Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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Das Interesse an der Bibel wächst: Das Verhältnis von biblischem und literarischem Text wird zu einem immer komplexeren Forschungsfeld der Literatur- und Kulturwissenschaft. Anhand konkreter Beispiele werden etablierte Forschungsansätze zur Beziehung von Bibel und Literatur erweitert. Im Bezug auf die Problemfelder Intertextualität, Medialität, Diskurspolitik, Säkularisierung, Normativität, Historizität und Hermeneutik wird das Verhältnis von Bibel und Literatur beleuchtet und die Schwierigkeiten diskutiert, die dieser Bereich der interdisziplinären Forschung bereitet.
Genese und Genealogie : zur Bedeutung und Funktion des Ursprungs in der Ordnung der Genealogie
(2012)
"Genealogia" hieß auf Griechisch die Erzählung von der Geburt der Götter und der von ihnen erschaffenen Welt. Der griechische Kosmos, war eine genealogische Konstruktion, die ursprungsmythischem Denken ebenso entsprang, wie sie es abbildete. Als Urform des Weltverstehens hat die Genealogie Jahrhunderte lang die Ordnung der Dinge in der vormodernen Welt bestimmt.
Das vorliegende Buch erschließt das genealogische Denken vom Mythos des Ursprungs her. Protogonos - der "Erstgeborene" der orphischen Kosmogonie - ist ein urgöttliches Wesen, das in sich die Keime aller Seienden enthält, und immer wieder ist das Ursprüngliche ein paradigmatische Vorgänger, der die Zukunft weist und vorbestimmt. Am Ursprung durch die Genealogie verankert schufen die Menschen ihre ersten Gemeinschaften, die sich im Laufe der Geschichte bis zu den modernen Nationalstaaten entwickelten. Dabei scheint die Blutsverwandtschaften eine zweitrangige Rolle zu spielen, aber auch in der Zeit der Moderne ist die Menschheit nicht nur einmal in die "ursprungsmythische Geisteslage" vom "Blut und Boden" verfallen. 1933 schrieb Paul Tillich: "Der Ursprung enthält in sich das Gesetz des Kreislaufs: Was von ihm kommt, muss zu ihm zurück. Wo der Ursprung herrscht, kann es das Neue nicht geben. Die Herrschaft des Woher macht die Ernsthaftigkeit des Wozu unmöglich."
Ausdrucksphänomene fluktuieren zwischen den Sphären von Körperlichkeit und Bewegung sowie Sprachlichkeit und Kommunikation. Um Ausdruck in seiner eigentümlichen Mobilität und Wandlungsfähigkeit zu erfassen, erkunden die Beiträge des vorliegenden Bands seine ästhetischen, sozialen und (inter-)subjektiven Dimensionen und deren Überschneidungen sowohl im Rahmen historischer Entwicklungen als auch vor dem Hintergrund aktueller Erkenntnisse und Debatten der Psychologie, Philosophie, Hirnforschung und Linguistik. Aus den Themenbereichen Körper, Sprache und Künste, aber gleichfalls aus übergreifenden Fragestellungen der Anthropologie heraus werden kommunikative und körperliche Ausdrucksformen, auch in ihrem Zusammenspiel, in systematischer Weise analysiert und auf ihre situative und historische Spezifik hin untersucht. Nicht nur sprachliche Äußerungen, sondern ebenso Gesten und Gebärden, Tanz, Musik, Mienenspiel und Malerei stoßen dabei an Grenzen der Verständlichkeit und verweisen auf Ausdrucksqualitäten jenseits von Verbalität und Körperlichkeit.
I would like to start off my cultural-historical intervention with a trouvaille from the 'Denktagebuch', a sort of intellectual notebook, of Hannah Arendt, the famous German-Jewish philosopher (1906–1975). Arendt's publications include a most profound book on the 'Human Condition' (1958, in German 'Vita activa', 1960) in which she develops the idea of 'acting / Handlung' as the crucial realm of intersubjectivity and humanity. This realm is based in the space between human beings, a literal 'inter-est' of togetherness. It is only in this space, only in the relationship to others, that the full sense of the Self, including the involuntary expressions of the person, manifests itself. It is the same realm in which the moral, social and political life is created. In the notebook of the 44-year-old Arendt one comes across the following entry: "In nichts offenbart sich die eigentümliche Vieldeutigkeit der Sprache [...] deutlicher als in der Metapher. So habe ich zum Beispiel ein Leben lang die Metapher 'es öffnet sich mir das Herz' benutzt, ohne je die dazu gehörende physische Sensation erfahren zu haben. Erst seit ich die physische Sensation kenne, weiss ich, wie oft ich gelogen habe [...]. Wie aber hätte ich je die Wahrheit der physischen Sensation erfahren, wenn die Sprache mit ihrer Metapher mir nicht bereits eine Ahnung von der Bedeutsamkeit des Vorgangs gegeben hätte?" (Notebook II, 22 December 1950, Arendt 2002, 46) The entry discusses the mutual transferral between mind and body by reflecting the role of language as a mediator for minding the body and the embodiment of the mind. Since the phrase of the 'open heart' belongs to a register of long-established metaphors, these reflections concern the comprehension of body-metaphors and their role for a 'shared meaningful space of experiences' (Gallese 2009a, 527), i.e. language as transmitter of experiences and memory in cultural history.
Gesichtsauflösungen
(2013)
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird aus einem wiedergeöffneten Stollen der Bergwerke von Falun in Schweden der nahezu unversehrte Leib eines verschütteten Mannes geborgen. Die verblüfften Bergleute blicken in ein frisches Gesicht, in "die noch unveränderten Gesichtszüge eines verunglückten Jünglings" – wie es in der Quelle, in Gotthilf Heinrich von Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften (1808) heißt. Gleichsam eingelegt in Kupfervitriolwasser hat das Gesicht in 300 Ellen Tiefe überdauert, doch kann dessen Konservierung der Berührung mit Luft und Licht und mithin dem Auge der Umstehenden nicht standhalten. Gesicht und Körper lösen sich auf, zerfallen zu Staub, doch erst, nachdem ein altes Mütterchen "an Krücken und mit grauem Haar" den Konservierten erkennt und an ihre Brust drücken kann: Nicht die Mutter, nein sie ist die Braut des Jünglings von vor fünfzig Jahren, und ihr eingefallenes, "verwelktes" Gesicht kontrastiert der Wirkung des seinen. Die Geschichte vom konservierten Bergmanngesicht ist eine der bekanntesten Kombinationen von Literatur und anorganischer Chemie. Johann Peter Hebel und E.T.A. Hoffmann haben diese Geschichte der Flüssigkeiten als eine Art Antidoton gegen die Auflösungserscheinungen des Gesichts erzählt, die zumindest bei Hebel von einer Verwirrung der Chemikalien und ihrer Wirkungen geprägt ist. Denn die schnelle Auflösung, freilich nach vollzogener Identifikation durch die alte Braut, widerspricht dem chemischen Prozess, durch die jedoch deutlich werden soll, dass der unversehrte Kopf in Vitriol, seine Erkennbarkeit und Präsenz nur um den Preis der Sichtbarkeit zu haben ist: Allein als ein den Blicken und Interaktionen mit den Menschen entzogener Kopf bleibt er sich gleich, ist er intakt, unvergänglich. Damit wird gleichsam auf dem Haupt des aus der Zeitlichkeit herausgefallenen Bergmanns ein Spiel um natürliche und erworbene Konservierungsmodalitäten durch das Vitriol des Berges einerseits und das Gedächtnis der ergrauten Braut andererseits ausgetragen. Als Garanten gegen die Auflösung buhlen sie um die Haltbarkeit und physische Integrität des Menschen, genauer um das Bild von ihm. Durch eine "Verwirrung der Chemikalien", die im Übertrag von der Quelle zur Prosaerzählung erfolgte, wird der Konservierungsstoff Kupfervitriol oft als Eisenvitriol oder folgenreicher und entgegen der Nomenklatur gar als Schwefelsäure überliefert. In dieser starken Säure allerdings hätten sich nicht nur Gesicht und Körper des Bergmanns in maximal zwei Stunden, sondern auch das ganze Bergwerk zersetzt. Im konservierten Bergmann als der Geschichte einer aufgeschobenen Auflösung konvergieren einige Themenfelder der folgenden Beiträge: Neben dem Entzug und der Bergung eines unversehrten Antlitzes, dem eine Art facelifting zuteil wurde, sind es die Umstände seiner Erinnerung und die Bedingungen zu seiner Wiedererkennung, seine Fragilität und sein Zerfall. Themen, in die an dieser Stelle ein wenig eingeführt werden soll.
Nach 1989 ist Europa – wieder einmal – in Bewegung geraten und die Mitte des Kontinents hat sich "ostwärts" verlagert. Diese Verschiebung Europas, die Frage nach neuen und alten Grenzen und Zentren, ist Anlass, sich mit jener vergessenen Himmelsrichtung und ihren Gebieten zu befassen, die 'plötzlich' wieder auf der Landkarte und in den Köpfen aufgetaucht sind. Wird der Osten zum Standort gemacht, von dem aus Europa zu konturieren ist, so erschließt sich dieser Osten in seinen unterschiedlichen geographischen, historischen und imaginären Mehrdeutigkeiten. Europa wird dabei zu einem dezentralen Gebilde, für dessen kulturelle Semantiken gerade die Peripherien von entscheidender Bedeutung sind.
In den Beiträgen des Bandes werden diese "schmerzenden Nähte" (Jurij Andruchowitsch) aufgesucht: von Vilnius über den Balkan, den Kaukasus, die Schwarzmerregion bis nach Istanbul, Alexandria oder Beirut. Es eröffnen sich plurale Kulturen, deren Umgang mit Sprachen, Religionen, Bild- und Zeichensystemen in vielem quer zu westlich-europäischen Ordnungskonzepten liegen. Zugleich liegt die Brisanz dieser Kulturen darin, dass sie auf vielfältige Weise mit modernen kulturellen Homogenisierungsstrategien verbunden sind und immer wieder auf die auch diesen inhärenten, verdeckten oder getilgten Pluralitäten verweisen. Die Beiträge zeigen, wie die Vermessung dieser Orte zu allen Zeiten zu einem beträchtlichen Teil in Literatur und Kunst stattfindet. Hier werden territorial-kulturelle Zugehörigkeiten verhandelt, wird ein nuanciertes Spiel mit geopolitischen Verschiebungen, Verwerfungen und Umkodierungen von Topographien, mit ironischen oder melancholischen Wahrnehmungen "fremder" Räume und Gepflogenheiten betrieben.
Die zwei folgenden Vortragsskripte sowie die Transkripte von Kommentar und Diskussion entstammen einem Workshop, auf dem die "Verfahren" der Epigenetik im Fokus der Diskussion standen. Darin wurden die Technologien der Epigenetik innerhalb der Forschung und an ihren Schnittstellen mit anderen Disziplinen und der Öffentlichkeit beobachtet. Leitend war die Frage, wie das Wissen um epigenetische Prozesse in Forschungslabor und Öffentlichkeit zwischen 'techne' und 'logos' greifbar wird, wie es dargestellt, modelliert, angewendet wird. Das schließt ausdrücklich sowohl die geschichtliche Herkunft dieser Verfahren ein, als auch die Art und Weise, wie Epigenetik als Wissenschaft und wie ihre Befunde kulturell verankert und zur Darstellung gebracht werden. Die hier aus diesem Diskussionszusammenhang ausgekoppelten Beiträge werfen einen Blick auf die Konstruktionen von Übertragungsphänomenen in Forschung und Öffentlichkeit. Der Beitrag von Jörg Thomas Richter unternimmt eine kurze Medienschau, die skizziert, welche Relevanz den Befunden dieser Forschung in der breiteren Publizistik beigemessen wird. Vanessa Lux eruiert die konzeptionellen Interferenzen, auf die die Forschung trifft, wenn sie transgenerationelle Übertragung als Vererbung modelliert. Ohad Parnes geht in seinem Kommentar sowohl auf historische als auch systematische Probleme des Vererbungsbegriffs ein, wie er aus der Genetik in die Epigenetik übertragen wird. Dem beigeordnet sind Auszüge aus der Abschlussdiskussion. Sie belegen ihrerseits das faszinierende Schillern, das die Epigenetik umgibt, aber sie suchen darüber hinaus die Spiegel und Splitter zu orten, von denen es möglicherweise ausgeht.
Das folgende Transkript zweier Vorträge zum Thema der Ernährung mit anschließender Diskussion stammt aus einer Werkstattreihe am ZfL, die anlässlich dem sich konstituierenden Forschungszweig einer biomedizinischen Epigenetik programmatisch nach der Integration "kultureller Faktoren der Vererbung" in molekularbiologische Forschung fragt. Mit der Werkstattreihe sind zwei Anliegen verbunden: Erstens sollen die Veranstaltungen eine Plattform bilden, auf der die epistemischen, methodischen und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen der aktuellen Inkorporierung kultureller Faktoren in die Biologie der Vererbung interdisziplinär diskutiert werden können. Wenngleich die heute messbaren, transgenerationalen Effekte solcher Einschreibungen bislang nur spekulativ sind: Offenbar sind biologische Vererbungsvorgänge angemessen nur zu erklären, wenn in deren Erforschung auch nicht-genetische, gleichwohl stabile und wiederholte Übertragungsprozesse entlang beispielsweise ethologischer, psychologischer, ökologischer und im weiteren Sinne soziokultureller Linien einbezogen werden. In dieser Hinsicht haben die Biowissenschaften tatsächlich - und programmatisch - damit begonnen, ein weit über die Biologie hinausweisendes, breites epistemisches Terrain mit den ihr eigenen methodischen Mitteln und Erklärungsmodellen zu erschließen. Daraus folgt zweitens, dass von kulturwissenschaftlicher Warte aus gerade auch die Methoden zu diskutieren sind, mittels derer epigenetische Forschung sich gegenwärtig kulturellen Phänomenbereichen nähert. Denn dieses biowissenschaftliche Neuland ist nicht unbesiedelt. Prozesse der Weitergabe von erbrelevanten Informationen zwischen Eltern und Kindern, der Interaktion zwischen auf unterschiedlichen Ebenen situierten Erbinformationen von Lebewesen und ihrer Umwelt, Prozesse der Tradierung von Lebensformen standen und stehen heute im Suchfeld unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen: von Armuts- über Bildungs-, Ernährungs- und Traumaforschung bis hin zu den Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Aus den resultierenden Überlagerungen dieser wissenschaftlichen Zugänge folgt eine Reihe von unterschiedlichen methodischen, und epistemologischen, aber auch ethischen und handlungspraktischen Herausforderungen. Nicht nur müssen sich die Biowissenschaften in ihrem Versuch, Vererbung um 'kulturelle Faktoren' zu bereichern, am zeitgenössischen Verständnis von Kultur und Gesellschaft messen. Auch die den Geistes- und Sozialwissenschaften eigenen Antworten auf Fragen von Überlieferung, Übertragung und Vererbung sind erneut zu besichtigen.
Eines der zentralen Konzepte, auf das sich die Sowjetunion in ihrem Selbstverständnis als neue Zivilisation berief, war das Konzept der "Völkerfreundschaft" (družba narodov). Über den naheliegenden Zusammenhang mit der sowjetischen Nationalitätenpolitik (insbesondere stalinscher Prägung) hinaus verweist es auf die propagierte sowjetische Ethik – die Gleichheit aller Sowjetbürger nach der Abschaffung der Klassengesellschaft. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wird dieses Modell des gemeinschaftlichen Zusammenlebens bezogen auf den Raum der Sowjetkultur vor allem als machtpolitische Strategie bzw. in seiner mythenhaften Dimension betrachtet. Anliegen des Workshops ist es, ausgehend vom sowjetischen Freundschaftsbegriff unterschiedliche Facetten und Implikationen der Freundschaft im interkulturellen Vergleich zu diskutieren. So haben Länder und Regionen im Süden und Osten Europas (wie Georgien) beispielsweise die Gastfreundschaft als kulturelle Praktik zu ihrem "Markenzeichen" erklärt. Die Art und Weise, wie die Gastfreundschaft in Literatur und Kunst verhandelt bzw. repräsentiert wird, ist ein Indiz für die nachhaltige Bedeutung des Paradigmas, das bis in aktuelle Konflikte und juristische Diskurse (wie etwa die Frage nach dem Gastrecht oder das ethnisch begründete Restitutionsgesetz im heutigen Abchasien) hineinreicht. Gefragt wird u.a. nach den politischen Implikationen des Freundschaftsbegriffs, nach der Übertragung des interpersonellen Konzepts Freundschaft auf Völker im (sowjetischen) Konzept der Völkerfreundschaft, nach Politisierungsstrategien, nach unterschiedlichen Praktiken der (Gast-)Freundschaft (u.a. im Kontext der Derridaschen Ethik oder der Positionen von C. Schmitt, P. Klossowski oder M. Mauss) oder etwa nach der Bildung formeller und informeller Netzwerke in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten. Schwerpunktmäßig im 20. und 21. Jahrhundert angesiedelt, wird im Rahmen des Workshops auch die Genese der (sowjetischen) Konzepte und Praktiken der Freundschaft aus der Antike bzw. der Vormoderne thematisiert.
Die Schlagworte "Balkanisierung" und "Zweites Beirut" stehen für auch untereinander austauschbare (Kriegs-)Schauplätze, die sich wie Jugoslawien und Libanon als Konglomerate von vielfältig definierten Zugehörigkeiten lesen lassen und die ihre Fortsetzung in mittlerweile intensiven und nicht selten künstlerischen Versuchen, die fragmentierten Kulturen zu konsolidieren, gefunden hat. Der vorliegende Band geht an Beispielen aus Literatur, Film, performativen Künsten und Musik gegenwärtigen (post-)jugoslawischen und libanesischen Zugehörigkeitsschreibungen und deren gleichzeitiger Infragestellung nach. Dabei richtet sich das Augenmerk ebenso auf neu und wieder entdeckte gemeinsame Bezugsgrößen wie das Osmanische Reich und den Kommunismus wie auch auf geteilte Möglichkeiten der Intervention, die über topographische, politische bis hin zu performativen Einsprüchen reichen.
Tütensuppe, Trambahn, Twitter: Dass sich die Geschichte der Beschleunigung anhand von alltäglichen Dingen nachvollziehen lässt, machte die Ausstellung "TEMPO TEMPO! Im Wettlauf mit der Zeit" anschaulich, die 2013 im Museum für Kommunikation Berlin gezeigt wurde. Die Ausstellung dokumentierte dabei die Vielfalt von Produkten und Medientechniken, die dem Menschen das Alltagsleben erleichtern sollen, indem sie Handlungen vereinfachen und beschleunigen und damit Zeit einsparen. Gleichzeitig thematisierte die Ausstellung aber auch das moderne Lebensgefühl der stetigen Beschleunigung und der Zeitknappheit. Auf diese Weise wurde anhand der Exponate das "ungeheure Paradoxon der modernen Welt" veranschaulicht, dessen innere Strukturen der Soziologe Hartmut Rosa aufgezeigt hat: Eigentlich zielen die vielen Innovationen darauf ab, Zeit zu sparen, indem sie den nötigen Zeitaufwand für Handlungen verringern. In ihrer Häufung führen sie jedoch zu einer empfundenen Beschleunigung des Lebens, weil in demselben Zeitraum mehr einzelne Handlungen als zuvor möglich sind und auch zunehmend erwartet werden. Die "Logik der Beschleunigung" formt die Zeitstrukturen in der Moderne.
"Die Jugend aber ist das Dornröschen, das schläft und den Prinzen nicht ahnt, der naht, es zu befreien." (Walter Benjamin)
Walter Benjamins Jugendschriften stellen eine weitgehend unbekannte Seite seines Schaffens dar. Zumeist wird mit Befremden auf sein enthusiastisches Engagement in der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg reagiert. Benjamins philosophische und literarische Anfänge gilt es jedoch als eigenständige Phase seines Denkens Ernst zu nehmen. Denn Benjamin war nicht nur jung, als er seine frühesten Schriften verfasste, sondern die ambivalente Idee der Jugend diktiert diesem Diskurs auch sein Gesetz. Die vorliegende Studie rekonstruiert die spezifische Konfiguration von Benjamins Jugendphilosophie und wirft ein neues Licht auf spätere Phasen seines Denkens. Damit stellt sie die erste umfassende systematische und historische Auseinandersetzung mit dem jungen Benjamin dar. Durch die konsequente Berücksichtigung des zeitgenössischen Kontexts wird ein wichtiger Beitrag zur kulturgeschichtlichen Aufarbeitung der Jahrhundertwende, einem Stiefkind der Philosophiegeschichte, geleistet.
Ortsschriften Peter Handkes
(2012)
Die Dissertation "Ortsschriften Peter Handkes" zeigt zum einen, auf welche Weise die moderne Kriegs- und Vernichtungsgeschichte die Bücher Peter Handkes durchzieht, zum anderen, in welchen Dimensionen Entwicklungen der unmittelbaren Gegenwart, die unter dem Begriff "Globalisierung" zusammengefasst werden können, Handkes Ortsschriften tangieren beziehungsweise von ihnen sowohl aufgenommen als auch imaginiert werden.
Die Arbeit fügt der umfangreichen Forschung zur Frage, wie nach 1945 ein Weiter-Schreiben möglich ist, eine Untersuchung hinzu, die das diesbezügliche Schreibverfahren eines der bedeutendsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur herausarbeitet: Die Kontrastierung der Beschreibung von friedlichen Orten mit den verdrängten Spuren ihrer Gewaltgeschichte strukturiert seine Texte bis heute. Insofern eine Literaturwissenschaft, die sich den Prozessen der Globalisierung stellt, nach wie vor, wie Patrick Ramponi schreibt, noch in den Kinderschuhen steckt, zumindest im Hinblick auf eine Literatur, die nicht zur postkolonialen gehört, betritt die Arbeit Neuland. Legt sie doch einen Versuch vor, eine Literatur ohne Migrationshintergrund im Rahmen von Globalisierungsdiskursen zu interpretieren.
Die Untersuchung schließt eine Lücke in der Handke-Forschung. Erstmals werden Handkes Arbeiten von 1963 bis 2010 als Gesamtkorpus interpretiert und den Aufsätzen zu einzelnen Orten eine systematische Abhandlung der Orte im Paradigma der Topographie zur Seite gestellt. Dies erlaubt eine Korrektur der festgefahrenen Kritik sowie eine Neubewertung der Bedeutung der Orte für Handke. Sie entwickelt zudem eine – angesichts von bisher über 70 Veröffentlichungen enorm fruchtbare – Poetologie, in der die Ortsbe- und Ortserschreibungen zur Voraussetzung der Literatur werden. So wird Handkes Literatur als Teil einer Literatur lesbar, zu deren zentralen Schreibanlässen die Problematiken der Nachkriegsliteratur und die Ortsveränderungen im Zeitalter der Globalisierung zählen.
Weil Grenzen – ob reale, disziplinäre oder symbolische – Orte der Begegnung und Konfrontation sind, entstehen gerade in ihren Zwischenräumen vielseitige Dynamiken. Der Grenzraum zwischen Tier und Mensch ist der zentrale Ermöglichungsgrund und Austragungsort des Wandels der politischen Semantik in der Frühen Neuzeit. Für diesen Wandel spielen politische Schriften ebenso eine wichtige Rolle wie wissenschaftliche und literarische Texte. Benjamin Bühler geht den Grenzfiguren wie dem Hirten, Fuchs, Picaro oder der Bevölkerung im Feld des Politischen nach. Ausgangspunkt der Studie ist die These, dass die Verortung der politischen Akteure zwischen Tier und Mensch in Perioden des Umbruchs die Ausbildung und Erprobung neuer politischer Semantiken erlaubt.
In diesem Buch werden distinkte Formen literarischer Buch- und Schriftvernichtungen in ihren poetischen, narratologischen, medientheoretischen und kulturgeschichtlichen Dimensionen analysiert. Damit werden insbesondere diejenigen Aspekte berücksichtigt, die im 20. Jahrhundert durch die symbolische Last historischer Bücherverbrennungen aus dem Blick geraten sind. In der Verschränkung verschiedener Wissensfelder wie der Schrift- und Lesekultur, der Zensur- und Klandestinaforschung oder der Kolonialismus- und Ideologiegeschichte werden gängige Narrative der Buch- und Schriftvernichtung in Frage gestellt. Dies erfolgt mit dem Ziel, die Wahrnehmung von literarischer Tradition, von Kanonbildung und Zensurpraktiken zu modifizieren.
Anhand zahlreicher Einzeltexte der überwiegend europäischen Literatur vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart wird in dieser Studie der Zusammenhang von Buchleidenschaft und Schriftfeindschaft, philologischer Neugier und Auslöschungsbegehren, Kanonbildung und 'Buchhinrichtung' untersucht. Sie zeigt auf, inwiefern mit den Szenarien der Schriftvernichtung eine regelrechte Aufwertung der Rolle von Buch und Schrift einhergeht. Den transformatorischen Vorgängen des Löschens, Brennens und Einverleibens von Buch und Schrift wird hierbei ein Eigenwert als Praxis des Wissens eingeräumt.
Niemand wird als Märtyrer geboren – auch nicht in der arabischen Welt, wo dieser Begriff seit einigen Jahren Hochkonjunktur hat. Bei der Stilisierung zum Märtyrer spielen Literatur und bildende Künste eine zentrale Rolle: Ohne Literatur gäbe es keine Märtyrer, niemand würde sich ihrer erinnern. Könnte ein Akt des Martyriums begangen werden ohne seine vorherige symbolische Produktion, ohne seinen öffentlichen Lobpreis und seine Huldigung als Vorbild für Tugend und Heldentum?
Friederike Pannewick beschäftigt sich mit verschiedenen Konstellationen von Opfer, Tod und Liebe, angefangen mit der frühislamischen arabischen Literatur bis hinein ins 21. Jahrhundert. Stationen sind der frühislamische Schlachtfeldmärtyrer, der Liebestod, weibliches Martyrium und Selbstmordattentäterinnen, aber auch moderne Dichtung und Romane, die die propagandistische Wirkungsmacht von Märtyrerfiguren in der blutigen Geschichte der zeitgenössischen arabischen Welt kritisch reflektieren und ästhetisch dekonstruieren.
Die Transplantationschirurgie wirft – bei all ihren Erfolgen – juristische, bioethische und philosophische Fragen auf und provoziert kollektive Hoffnungen, Phantasien und Ängste, die sich in Literatur und Film niederschlagen. Zugleich können literarische Texte und Filme das Thema neu konturieren und dabei eigenständige künstlerische Darstellungsformen entwickeln.
Irmela Marei Krüger-Fürhoffs Studie untersucht Sujet und Verfahren der Transplantation in Fiktion und Wissenschaft und betritt damit literaturwissenschaftliches und kulturwissenschaftliches Neuland. Auf der Grundlage von 90 literarischen Texten und 40 Filmen vor allem aus dem deutschen, englischen und französischen Sprachraum rekonstruiert die Monographie die kulturellen Repräsentationen der Transplantationsmedizin vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Dabei nimmt sie Auseinandersetzungen mit realen Erfahrungen ebenso in den Blick wie utopische bzw. dystopische Imaginationen und analysiert, wie Literatur und Film auf medien-, gattungs- und genrespezifische Weise an der Konstruktion, kritischen Reflexion, aber auch Durchsetzung von medizinischem Wissen und Handeln beteiligt sind.
Ein besonderes Interesse der Studie gilt den Spezifika einer Poetik der Transplantation, d.h. den narrativen und ästhetischen Inszenierungen von Wissen sowie den Denkfiguren, die für die Darstellung von 'Verpflanzungen' als chirurgisch-immunologisches, wissenshistorisches und rhetorisches Verfahren eingesetzt werden.