Diversität wie zur Überwindung des Anthropozentrismus leisten. Hierfür sei jedoch der direkte Rückgriff auf Leibniz selbst vonnöten. Moderne Anverwandlungen seiner Philosophie etwa bei Gabriel Tarde oder Gilles Deleuze hätten die originäre Sprengkraft der Monadenlehre mitunter missverstanden, simplifiziert oder entschärft, dies gelte auch und gerade für Tardes Umstellung von der 'Harmonie' auf den 'Agon'.
Die Vorstellung eines relational organisierten Ganzen nimmt Bruno Latour zum Ausgang für eine grundlegende Kritik der modernen Imaginationen des Staates und seiner Grenzen. Diese Imaginationen beruhten auf einer fragwürdigen Konzeption des Ganzen, die fatale Folgen für die Bekämpfung des Klimawandels wie für eine adäquate Einschätzung der Migration zeitige. Es seien althergebrachte, an die Natur und den Organismus angelehnte Vorstellungen von Ganzheit und Teil, die eine Affirmation des sogenannten Staatskörpers oder auch die einer ökonomischen Marktlogik bis heute irrtümlich als unumgänglich erscheinen ließen. Gleichnisse wie das eines die Gliedmaßen ernährenden Bauches aus Shakespeares "Coriolan" oder Mandevilles bekannte "Bienenfabel" suggerierten, dass jedes Gemeinwesen sich von innen aus Teilen zusammensetzen und sich nach außen klar abgrenzen müsse. Tatsächlich aber seien Innen und Außen als fundamental durchlässige Phänomene zu begreifen. Die Idee eines solide gestuften Ganzen müsse ersetzt werden durch die Idee pluraler Ganzheiten, die aus ständig sich überlappenden und immer nur provisorisch verbundenen Elementen bestünden. Latour ist es folglich nicht um eine Diskreditierung, sondern um eine Neukonzeption sowohl des Ganzen als auch der Relationalität zu tun. Das hat massive Konsequenzen für deren Formgebung. Um der Komplexität politischer Strukturen und aktuellen Problemlagen begegnen zu können, müssten Ganzheiten als Netzwerke und nicht mehr als aus Teilen bestehende Körper vorgestellt werden.
Kulturgeschichtlich, ästhetisch und politisch brisant sind herkömmliche Imaginationen von Ganzheit oft gerade dort, wo das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen zur Verhandlung steht. In der Regel werden die Teile dem Ganzen untergeordnet, und das Ganze wird im Gegenzug als über- oder suprasummativ aufgefasst. Es soll "mehr" sein als "die Summe seiner Teile", so lautet die bekannte Formel des Aristoteles. Diese Grundidee lässt mindestens zwei kausale wie temporale Spielarten zu. Das Ganze kann den Teilen vorangehen, es kann auf die Teile aber auch folgen oder aus ihnen resultieren, ohne seine Vorrangstellung einzubüßen. Aus diesem Grund wurde dem Ganzen oft vorgeworfen, das Partikulare zu absorbieren.
Gestalt
(2022)
Das Bedeutungsspektrum von 'Gestalt', diesem Inbegriff eines Abgeschlossenen, in sich Gegliederten, aber nur als Ganzes Wahrnehmbaren, ist um 1800 noch erstaunlich breit.[...] Auch den 1890 vom Gestalttheoretiker Christian von Ehrenfels fixierten "Gestaltqualitäten", zu denen vor allem gehört, dass eine Gestalt die Summe ihrer Teile übersteigt, kommt um 1800 noch keine privilegierte Stellung zu. Während das "Historische Wörterbuch der Philosophie" für jene Zeit zwar auch ein Dutzend Spezifikationen verzeichnet, 'Gestalt' aber exklusiv als ästhetischen und psychologischen Grundbegriff ausweist, hat Dagmar Buchwald in ihrem Eintrag für die "Ästhetischen Grundbegriffe" darauf hingewiesen, dass Gestalt in der mechanistischen Festkörperphysik der Zeit als Prädikat der 'res extensa' zu deren messbaren Attributen hinzutritt, ohne aber "in den Rang eines Standards" aufzusteigen. Die Differenz zwischen diesem und dem idealistisch überhöhten Gestaltbegriff "ist der Goethe-Zeit eingeschrieben", bezeichnet also ein Spannungsfeld, das erst später und besonders in der Zwischenkriegszeit den exklusiven Ganzheitsansprüchen der Gestalt weicht. [...]
Dagmar Buchwald zufolge "läßt sich die Geschichte des Begriffs Gestalt auch als Warnung vor einem 'Kult' um die Gestalt lesen." Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Kult um die Gestalt einer begriffshistorischen - wie überhaupt einer begrifflichen - Reflexion der Gestalt abträglich bleibt. Für eine Konkurrenz zwischen Kult und Begriffsschärfe sind die wissenschaftlichen Überlegungen, die in den 1910er und 1920er Jahren im Umfeld Stefan Georges zum Phänomen der Gestalt angestellt wurden, aufschlussreich und symptomatisch in einem. 1911 von dem Historiker Friedrich Wolters im "Jahrbuch für die geistige Bewegung" programmatisch lanciert, treibt die Gestalt bald in den germanistischen Schriften Friedrich Gundolfs und später auch Max Kommerells ihre Blüten. [...]
"Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile" - dieser Satz, eine stark verkürzte Passage aus Aristoteles' "Metaphysik", wird wie wohl kaum ein zweiter mit der Gestaltpsychologie assoziiert. Ähnlich hartnäckig mit ihr in Verbindung gebracht werden allenfalls noch 'Kippfiguren', also visuelle Reize, die abwechselnd mindestens zwei einander ausschließende Gesamteindrücke provozieren. In dieser assoziativen Verkürzung mag Gestaltpsychologie wenig konturiert oder banal anmuten, weil darin ihre historische Entstehungssituation und damit ihr radikaler, epochemachender Perspektiv wechsel unterschlagen wird. [...]
Die Tradition des Gestaltbegriffs, von Goethe bis zur Gestaltpsychologie, lässt sich der breiteren philosophischen Grundausrichtung des Holismus zuordnen, dessen Widerpart ist der Atomismus. Diese Differenz wird im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dort problematisch, wo holistische Gegenstandsfelder in atomistisch operierende technische Systeme umgesetzt oder durch sie simuliert werden sollen. Nirgends zeigt sich der Zusammenstoß beider Paradigmen besser als in der fortdauernden Auseinandersetzung um die Begriffe und Vorgehensweisen zweier der jüngsten Disziplinen des letzten Jahrhunderts, der Informatik und der Kognitions- bzw. Neurowissenschaft. Dieses Spannungsverhältnis wird vor allem am Forschungsdiskurs um die Künstliche Intelligenz (KI) seit den 1940er Jahren deutlich, der hier nachgezeichnet werden soll.
Synekdoche und Metalepse
(2022)
Das Ganze ist eine Latenzfigur, vielleicht die radikalste und folglich auch die bei Weitem undurchschauteste. Das wird an der neuzeitlichen Konjunktur der Synekdoche als einer generalisierten Beziehungsfigur augenfällig. In den unterschiedlichen Abschattungen des pars pro toto ist sie unter den Figuren der Rhetorik die mit der größten Reichweite.
Insel und Archipel
(2022)
Das theoretische Denken bedient sich bekanntlich häufig räumlicher Metaphern, wie etwa Reinhart Koselleck mit Bezug auf die Repräsentation von Zeitverhältnissen zu betonen pflegte. Darüber hinaus reicht ein Denkmodus, den der italienische Philosoph Massimo Cacciari einmal als "Geo-Philosophie" bezeichnet hat. Dieser Modus setzt dort ein, wo die Eigenarten und Kontingenzen der Gestalt der Erdoberfläche nicht mehr allein als metaphorische Sinnressourcen willkürlich genutzt werden, sondern selbst über Form und Richtung des Gedankens Gewalt gewinnen. Obwohl nicht der Erfinder eines solchen Denkens, ist Carl Schmitt doch sein bekanntester Vertreter, und er ist auch derjenige, der in der Dichotomie von Land und Meer die nachhaltigste Ressource erschlossen hat, vermittels derer man mit der Planetenoberfläche philosophieren kann. [...] Der Insel kommt in dieser Konstellation ein besonderer Status zu. Sie ist das nicht mit den Landmassen zusammenhängende Gebiet, dessen Daseinsbedingung das Meer ist. [...] Festzuhalten ist, dass die Geo-Philosophie, insofern es ihr um Figuren der Ordnung geht, früher oder später stets auf normative Sprache zurückgreift. Archipele sind immer schon normative Räume, in denen es um unübersichtliche, voneinander getrennte und doch aufeinander bezogene Normen und Werte geht. Die wechselseitige Bezogenheit, das Mitsein, stiftet die Einheit des Archipels als spezifischer 'Form des Ganzen'. Diese Form dient nicht allein dazu, jeweils ein spezifisches Gefüge von Normen und Werten abzubilden, sondern erlaubt auch eine philosophische Untersuchung der Natur solcher Gefüge.
Organismus
(2022)
'Organismus' ist eine Form des Ganzen, in der Vielfalt mit Einheit zusammengedacht werden kann. Der Begriff bezeichnet sowohl ein abstraktes Prinzip als auch konkrete, in der sinnlichen Anschauung erfahrbare und der kausalen Analyse zugängliche Gegenstände. Daher wurde er zu einem der zentralen Modelle von Ganzheit, vor allem in den empirisch orientierten Naturwissenschaften. Zu einem eigenen Typ der Ganzheitsform wird der Organismus nicht, weil er eine bestimmte Gestalt im Räumlichen bezeichnen würde - die Morphologie von Organismen ist bekanntlich überaus vielfältig -, sondern weil er ein bestimmtes Muster der Abhängigkeit von kausalen Relationen auf den Begriff bringt. Dementsprechend werden Organismen als 'dynamische' oder 'funktionale' Ganzheiten bezeichnet und gelten geradezu als das Paradigma dieser Ganzheitsform: Sie sind "das eindringlichste Beispiel einer dynamisch geordneten Ganzheit" oder auch "das Paradebeispiel einer strukturell-funktionalen Ganzheit".
Totalität
(2022)
Aus dem weiten Bedeutungshorizont des philosophischen Terminus soll im Folgenden 'Totalität' vor allem als Begriff in einer bestimmten neuzeitlichen Theorietradition thematisiert werden, in der er besonders prominent ist, und zwar in der zunächst im deutschen Idealismus verwendeten, dann vornehmlich im westlichen Marxismus prominent werdenden dialektischen Philosophie, wobei Gesellschaft zum paradigmatischen Gegenstand wird. Von Hölderlin über Hegel bis zu Lukács und Adorno lässt sich die Kategorie der Totalität wiederholt als eine dem Ideal des Kunstwerkes entlehnte erkennen. Beim jungen Hegel heißt es: "Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich." Dennoch wäre es verfehlt, den philosophischen Gehalt von 'Totalität' allein als eine Übertragung von der Kunst auf die Gesellschaft anzusehen. [...] Bei dem hier interessierenden Begriff der Totalität geht es um die vermittelt gedachte, nicht um die unmittelbar geschaute oder gefühlte Einheit der Welt. Auf andere, seltenere Verwendungen, etwa Alexander von Humboldts eher in der Anschauung gegründeten, panoramatisch auf die "Totalität der Naturanschauung" gerichteten Gebrauch, wird hier nicht näher eingegangen. Hegels berühmtes Diktum: "Das Wahre ist das Ganze" jedoch gehört ganz wesentlich zu dieser Theorietradition, auch wenn er das Wort Totalität an dieser Stelle selbst nicht verwendet. Die Bestimmung: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen" ist die wesentliche Denkfigur, die auch Hegel selbst später mit dem Terminus Totalität gefasst hat. Die Debatten um den Begriff sind seit den 1920er Jahren, worauf am Ende einzugehen sein wird, zugleich hochpolitisch, was die morphologische und semantische Nähe von 'Totalität' als philosophischer Kategorie und 'Totalitarismus' als politischem Schlagwort zeigt.
System
(2022)
Das 'System' erregt starke Gefühle. Das gilt, nach wie vor, in der Wissenschaft, das gilt aber auch im Bereich des Politischen, wo 'das System' (früher) von links und (heute) von rechts abgelehnt wurde und wird. Auch wenn der Kampf gegen das 'Schweinesystem' dem Hass auf 'Systemparteien' und 'Systempresse' Platz gemacht hat - kühl abwägend oder unbefangen neugierig steht dem System niemand gegenüber. Es gehört zur Aufgabe einer theorie- und begriffshistorischen Annäherung an den Systembegriff, auch die starken Gefühle zu verstehen, die dieser hervorruft.
Aggregat
(2022)
Aggregate, die sich von realen Einheiten durch ihre Zusammengesetztheit unterscheiden, können Leibniz zufolge auf die verschiedensten Weisen zu einer zufälligen Einheit zusammengesetzt sein: durch räumlichen Kontakt (wie beim gefrorenen Teich), durch gemeinsame Bewegung (wie bei der zusammengebundenen Herde) oder durch einen einheitlichen Zweck (wie bei der niederländischen Ostindien-Kompanie). Nach Leibniz entsteht die zufällige Einheit eines Aggregats erst durch eine synthetische Operation des Geistes, durch die eine Menge von Dingen als Teile eines Ganzen betrachtet wird. Dies bedeutet aber nicht, dass Aggregate nur Erscheinungen sind. Sie sind vielmehr Körper, deren Wirklichkeit in den realen Einheiten besteht, aus denen sie zusammengesetzt sind. Es bedeutet auch nicht, dass Leibniz seinen Aggregatbegriff dem des Organismus entgegensetzt. Wenn ein Aggregat organisiert ist, hat seine Organisation entweder einen äußeren Grund (wie bei der Uhr) oder einen inneren Grund (wie beim Pferd). Die letztere, organische Variante heißt 'Lebewesen' und unterscheidet sich von einem bloßen mechanischen Aggregat dadurch, dass die Verhältnisse seiner Teile zueinander einer einzelnen Entelechie oder Seele untergeordnet werden. [...] Im Anschluss an Kant etablierte sich die Unterscheidung von System und Aggregat als zwei einander entgegengesetzten Formen des Ganzen. Ein System besteht demnach in der notwendigen Verknüpfung von Gliedern, die innerlich (nach einem Prinzip) in einem bestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Ein Aggregat ist dagegen das bloß zufällige Resultat eines sukzessiven Zusammensetzens von Teilen, die äußerlich (durch räumliche Verhältnisse) in einem unbestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Im Unterschied zur Leibniz'schen Prägung des Begriffs, der auch organisierte Körper einschloss, wurde das Aggregat jetzt dem Organismus entgegengesetzt, der systematisch gedacht werden müsse, auch wenn unser begrenzter menschlicher Verstand dieses System nie vollständig begreifen werde.
Universum, All, Kosmos
(2022)
Historisch gesehen ist 'Universum' ein einfaches Wort. Es stammt aus dem antiken Latein, wurde dort von Cicero gebraucht, verbreitete sich mittels des altfranzösischen 'univers' über die meisten europäischen Sprachen und fand Eingang in den modernen Wissenschaftsdiskurs offenbar mit dem offiziellen Titel "Über das Universum" der sogenannten "Kosmos-Vorlesungen", die Alexander von Humboldt im akademischen Jahr 1827/1828 an der Berliner Singakademie hielt. Die Semantik von 'Universum' hingegen, welche auf den ersten Blick ähnlich unterkomplex aussehen mag und in der Tat über zwei Jahrtausende konstant geblieben ist, konfrontiert uns mit zahlreichen Unschärfen und mit einer elementaren philosophischen Herausforderung. [...] Wie jede menschliche Kultur, so verfügt auch unsere Gegenwart über spezifische Konzepte und Bilder vom maximalen Ganzen. Einige von ihnen, vor allem solche, die in globaler Kommunikation zirkulieren, aus den Perspektiven ihrer historischen Besonderheit und ihrer epistemologischen Funktionen zu beschreiben, nehme ich mir für diesen Text vor. Epistemologisch, also auf die Strukturen von Wissen bezogen, ist der Blickwinkel, weil solche Prämissen und Bilder des maximalen Ganzen den Stellen wert von erstaunlich selten explizit werdenden Vorzeichen für individuelle Akte der Erfahrung und der Wissensbildung haben; historisch werde ich nicht im Sinn einer geschichtlichen Dokumentation verfahren, sondern mit der Bemühung, vor dem Hintergrund intellektueller Vergangenheiten eine These über die Spezifik jener epistemologischen Vorzeichen im frühen 21. Jahrhundert zu formulieren.
Einleitung
(2022)
Die politischen Krisen der Gegenwart (Klimawandel, Migration, Pandemie) verlangen nach globalen und ganzheitlichen Lösungen, während Ganzheit aufgrund der Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts zugleich eine in Verruf geratene Kategorie ist. Dieser Spannung haben sich die Geisteswissenschaften seit einigen Jahren verstärkt zu stellen versucht. Galt das Ganze v. a. der Idealismuskritik lange als suspekt, geht die Verabschiedung überkommener Totalitätsmodelle derzeit oft mit der Erprobung neuer Vorstellungen von Ganzheit einher.
Pola Groß beobachtet in ihrem Beitrag zu neuesten deutschen Theatertexten eine Abkehr von der Relevanz der Aufführbarkeit, die mit einer Entwicklung hin zu stärkerer Fokussierung auf die Artifizialität und Poetizität der Texte einhergeht und somit zur "Reliterarisierung des Theaters" führe: Der Einsatz rhetorischer Stilmittel und die Aufwertung von Rhetorik als auch linguistisch fixierbare Sprechhandlung definierter Gruppen auf der Bühne trage dazu ganz wesentlich bei. Das zeigt Groß am Beispiel der Stücke dreier Gegenwartsdramatiker: Thomas Köck, Enis Maci und Wolfram Höll. Sie sind für das Verhältnis von Rhetorik, Stil und Gegenwartsbezug der neuen Stücke so aufschlussreich wie symptomatisch. In Köcks "paradies fluten" trägt nicht zuletzt die disparate Stilmischung zu einer auffälligen "Dramaturgie der Gleichzeitigkeit" bei. Ellipsen und fehlende Interpunktionen verstärken diesen Effekt. Enis Macis "Mitwisser" wird mitunter als "erstes wirkliches Internetdrama" gehandelt. Sie hält den hohen Stil auch dort durch, wo er ironisch gebrochen wird, integriert viele orale Segmente, bleibt jedoch im Ganzen auf die Ausstellung von Stil und Grammatik fixiert, um die Form gegenüber dem Inhalt und seinem Informationsgebot aufzuwerten. Hier schießt die Autorin jedoch, wie Groß überzeugend darlegt, mitunter übers Ziel hinaus, indem sie zu erläuternden (oft allzu moralischen) Kommentierungen bzw. Gebrauchsanweisungen neigt. Auch in Wolfram Hölls "Disko" geht es um den stilistisch bedingten Effekt der Gleichzeitigkeit, mehr noch als bei Köck, der diesen inhaltlich, und Maci, welche ihn formal privilegiert. Der Sound der 'Disko Europa' ist von einem minimalistischen Stil geprägt. Aber die an das elliptische Prinzip anknüpfenden Stile und Phrasen der Figuren nähern sich tendenziell so sehr an, dass sie sich zu einer Gruppen- oder Schulrhetorik formieren. In den unterschiedlich eingesetzten Techniken, eine Gleichzeitigkeit von Stil und Rhetorik zu forcieren, sieht Groß aber doch Möglichkeiten einer genuinen und bühnenwirksamen Literarizität.
Während Frank am Stil als "Handschrift des stilschöpferischen Individuums" gleichwohl festhält, sieht sich Elisa Ronzheimer anhand ihres Materials gezwungen, sowohl diesen Topos wie die Logik von Norm und Abweichung zu verabschieden. Was bei Frank Kombinatorik heißt, muss radikalisiert und neu gedacht werden, um dem international erfolgreichen südkoreanischen Musik-Video "Gangnam Style" gerecht zu werden, weil in diesem Fall das Original selbst schon parodistisch ist. Ronzheimer schlägt vor, das Individualitätsparadigma zu ersetzen durch ein Verständnis von Stil als kollektiver und partizipatorischer Praxis der Figuration und Defiguration. Damit scheint aber auch die Möglichkeit einer Art Wiederkehr der rhetorischen Regelpoetik am oder nach dem 'Ende' des Stils auf. Die Aussicht, dass heute Bedingungen herrschen, unter denen es eine Praxis, ein 'Üben' geben könnte, das nicht mehr automatisch Abweichungen produziert, sondern zur Homogenisierung tendiert, hat Moritz Baßler jüngst unter dem Titel "Der Neue Midcult" entfaltet.
Die Struktur und ihr Stil : wie Schleiermacher zwischen Derrida und Saussure vermitteln könnte
(2022)
Manfred Franks Beitrag widmet sich mit "Struktur" einem Gegenbegriff zum Stil, um Friedrich Schleiermachers sprachtheoretisch begründetes Verständnis des Stils als eines individuellen Allgemeinen zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass Stil und Struktur sehr wohl kompatibel sind und zusammengedacht werden können. Allerdings gilt auch bei Schleiermacher, anders als bei Lamy auf eine und bei Luther auf andere Weise, dass der Stil nie direkter Ausdruck (hier: des Individuellen) ist, sondern eine Weise der Kombinatorik, die allein "divinatorisch" zu entschlüsseln ist. Für den Nachweis der Kompatibilität von Stil und Struktur beruft sich Frank vor allem auf den Erz-Strukturalisten Saussure, der hier in große Nähe zu Schleiermacher und polemisch in weite Ferne von Jacques Derridas Saussure-Deutung gerückt wird.
Wie stark Stil durch die Rezipienten in ihren unterschiedlichen historisch-kulturellen Prägungen mitbestimmt wird, zeigt Gyburg Uhlmann in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Stil und Elliptik. Um der rhetorischen Figur dynamischer Auslassung an der Schnittstelle von Rhetorik und Rezeption Rechnung zu tragen, erarbeitet sie, auch in Auseinandersetzung mit der reader-response-theory und Flecks Denkstil, das Konzept des Homologiestils. In ihm wird die Möglichkeit einer Übereinstimmung der Leser mit dem Text zu einem integrativen Bestandteil des Textes: Der Text ist angelegt, seinen Lesern die dynamische Verfasstheit seines Stils im Lektürevorgang nahezubringen. In Uhlmanns Analyse wird deutlich, dass und wie Stil mit jeder Lektüre neu entsteht. Sie entwickelt ihre Thesen vor allem mit Blick auf die Pragmatien, also die Schulschriften des Aristoteles, die für die Tradition einschließlich einiger der hier verhandelten Beiträge, maßgeblich sind. Zwischen den Polen eines qualitativen Mangels und einer stilistischen Tugend wird Elliptik bei Uhlmann zu einem Gradmesser der Literarizität eines Textes in der Interaktion mit Rezipienten.
Lutherstil
(2022)
Wie Stil und Rhetorik in einem einzelnen Autor mit- und gegeneinander wirken können, zeigt Barbara N. Nagels Analyse der Texte Martin Luthers, dessen Stil die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache bekanntlich geradewegs bedingt haben soll. In engem Kontakt mit der jüngeren Lutherforschung arbeitet Nagel auf originelle Weise den antirhetorischen Affekt heraus, der Luthers Bibelstil, seinen deutschen Stil und den Disputationsstil grundiert. Was immer im Ausgang von Luther seit Buffons bekanntem Diktum und bis Nietzsche vom Stil behauptet worden ist, für Luther selbst war Stil Lüge und deshalb jüdisch konnotiert (und aus diesem Grund für ihn problematisch). Was heute 'hate speech' heißt und schon damals nicht auf das Reden beschränkt blieb, hat einen seiner Ursprünge in Luther.
Rüdiger Campe argumentiert für die Kontinuität der Rhetorik über die Zäsur von 1800 hinweg. Gegenläufig zu Martin Urmann setzt er jedoch an der bei Descartes und Lamy abgewerteten Übung an, die im Zuge der Bildungsreform endgültig von der Bildfläche verschwunden schien. In der Moderne knüpft allenfalls Raymond Queneau mit seinen "Stilübungen" (1947) an die sich in der französischen Tradition länger erhaltene Praxis an, aber das wohl eher unter ästhetischen als rhetorischen Gesichtspunkten. Dass die Überführung schulischer Übungen in ästhetische Verfahren und stilistischen Ausdruck im modernen Sinne einen Zusammenhang bilden könnten, den Baumgartens Ästhetik von 1750 noch einmal pointiert, war trotz der jüngeren Forschung zu Baumgarten, die seine Bedeutung für das Fortleben der Rhetorik in der Moderne immer wieder hervorgehoben hat, allenfalls zu ahnen. Der Zusammenhang war gleichsam blockiert durch die historische Zäsur, die Rhetorik von Stil trennt, denn in der Folge hat Stil es nicht mehr mit rhetorischen Regeln, sondern mit Dialektiken von Norm und Abweichung zu tun. Diesen ganzen Bereich nennt Campe die taxonomische Dimension des Stils. Und sie trägt auch Verantwortung für die im 20. Jahrhundert notorische Inkriminierung von Stil als verkapptes Machtinstrument. Sehr deutlich wird diese Abwehr beispielsweise an Theodor W. Adornos gespaltenem Verhältnis zum Stil. Campe ergänzt die taxonomische Dimension des Stils um eine praxeologische - prominent verkörpert im Begriff der Schreibszene - die direkt aus der rhetorischen Praxis kommt. Was später Stil sein wird, ist in der Rhetorik nicht in den Regelwerken, weder in der Tropenlehre noch in den 'genera dicendi' zu suchen, sondern in der Praxis, die 'hexis' heißt und eigentlich das Wesen der Rhetorik ist. Dem Eindruck eines radikalen Bruchs entgegen hat das Üben nicht aufgehört und insistiert noch dort, wo es mit 'Werken' im modernen Sinne um etwas anderes zu gehen scheint.