Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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Ökologie
(2022)
Als die Ökologie 1866 von Ernst Haeckel aus der Taufe gehoben, d. h. offiziell zu einer biologischen Teildisziplin ernannt wird, gehört die Annahme einer 'ganzen Natur' zu ihren zentralen Glaubenssätzen. Der vielseitig tätige Haeckel betrachtet die Natur als ein "überall zusammenhängendes 'Lebensreich'", das von einer gleichbleibenden Substanz getragen und beseelt wird. In einer gewissen Spannung zu diesem versöhnlichen Bild stehen manche Aspekte von Haeckels ökologischer Lehre. Beschrieben werden dort die wechselseitigen Einwirkungen von Organismus und Umgebung sowie der Organismen untereinander, und diese Interaktionen können durchaus feindselig ausfallen. [...] Haeckels Ausführungen markieren nicht nur den nominellen Auftakt der biologischen Ökologie, sie läuten auch bereits die wechselvolle Karriere von Ganzheitsbegriffen innerhalb dieses Forschungsfeldes ein. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich dabei insofern ausmachen, als der Kategorie des Ganzen hier eine spezifische Funktion zukommt: Sie dient dazu, den größeren Zusammenhang zu benennen, innerhalb dessen die Wechselwirkungen in der Natur, welche dies im Einzelnen auch sein mögen, beschreibbar werden. Denn von Haus aus hat es die Ökologie nicht mit isolierten Individuen zu tun, sondern mit den Bezügen, die zwischen diesen und ihrer Außenwelt bestehen. [...] Hinzu kommt, dass sich auch das Verständnis des Ökologischen selbst in den letzten rund 50 Jahren gravierend gewandelt hat. 'Ökologie' bezeichnet seither nicht mehr allein eine biologische Teildisziplin, sondern eine Weise des Denkens, die auf Relationalität im weitesten Sinn bezogen ist, die sich also mit Beziehungsgefügen, Verbundenheiten und Inklusivität befasst. In diesem erweiterten Verständnis hat die Ökologie seit den 1960er Jahren, besonders aber seit der Jahrtausendwende in den verschiedensten Wissens- und Anwendungsfeldern Einzug gehalten. Während Forschungszweige wie der vor etwa drei Jahrzehnten institutionalisierte 'Ecocriticism' noch explizit an die Leitbilder des Naturschutzes und der Umweltethik anknüpfen, hat sich das ökologische Denken inzwischen vielerorts aus dem durch 'Natur' bestimmten Bezugsrahmen herausgelöst. Dies geht mit einer Problematisierung der Annahme einher, dass es so etwas wie eine 'erste' Natur, auf die sich Ökologie exklusiv zu beziehen hätte, überhaupt geben kann. So lässt sich gegenwärtig einerseits eine kaum noch überschaubare Diversifizierung des ökologischen Denkens feststellen, während andererseits Ansätze zu einer 'allgemeinen Ökologie' entwickelt werden, die die vielfältigen ökologischen Phänomene ontologisch, d. h. unter dem Gesichtspunkt des 'ganzen Seins', zu erfassen suchen.
Mit ontologischen Problemen des Ganzen beschäftigt sich Robert Matthias Erdbeer in seiner Untersuchung des modernen Computerspiels. Er knüpft dabei an moderne Spielkonzeptionen von Schiller über Gadamer bis hin zu Wolfgang Iser an, die das Spiel als Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, v. a. aber in der Koppelung von Vorhandenem und Möglichem einer außerordentlichen "ontologischen Belastung" ausgesetzt hätten. Diese Belastung setze das Computerspiel in seinem eigenen Medium konsequent um und fort. Beim Gaming gehe es um eine grundlegende "Inszenierung von Handlungsmodalität" im Sinn einer "kohärenten Selbst- und Welterfahrung". Ganzheit komme dabei insbesondere über das Weltmodell der virtuellen Storyworld, über das Selbst als Avatar und in der Reflexion und Gestaltung des Spiels als Integral der Medienkünste zum Ausdruck.
Dimensionen des Werkbegriffs
(2022)
Ingo Meyer fragt nach Ganzheitsvorstellungen mit Bezug auf den Werkbegriff von der ästhetischen Theorie seit dem 18. Jahrhundert bis in die zeitgenössische kunst- und literaturwissenschaftliche Schulenbildung hinein. Obwohl (oder weil) das Werk an materielle Träger gebunden sei und zwingend der Realisation bedürfe, begreift Meyer es als "ontologischen Skandal". Klassische Zuschreibungen an das Werk wie 'Mikrokosmos', 'Äquilibrium' oder 'Harmonie' sowie überhaupt die aus ganz unterschiedlichen Richtungen an das Kunstwerk herangetragene Forderung nach "Kontingenzvernichtung" forderten die Frage nach seinem ontologischen Status stets aufs Neue heraus. Seinen vielleicht privilegiertesten Ausdruck findet das Problem Meyer zufolge in der Kategorie der Werkgenese, die keineswegs einfach als Produktionsästhetik (miss)verstanden werden dürfe. Die Irritation darüber, dass das Werk überhaupt 'da' sei, könne nicht mit Gattungsordnungen, Kanonisierungsreflexionen, Marketingstrategien oder klassischen Dichotomien wie Produktions- und Rezeptionsästhetik stillgestellt oder unsichtbar gemacht werden. Vielmehr gelte: "Das Paradoxe am Kunstwerk aber ist der Umstand, dass mit zunehmender Elaboriertheit seine Unbestimmbarkeit zunimmt, völlig konträr zu Handwerk oder Wissenschaft."
Stefan Willer fragt nach den Ganzheitspostulaten enzyklopädischen Wissens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ganzheit begreift er dabei als eine Kategorie, die von unterschiedlichen Formen der Enzyklopädie erst hergestellt werden müsse und die hier besonders intensive Verbindungen zu Phänomenen wie 'Summe', 'Gesamtheit' oder gar 'Überfülle' unterhalte. Dies zeige sich vornehmlich am Problem enzyklopädischer Ordnungsmuster, die auf "die Registrierung, Sortierung und mitunter auch Systematisierung von Wissen" abheben und sich schnell mit der Frage nach einer Begrenzbarkeit dieses Wissens konfrontiert sehen. Eine zusätzliche Schwierigkeit für Enzyklopädien stelle das Verhältnis der verzeichneten Realien zur Medialität der Sprache dar. So gelte es etwa für Diderot als ausgemacht, dass die Sprache aufgrund ihrer fehlenden Systematizität "nur eingeschränkt als Medium der Wissensdarstellung geeignet" sei. Willer beleuchtet die Affinitäten zwischen Enzyklopädie und Roman, der seinerseits oft auf "Totalisierung", auf den "Einschluss heterogener Elemente" und auf die "Überschreitung jeglicher Gattungslogik" verpflichtet worden sei, und lässt seine Überlegungen in eine Lektüre von Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet" einmünden, in dem die enzyklopädische Anhäufung von Wissen auf Handlungsebene zwar als ziel- und nutzlos klassifiziert werde, sie sich auf der Ebene der Textkonstitution jedoch zugleich als unabdingbar erweise. Den Anspruch auf Ganzheit oder Vollständigkeit des Wissens kündige Flauberts Roman folglich nicht einfach auf. Vielmehr stelle er einen "Widerspruch zwischen der textkonstitutiven und der poetologischen Funktion von Wissen" zur Schau.
Wissenschaft
(2022)
Georg Toepfer wendet sich Ganzheitsidealen der Wissenschaft und ihrer Theorie von der Antike bis zur zeitgenössischen Wissensgeschichte zu. Ganzheit kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kommen. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit ihrer inneren Einheit auf methodologischer Ebene, sie fragt nach der Ganzheit oder Ganzheitlichkeit ihrer Gegenstände (im Rahmen etwa einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus), sie kann eine Summe aller Wissenschaften als Ganzheit in Aussicht stellen oder den Versuch unternehmen, eine Einheit oder Ganzheit der gesamten Menschheit zu befördern. Insgesamt sei festzuhalten, dass Forderungen nach einer Einheit der Wissenschaft verstärkt zu Zeiten aufkämen, in denen sich epistemologisch wie praktisch das exakte Gegenteil beobachten lasse. Auch wirke die Ganzheitsrhetorik der Wissenschaft "mitnichten integrativ", sondern arbeite im Gegen teil oft "mit massiven Ausgrenzungen". Das Ganzheitsproblem habe die wissenschaftliche Selbstreflexion oft auch hinsichtlich ihrer eigenen Visualisierbarkeit beschäftigt. Dies findet seinen Niederschlag in frühneuzeitlichen Diagrammtypen wie dem Baum, dem Haus oder dem Bergwerk, in der zweidimensionalen Landkarte der 'Encyclopédie' oder in einer von Jean Piaget noch im 20. Jahrhundert bearbeiteten Kreisfigur. Solche Formen des Ganzen offenbarten die "Simplifikation" des wissenschaftstheoretischen Zugriffs und müssten oft ganze Wissensbereiche ausschließen; im Fall Piagets etwa die kompletten Geisteswissenschaften.
Daniel Weidner untersucht die (als 'absolut' begriffene) Metapher der Welt im Werk Hans Blumenbergs und wirft in enger Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition die Frage auf, ob 'Welt' im Plural überhaupt noch eine Ganzheit meinen könne. Der philosophische Zugriff auf die 'Welt' oder auf 'Welten' - ähnliches gelte mit Blick auf Blumenberg vornehmlich für den 'Horizont' - gestalte sich insofern als schwierig, als sie auf Gegenstandsebene immer implikativ bleiben müsse. Diesem Problem begegne Blumenberg mit der Ausgestaltung vierer historischer Wirklichkeitsbegriffe, die die 'Welt' in einer "Spannung von Evidenz und Mitpräsenz, von Intention und Erfüllung" situierten, und zwar als Anschauung (in der Antike), als Offenbarungsmitteilung (im Mittelalter), als sukzessive sich entfaltende "Verläßlichkeit" (in der Neuzeit) oder als Widerstand. Letzteres scheint vornehmlich für die Moderne zu gelten, der Welt und Wirklichkeit oft als ein "ganz und gar Unverfügbares" erschienen. Anschließend beleuchtet Weidner die unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst, die Blumenberg diesen Modellen von Welt und Wirklichkeit attribuiert. Die von Blumenberg dem Roman als "formale Totalstruktur" zugeschriebene "Welthaltigkeit" entspreche dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit. Durchaus also würden Wirklichkeit oder Welt Blumenberg zufolge in der Kunst tentativ erfahrbar; dies jedoch gerade nicht im Sinn der einen Totalität des vollkommenen Kunstwerks, wie es die idealistische Ästhetik in der Regel suggerierte.
Wo das Ganze als Prozess begriffen wird, droht es mitunter zu entgleiten. Im Denken des Ganzen haben sich reiche Traditionen herausgebildet, die (auch) in dieser Gefahr eine Chance sehen. Die Überzeugung einer kategorialen Ungreifbarkeit, Unbestimmtheit oder Unerreichbarkeit des Ganzen dominiert ganze Bereiche des Wissens und der Künste. Dabei scheinen solche Vorstellungen mit den Forderungen nach möglichst 'handfesten' Formen oder Bedingungen von Totalität gleichursprünglich zu sein. Tentative oder gar hypothetische Formen des Ganzen sind entsprechend oft unter dem Zeichen eines imaginierten Verlusts von Totalität formuliert worden. Dies gilt zumal mit Blick auf die moderne Kunst und Ästhetik, die das Kunstwerk als einen Mikrokosmos vorstellte, dem sein eigener Makrokosmos indes längst (oder immer schon) abhandengekommen zu sein schien.
Mit Blick auf die neuere historiographische Entwicklung plädiert Marian Füssel für eine prozessuale Betrachtung des Ganzen. Nur dies erlaube die Aufsprengung des Gegensatzes zwischen einer Mikro- und einer Makroebene von Geschichte. Angesichts der Komplexität und der wechselseitigen Durchdringung historischen Geschehens - als Beispiele nennt Füssel Handel und Krieg - sei dieser Gegensatz nicht adäquat. Zu diesem Fazit gelangt Füssel, nachdem er prominente Ganzheitsvorstellungen unterschiedlicher Schulen der Geschichtsschreibung vom Historismus über die 'histoire totale' und die Sozial- bis hin zur Mikro- und Globalgeschichte vorgestellt hat. Historische Ganzheitsvorstellungen, die auf einer Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem beruhten oder die dem Prinzip der Repräsentation verpflichtet blieben, muteten heute genauso unbefriedigend an wie solche, die undifferenziert "Fragmentierung, Dezentrierung und Pluralisierung" feierten. Die Kritik an herkömmlichen Ganzheitsvorstellungen der Historiographie ist für Füssel demnach nicht Anlass, das Ganze zu verabschieden, sondern, es zu rekonzeptualisieren. Dass auch Füssel mit dem Fokus auf den 'Prozess' jenes Phänomen als Chance für das Ganze begreift, das vormals oft als dessen Bedrohung identifiziert wurde, zeigt das Ausmaß der Umbrüche, in denen die Formen des Ganzen sich derzeit in praktisch allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen offenbar befinden.
Die Ganzheit der Epoche
(2022)
Barbara Picht beschäftigt sich mit Ganzheitsvorstellungen, die dem Begriff der Epoche im modernen Geschichtsdenken zugrunde liegen. Ganzheit wie Einheitlichkeit betrachtet Picht dabei insofern als maßgeblich, als die Epoche einerseits über ausschließlich sie selbst charakterisierende Merkmale definiert werden solle, dabei andererseits aber auch solche Züge herauspräpariert werden müssten, die eine bestimmte Epoche mit anderen verbinde. Die Behauptung der Ganzheit einer Epoche sei in der Regel mit politischen Absichten verbunden. Zum Problem für die Integrität der Neuzeit als Epoche wird die für das moderne Geschichtsbewusstsein konstitutive Vorstellung einer 'offenen Zukunft'. Das schreibe dem Selbstverständnis der Neuzeit eine grundlegende Paradoxie ein. Die Neuzeit kenne zwar einen Anfang, könne aber in einer offenen Zukunft an kein Ende kommen und deshalb auch keine - ganze - Epoche sein. Diese Schwierigkeit erweist sich Picht zufolge jedoch als Glücksfall, denn die für das Ganze der Epoche prekäre Prozessualität habe eine "historiographisch produktive Dauerunruhe" ausgelöst.
Andrea Polaschegg untersucht aus medienpoetischer Sicht die Friktionen zwischen dem Text und den philosophischen oder literarischen Ganzheitspostulaten, die an dessen Stoffe, Gegenstände oder gar Gattungszuschreibungen herangetragen werden. Den Text begreift Polaschegg als "transitorisches Medium", "das vorne beginnt und hinten endet" und das jede Bemühung unterläuft, "eine organische Einheit wechselseitiger Teil-Ganzes-Beziehungen oder eine statische Einheit aus übereinandergeschichteten Teilen zur Darstellung zu bringen". Dieser Einsicht hätten sich mit letzter Konsequenz allerdings bislang weder poetologische noch literaturwissenschaftliche Denktraditionen gestellt. Seit der Autonomieästhetik lasse sich ganz im Gegenteil eine Fülle an Versuchen beobachten, die fundamentale 'Sukzessivität' von Texten metaphorisch über konzeptionelle 'Simultaneisierungen' stillzustellen. In diesem Umfeld nimmt Polaschegg insbesondere die oft als Ganzheitsgarant dienende Metaphorik der Architektur in den Blick, die sie bis in das bekannte, den 'Aufbau' dramatischer Texte visualisierende Pyramidenmodell Gustav Freytags hinein verfolgt.