Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
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In vielen literarischen Texten umkreist Goethe problematische Effekte von Bildern und Bildpraktiken. Bilder können dazu einladen, das bildlich Dargestellte für einen Teil der Wirklichkeit zu halten, sie können Gegenstand fragwürdiger Projektionen werden oder aber dazu beitragen, die Wirklichkeit selbst bildhaft erstarren zu lassen. Diese Gefahren im Umgang mit Bildern sind nicht zuletzt auf deren spezifische temporale Verfasstheit zurückzuführen, insbesondere wenn die physische Präsenz eines Bildes genutzt wird, um Vergangenes oder Abwesendes zu vergegenwärtigen. Der Beitrag entfaltet diese Problemlage an verschiedenen exemplarischen Texten Goethes. Am Beispiel des Aufsatzes "Ruysdael als Dichter" skizziert er eine alternative Form des Umgangs mit Bildern, die nicht allein auf deren Präsenzeffekt setzt, sondern eine dem Bild eigene Temporalität im Prozess des Sehens und Reflektierens zur Geltung bringt.
Vorwort
(2020)
Lange waren Formkonzepte dem Zug der Zeit entzogen, um dann am Ende des 18. Jahrhunderts, und prominent in Goethes Naturforschung, massiv unter ihren Einfluss zu geraten. Wenn Goethes Überlegungen zu Morphologie und Metamorphose Manifestationen der im späten 18. Jahrhundert auf breiter Front beobachtbaren Verzeitlichungsprozesse darstellen, drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis von Zeit und Form in der als Zeitkunst verstandenen Literatur des Autors wirksam wurde.
Academies and the defence of European national languages (mit einer selbstkritischen Vorbemerkung)
(2020)
Um das Problem der einzelnen Nationalsprachen geht es Jürgen Trabant in seinem Beitrag. Er plädiert für die Bewahrung der Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften und die Förderung der unterschiedlichen Nationalsprachen in der wissenschaftlichen Lehre und Forschung - hier vor allem an die Adresse der jeweiligen nationalen Akademien der Wissenschaften gerichtet. Trabant warnt vor den Verlusten, die man zwangsläufig in Kauf nimmt, wenn - zumal in den Kultur- und Geisteswissenschaften - nur noch eine wissenschaftliche lingua franca den Ton angibt und andere Sprachen aus dem Wissenschaftsdiskurs ausgegrenzt werden.
Den 'Darwin-Effekt' auf die Sprachwissenschaften, also den Evolutionismus der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts, thematisiert der Beitrag von Wolfert v. Rahden. Die Rezeption der Evolutionsbiologie war vielschichtig und widersprüchlich. Von nicht wenigen als Fortschritt begrüßt, der eine naturwissenschaftliche Legitimation auch der Sprachwissenschaft begründe und als produktiver interdisziplinärer Transfer bewertet, blieb der Rekurs auf Darwin häufig jedoch eine bloß modische Wissenschaftsattitüde, der zugleich - nicht nur von theologischer Seite - dezidierte Ablehnung provozierte. Auch innerhalb der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften regte sich bei einer Anzahl von Autoren entschiedener Widerstand dagegen, Darwin die Rolle eines "wissenschaftlichen Platzanweisers" für die eigene Disziplin einzuräumen. Max Müller etwa unterläuft den Evolutionsdiskurs auf ironische Weise. Wie von Rahden darstellt, finden sich in der 'multiplen Semantik' des Sprachursprungsbegriffs jener Zeit Allianzen zwischen Vertretern darwinistischer Evolutionsbiologie, der aufstrebenden Indogermanistik sowie Verfechtern der 'Einheit der Sprachnation', die in der Rekonstruktion der germanischen 'Ursprache' (Jacob Grimm) das Streben nach der politischen Einheit einer 'Nation deutscher Zunge' auch sprachwissenschaftlich flankierend unterstützen wollten. Die semantische Verschiebung vom Sprachursprungsbegriff zum Begriff der Ursprache als Forschungsgegenstand sollte die erhoffte neue wissenschaftliche Basis zur Beantwortung der alten Frage eröffnen; doch die Suche nach der 'Chimäre' der Ursprache (W. v. Humboldt) verharrte letzten Endes ebenso im Nebel der Spekulation wie zuvor die Suche nach dem Ursprung der Sprache. Gleichwohl generierte sie entscheidende Innovationsschübe für die historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften, weil sie die empirischen und philologischen Dokumentationen und Untersuchungen einer Vielzahl konkreter Einzelsprachen beförderte und vorantrieb.
Entropy
(2020)
Im Zentrum steht der Begriff der Entropie, den Christian Hoekema in seinem Beitrag untersucht. Seine Stichproben zur Freilegung der semantischen Schichten des Begriffs gehen von der Kontextualisierung der Thermodynamik in der britischen und deutschen industriellen Revolution aus. Wurde die Rezeption des Entropiebegriffs in Literatur und Philosophie bislang vor allem im viktorianischen Großbritannien untersucht, so richtet Hoekema seinen Blick auf den deutschsprachigen Kontext und damit auf drei der wirkungsvollsten Theoretiker der Moderne, auf Marx, Nietzsche und Freud. Ein weiteres Feld der Entropie-Aneignungen bilden die Informationstheorie und Kybernetik, die ebenso wie der Strukturalismus und die Systemtheorie den Prozess der Formalisierung der Sprache beschleunigt haben. Hoekema zeigt, wie tief stochastische Konzeptionen der Welt in unsere wissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Praktiken und Theorien eingebettet sind. Seine letzte 'Autopsie' schließlich thematisiert die in den 1970er Jahren entstehende Forderung nach einem "vierten" Hauptsatz der Thermodynamik. Er beleuchtet damit einen Ansatz, der die Biosphäre und das Leben in Kategorien der Entropie beschreibt und der bis in heute virulente Debatten um das Anthropozän reicht.
Anna Simon-Sickley zeigt in ihrem Beitrag die historischen Verflechtungen des Begriffs des 'Anthropozäns' mit den Diskursen von Energie und Entropie. Die Gefahren einer semantischen Rückprojektion reflektierend, kann sie deutlich machen, wie die heute 'totalisierende Metapher' des Anthropozäns bis in die Diskurse der Energie und Entropie zurückreicht. Energie erscheint dabei begrifflich als Einheitswährung, mittels deren Natur einzig als auszubeutende Ressource (fossile Brennstoffe) thematisiert wird. Mit der Thermodynamik legt die Umweltforschung den Schwerpunkt auf Effizienz, Produktion und Abfall. Das wachsende Bewusstsein, dass Energie Geschichte strukturiert, erweist sich als eine Perspektive, die für die Geschichtsschreibung des Anthropozäns von entscheidender Bedeutung geworden ist. Mit ihm soll sich das wissenschaftliche Thema des Menschen vom Kontext der Geisteswissenschaften zum Kontext der Wissenschaften verschoben haben. Menschliche Systeme und Kulturen werden im Anthropozändiskurs als geologische Kräfte verstanden und erscheinen als geochronologische Epochen naturwissenschaftlich exakt berechenbar.
Energy
(2020)
Der Beitrag zur Begriffsgeschichte von 'Energie' von Ernst Müller stellt neben der Ausstrahlung des Begriffs in verschiedene Wissenschaften vor allem heraus, wie sich dieses zentrale Konzept für die Physik eng verbunden mit dem - meist getrennt von ihm untersuchten - Begriff der (kapitalistischen) Arbeit herausbildet. Um 1900 erscheinen alle Bereiche des menschlichen und kulturellen Lebens auf ihre energetischen Grundlagen hin untersuchbar. Daran knüpfen fortschrittsorientierte Weltanschauungen ebenso an wie Ängste des 'fin de siècle' vor einer sterbenden Sonne und vor der Erschöpfung der menschlichen Arbeit.
Die fragmentierte und scheinbar kontingente Struktur von Goethes Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" folgt, so soll hier gezeigt werden, nicht zuletzt auch einem besonderen Zeitregime. Der Roman erprobt vor allem in seiner um Wilhelm und Lenardo gruppierten Handlung Formen des analeptischen Erzählens, das die Ereignisse nicht chronologisch-linear, sondern in wiederholten Rückgriffen und Zeitschleifen entwickelt. Dieses Erzählen 'von' und 'in' Vorgeschichten folgt einem Schema, das Goethe in den homerischen Epen vorgeprägt sieht, das aber auch mit Zeitreflexionen aus seinen geologischen Studien korrespondiert.
Mit der Verzeitlichung und Dynamisierung der Geschichte der Moderne geht die Proliferation von Epochenkonstruktionen einher, in denen das Verhältnis der Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft jeweils neu verhandelt wird. Unter dieser Perspektive rückt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Daniel Weidner (Universität Halle) den Begriff der Tradition ins Blickfeld. Ausgehend von einem Resümee von Arbeiten zu dessen Erforschung, die zeigen, wie höchst fragil und vieldeutig der Begriff der Tradition in der Moderne ist, plädiert Weidner für eine metaphorische Perspektive, die er am Beispiel einiger Autoren exemplarisch entwickelt. Dabei geht es um die unbegriffliche und figurale Funktion von 'Tradition', also darum, die Bedeutungs- und Diskursverschiebungen sichtbar zu machen, die sich im Wechsel der Parallel- und Leitbegriffe (statt Tradition zum Beispiel auch Geschichte, Gedächtnis, Kultur) und Hintergrundmetaphoriken (Kette, Strom, Ordnung, Wellenschlag) manifestieren. 'Tradition' erscheint als Kollektivsingular in Spannung zu den verschiedenen Traditionen (inklusive ihrer jeweiligen Praktiken der Überlieferung) sowie als Gegenbegriff zur Moderne, die sich zwar normativ als Überwindung der Traditionen begreift, dabei zugleich aber permanent Anstoß zur Bewahrung oder Neuerfindung von Traditionen gibt.
Falko Schmieders Beitrag zur Geschichte der Geschichtsmetaphorik versteht sich als Auseinandersetzung mit Koselleck. Obwohl in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" die Metaphorik nicht programmatisch berücksichtigt wurde, spielt sie eine wichtige Rolle. Koselleck hat allgemein die Metaphernpflichtigkeit von auf Zeit bezogenen Darstellungen herausgestellt und speziell an die verzeitlichten Kollektivsingulare die These der Bildbedürftigkeit und Bildanziehungskraft geschichtlicher Grundbegriffe geknüpft. Schmieder geht den metaphorischen Dimensionen bei Koselleck auf der Ebene seiner Untersuchungsgegenstände und der Interpretationssprache nach und diskutiert damit verbundene Widersprüche, zum Beispiel zwischen der von Koselleck der Geschichtsphilosophie zugeschriebenen Entdeckung der Machbarkeit von Geschichte und den sowohl zeitgenössisch wie auch bei Koselleck selbst auftauchenden Sprachbildern für ihre Verselbständigung und Unverfügbarkeit. Anhand von Metaphern für Geschichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wie dem 'Crashkurs' oder dem 'Realexperiment') werden die historischen Grenzen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" ausgelotet.
Der Beitrag von Ernst Müller wendet sich 'Kristallisation' und 'Verflüssigung' zu, zwei Metaphern zu, die ungeachtet ihrer Gegenläufigkeit in den soziologischen Theorien von Arnold Gehlen und Zygmunt Bauman zum Einsatz gelangt sind, um die These eines Endes der Geschichte zu entfalten. Eine problemgeschichtliche Betrachtung der Vorgeschichte beider Metaphern führt mit Marx auf einen Referenzpunkt, der zugleich geeignet ist, Inkonsistenzen und ideologische Dimensionen der späteren Theorien und der sie grundierenden Metaphern zu beleuchten. Auch die Diskussion um 'Kristallisation' und 'Verflüssigung' ist mit der Frage verbunden, ob es sich um Metaphern oder um Begriffe handelt.
Die Historikerin Barbara Picht beobachtet in ihrem Beitrag, dass sich in vielen Epochenbegriffen ein metaphorischer Kern mit normativen Werturteilen verbindet. Die Bezeichnungen von Epochen und wie sie zueinander stehen, ist Ergebnis kulturhistorischer Deutungskämpfe, die nicht nur neue (zukunftsbezogene) Epochenentwürfe generieren, sondern zugleich auch immer das Verständnis vergangener Epochen und ihre Chronologie verändern. Ein solcher Begriff von Epoche im Sinne eines Zeitraumes oder Zeitabschnitts bildet sich allerdings erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts heraus, also in der Zeit, die als 'Sattelzeit' selbst ein Beispiel für eine - fast auch schon zum Begriff geronnene - Neubildung metaphorischen Ursprung ist.
Editorial
(2021)
Fragen zur Metaphorologie bildeten bereits mehrfach einen Schwerpunkt dieser Zeitschrift. In den Beiträgen und Rezensionen der vorliegenden Ausgabe geht es mit 'Epoche', 'Tradition', 'Geschichte' sowie 'Kristallisation'/'Verflüssigung' um Begriffsmetaphern, also um solche, in denen begriffliche und metaphorische Gehalte untrennbar verbunden sind, und die zugleich konstituierend für allgemeinere geschichts- und zeittheoretische Fragestellungen sind. Den Anstoß für das Thema lieferte die internationale Tagung "Metafóricas espacio-temporales para la historia", die vom 9. bis 11. September 2019 unter der Leitung von Faustino Oncina Coves und Javier Fernández Sebastián an der Universität Bilbao stattgefunden hat und zu der Barbara Picht, Ernst Müller und Falko Schmieder Beiträge beisteuerten, die hier in überarbeiteter Form abgedruckt sind.
This article explores some of the moral meanings vested in the concept of historicization. With the help of a discussion of Jules Michelet's notions about the "duty of the historian" - to rescue the dead from oblivion - it becomes possible to flesh out these moral meanings and to insert them into a series of historical contexts. These contexts comprise the cultural history of humanitarian morality in the eighteenth and nineteenth centuries; and the intellectual and cultural histories of ideas of immortality, memory, forgetting, and the valorization of the human life. The resulting meaning of historicization is that of a humanitarianism for the dead, with all the ambiguities this position entails.
This article develops a novel reading of the threefold division of modes of historicization in Nietzsche's "Uses and Disadvantages of History for Life". It argues that Nietzsche's stance is closely matched, and indirectly responds, to specific features of the argument for progress in human history that Kant presents in "Conflict of the Faculties". Kant had hit upon interest, boredom, publicity, and forgetting as systematic problems for the philosophy of history, and Nietzsche's thought on history takes up these concerns. I argue that Nietzsche's reaction to these Kantian problems prompted him to subtly dissociate historicization and historicity. This manoeuver allowed him to counter the conceptual challenges Kant had established and to align his notions on history with those on ethical normativity in lived life, embracing what he elsewhere rejected as a “"moral ontology."
Sowohl Etymologie als auch Metaphorik des Transparenzbegriffs kreisen um die Verbindungen von Licht zur Erkenntnis und wiederum zur Moral, die an den Transparenzbegriff weitergegeben wurden, was den Fokus auf den übertragenen Gebrauch von Transparenz lenkt. 'Transparenz' verweist folglich auf mehr als eine bloße Zustandsbeschreibung, denn sie stellt einen Begriff dar, der aus historischen, sozialen sowie technologischen Gründen wirkmächtig wurde und sich auf eine zunehmende Zahl von Gesellschaftsbereichen bezieht. Die medialen Veränderungen, die sich durch Digitalisierung und ständige Vernetzung ergeben, stoßen somit ein tieferes und allgemeines Nachdenken über das Verhältnis von Öffentlichkeit, Transparenz und Demokratie an. Gerade im digitalen 21. Jahrhundert werden Begriff und Konzept, die auf ideengeschichtliche Wurzeln in der Aufklärung zurückgreifen und die beiden Bedeutungshemisphären von Staat und Individuum nachzeichnen besonders wichtig. [...] 'Transparenz' wohnt eine deutlich deskriptive sowie eine normativ-metaphorische Ebene inne, die in der Originalität des Begriffs in der Optik und im optischen Bereich wurzeln, wie besonders im Bereich der Architektur manifest wird. Transparenz vereinfacht die Herstellung der für die Demokratie notwendigen Öffentlichkeit, stellt dabei allerdings eine Art vorgelagerten Zustand beziehungsweise eine grundlegende Eigenschaft dar, welche Öffentlichkeit erst ermöglicht. Als normativ und metaphorisch anschlussfähige Ideologie bezieht sich Transparenz jedoch auch auf das Individuum. Die Transparenz des Individuums, die sich im digitalen Bereich besonders deutlich am digital gläsernen Menschen zeigt, stellt nicht nur eine Gefahr für die individuelle Privatsphäre dar, sondern macht den Einzelnen überwachbar und erhält so eine politische Dimension. Insgesamt prägt Transparenz daher als gesellschaftliche Ideologie moderne Lebenswelten.
Editorial
(2022)
Die vorliegende Ausgabe des FIB präsentiert in zwei Beiträgen die Geschichte von Begriffen, die in besonderer Weise der Idee des E-journals entsprechen. Denn ihre Bedeutung lässt sich nur Disziplinen überschreitend rekonstruieren. Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Rettig untersucht den Begriff der Statik, Lea Watzinger den der Transparenz. Beide Arbeiten geben Einblick in begriffsgeschichtliche Thesen ihrer jüngst abgeschlossenen Qualifikationsschriften. [...] Clemens Knobloch zeigt in seinem Rezensionsessay zu dem von David Ranan herausgegebenen Glossar "Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe", dass sich hinter dem Titel höchst anregende, gerade die widersprüchliche Pragmatik von politischen Gegenwartsbegriffen herausarbeitende Begriffsgeschichten auffinden lassen.
Statik
(2022)
Bei der Statik handelt es sich um einen vielschichtigen Begriff, der zumeist ausgeblendet wird und dem sich Kunst-, aber auch Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen bislang nur selten explizit widmeten. Im Folgenden wird es um die weitere Aufschlüsselung dieses Begriffs gehen, wobei die Kunst der Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zentrum steht. Im abschließenden Teil wird der Blick dann auf weitere, für die Klärung des Begriffs relevante Bereiche gerichtet. Die Bemerkungen können nur ausschnitthaft darstellen, dass Moderne und Postmoderne stärker von der Statik geprägt sind, als man gemeinhin annimmt. Sie konterkariert die gängigen Erzählungen von Beschleunigung und hemmungsloser, ungezügelter Bewegung als einem Kennzeichen der Moderne. Dabei tritt sie nicht in Distanz zur Dynamik - vielmehr kann sie nur in Anbindung an diverse Prozesse gefasst werden.
Editorial
(2023)
Das Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte hat in seiner zwölfjährigen Geschichte immer wieder Begriffe an der Schnittstelle von Biologie sowie Gesellschaft und Kultur, insbesondere aber solche des ökologischen Diskurses thematisiert. [...] Das vorliegende, von der Slawistin Tatjana Petzer (Universität Graz) als Gastherausgeberin gestaltete Schwerpunktthema "Ecology in Eastern European Terminology" lässt sich als Fortsetzung dieser Thematiken verstehen. Die Beiträge verdeutlichen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler osteuropäischer Länder und der Sowjetunion, die oftmals zunächst im engen Kontakt mit westeuropäischen Wissenschaftsentwicklungen standen, aufgrund der späteren, vor allem im Kalten Krieg forcierten Abkoppelung eigenständige Terminologien und Konzepte entwickelten, deren Zusammenhang mit westlichen Ideen dadurch verdeckt waren, und doch mitunter auch wieder auf sie zurückwirkten. Viele der behandelten interdisziplinären Begriffe (Biogeochemie, Biogeozönose, Metabolismus, Regulation oder Geocryologie) thematisieren den heute so intensiv diskutierten Zusammenhang zwischen Ökologie und Geologie.
The Soviet Union is remembered as a lab for socioeconomic changes on larges scales and environmental catastrophes: the Chernobyl disaster, the Aral Sea tragedy, and ecocide. However, little is known about the groundbreaking concepts and theories of Russian and early Soviet science which laid the foundation for systemic ecological thinking, environmental consciousness for nature conservation, and corresponding initiatives of the revolutionary years after 1917. The isolation of Eastern Europe that came as a result of Stalinism and the Cold War led to Soviet science developing its own scientific approaches and terminology during the 20th century. This does not only include ideological constructions and practices such as the pseudo-scientific Lysenkoism which outlawed genetics and led to disastrous effects on agriculture, the people, and the scientific community. Soviet science has also managed to continue and unfold the new concepts and interdisciplinary dynamics of the ecological turn on the threshold of the 20th century, a development which, at that time, was only sporadically noted in the West. In the context of its thematic focus on Eastern European ecological terminology, this issue discusses a selection of these concepts.
Vladimir Vernadsky's concept of living matter is central to his biogeochemistry, the science he founded. For several reasons, his original understanding of living matter is one of the most complex notions in the history of the life sciences. First, biogeochemistry is by definition an interdisciplinary enterprise that embraces biology, including evolutionary theory, geology, and chemistry, and combines them into a unique research program. Second, if understood in the original sense as used by Vernadsky, living matter is a concept built into idiosyncratic metaphysics constructed around the so-called principle of life's eternity. Third, the concept of living matter reflects the specificity of Vernadsky's sophisticated philosophy of science as he insisted that 'scientific thought' is a planetary phenomenon as well as a geological force. In our contribution, we will introduce Vernadsky's concept of living matter in its historical context. Accordingly, we will also give some chronology of Vernadsky's work related to the growth of his biosphere concept highlighting the 'Ukrainian' period as it is in this period that he intensively elaborated on the notion of living matter. This will be followed by his theory of living matter as it was formulated in his major works of the later period. We are going to locate the notion of living matter within Vernadsky's theoretical system and demonstrate that he regarded his theory of the living as an evolutionary theory complementary to that of Charles Darwin from the very beginning. Additionally, we will briefly present Vladimir Beklemishev's concept of 'geomerida' which he developed at approximately the same time as Vernadsky was elaborating on his 'living matter' to highlight the specificity of the latter's methodology.
In search for an ecological concept defining a "whole complex of organisms inhabiting a given region" with more methodological value than 'complex organism' or 'biome' and 'biotic community', the British phytocenologist Arthur Tansley introduced the term 'ecosystem' in 1935. [...] Independently of each other, other scientists from different countries also recognized the interconnectedness of all phenomena on the Earth's surface, resulting in the parallel coining of various notions. The Russian Botanist Vladmir Sukachev (1880–1967) introduced the term 'biogeotsenoz' ('biogeocoenosis' or 'biogeocoenose'), which was broadly used in the Soviet Union and throughout Eastern Europe. It was introduced into Russian in two stages: Following the forestologist Georgii Morozov (1867–1920), who systematically implemented Karl Möbius's term 'biocoenosis', Sukachev first suggested the term 'geotsenoz' ('geocoenosis') in 1942. It was meant to link the earth's surface with its inhabitants and abiotic environmental factors in a dynamic unit. However, in 1944, he changed geocoenosis into biogeocoenosis (BGC), implementing an integral connection with Vladimir Vernadsky's (1863–1945) concepts of the biosphere and the biogeochemical cycles. According to Sukachev, BGC came close to Tansley's notion of the ecosystem which also brings together a biocoenosis with its habitat (the ecotope). However, both terms were not used synonymously: as a more general term, ecosystem was not precise enough to classify the unit of nature itself, whereas the BGC, in accordance with Vernadsky's concept of 'living matter', did not include all abiogenic abiotic factors of the ecosystem. Also, the notions of 'facies' and 'landshaft', which were used by physical geographers, were discussed as similar conceptualization.
Metabolism has long served as a broad organizing concept in Russian and Soviet culture for the exchange of material and energy between organisms and their environment. The Russian term 'obmen veshchestv', literally meaning "exchange of substances", semantically ranges beyond the Latinate 'metabolizm' (metabolism) and provides a framework for reflecting on bodies and material objects as open systems engaged in a constant process of transformation. 'Obmen veshchestv' appears in public discourse in mid-19th century Russia as a calque from the German term 'Stoffwechsel' (or 'Wechsel der Materie'). Its usage in Russia reflects the enduring influence of German science. In this entry, I will explore the development and expansion of this concept of material and energy exchange between organisms and their environment in Russia and the Soviet Union. In the course of a century, metabolism migrated from discussions of plant nutrition into physiology, thermodynamics, and ultimately into the Soviet practice of state economic planning. This entry will therefore pay particular attention to the early Soviet period when existing debates on metabolism took on new urgency as tools for praxis on every scale, from the body of the individual worker to humanity's future collective management of planetary material and energy flows.
This article follows the conceptual history of regulation in the Russian and Soviet context from the late 19th to mid-20th century and emphasizes its ecological dimension. Considering that regulation is a fundamentally interdisciplinary concept applied in biology, economics, law, or political science, such a history cannot strictly limit itself to the conceptual use of regulation in ecological theory. Here, ecology is rather generally understood as a scientific knowledge of nature that is being formed in various sciences throughout the 19th and 20th century by reintegrating knowledge generated in such different disciplines as natural history, biology, medicine, physics, or physiology. This paper exemplarily traces the constitutional process of ecology as a science with regard to the concept of regulation by acknowledging the transdisciplinary and sometimes metaphorical use of the concept and its oscillation between the organic and the social, the natural and the artificial, the mechanic and the dynamic, the intrinsic and the extrinsic.
The essay will focus on three of the "many faces of irreversibility", sketching a history of irreversibility in 20th-century Russian thought: The abstract irreversibility of time in physics, the 'embodied' irreversibility of biological evolution and, finally, the irreversibility of cultural processes. The first part will trace the history of irreversibility in 19th-century physics and biology. The second part will discuss Vladimir Vernadsky's theory of biological time as an attempt to synthesize physical and biological irreversible processes ('neobratimye protsessy') as phenomena of asymmetry in space-time. The third part will look at the migration of scientific ideas of irreversibility into the theory of culture, i.e., Juri Lotman's semiotic theory of irreversibility as unpredictable and unrepeatable processes of culture. In this three-step sketch, the history of irreversibility will be outlined as one of spatialization (from an abstract law to the image of 'time's arrow') and of specialization (from the law of entropy to the case of the generation of meaning).
Märzgefallene : Anmerkungen zum publizistischen Gebrauch einer politischen Bezeichnung 1848–1898
(2023)
Das Wort 'Märzgefallene' ist eine Bezeichnung, die in der wissenschaftlichen wie populären Literatur vor allem über die Geschichte der Berliner Märzrevolution von 1848 auftaucht. Die vorliegende Analyse untersucht die Verwendung der Bezeichnung in der Tagespresse in den 50 Jahren nach der Revolution von 1848/49 bis zum 50. Jubiläum im Jahr 1898. [...] Die Analyse erfolgt in temporaler, quantitativer und qualitativer Hinsicht. Untersucht werden das erste Auftreten, die Häufigkeiten im Wandel der Jahrzehnte, Synonyme des Wortes sowie seine metaphorische Verwendung. Dadurch werden implizit auch eine Geschichte der Rezeption der Revolution von 1848/49 skizziert und die unterschiedlichen semantischen Varianten uneigentlichen Sprechens der Bezeichnung 'Märzgefallene' aufgezeigt.
This article compares Chika Unigwe's novel "On Black Sisters' Street" and Sudabeh Mortezai's film "Joy", both about Nigerian women trafficked for sex work to Belgium and Austria respectively. They share a genre genealogy with slave narratives but are primarily concerned with European (neo-)colonialism. Drawing on postcolonial and intersectional theory as well as imagology, this article analyses the Black female re-imagination and strategic exoticisation of Europe in the two narratives.
The introduction informs about Black literary imaginations of Europe that reverse or complicate the (neo-)colonialist European gaze at the "African Other". It reviews the state of research and provides an overview of the aims and sources of the special issue, whose individual contributions take into account both national specificities and transnational contexts. Sandra Folie and Gianna Zocco emphasise the important role of comparative literature for the field of African European studies (and vice-versa).
Mutoni im Un/Happyland : die Bürde weißer Retter*innen in Tete Loepers Roman "Barfuß in Deutschland"
(2023)
In Tete Loeper's novel "Barefoot in Germany" (2020), Black first-person narrator Mutoni from Rwanda recounts her experiences as a marriage migrant, sex worker, maid, and caregiver in Germany, a supposed "Happyland" where racism is considered the offense of "others": bad individuals and Nazis. However, Loeper's white savior characters are both nice people and (unwitting) racists, while some of Mutoni's Black sisters behave in discriminatory ways as well. Drawing on critical race theory and imagology, this article shows how the novel deconstructs and appropriates stereotypical images from "'colorblind' Europe" on both a thematic and formal-aesthetic level. By engaging with a comparative and transnational frame of reference that goes beyond a monolingual white canon of theory and literature, the article reveals the novel's connections to other Black texts and genres, as well as its literary strategies in dealing with identity (politics).
This article studies two African American examples of provincialising Europe "from the inside", James Baldwin's essay "Stranger in the Village" and Vincent O. Carter's "The Bern Book", both set in 1950's Switzerland. It investigates how these texts reverse the ethnographic gaze at the "other" and use the rural Swiss scenario to imagine Europe as historically backward. While the authors differ in their intentions, both acts of provincialisation leave the superiority of European high culture intact.
This contribution gathers eight interviews with international scholars of different generations and disciplines who study Black European literatures: Elisabeth Bekers, Jeannot Moukouri Ekobe, Polo B. Moji, Deborah Nyangulu, Jeannette Oholi, Anne Potjans, Nadjib Sadikou, and Dominic Thomas. The aim is to make literary research on Black Europe more visible to scholars in comparative literature and to contribute to a discussion on research perspectives, theories, and future challenges and needs.
Der Artikel bietet eine Analyse von John A. Williams' Roman "Clifford's Blues" (1999), der in der Form eines fiktiven, von einem afroamerikanischen Jazz-Musiker geschriebenen Tagebuchs von der Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau erzählt. Der Roman lässt sich nicht nur als mit den Mitteln der Fiktion arbeitender Beitrag zur Geschichte der Verfolgung Schwarzer Menschen im Nationalsozialismus verstehen, sondern auch als selbst transatlantisches, vermeintlich historisches Zeitzeugnis, das aus einer ungewöhnlichen Perspektive die Thematik eines unsteten Archivs verflochtener Gewalt- und Exilerfahrungen beleuchtet. Das Augenmerk der Analyse liegt einerseits auf den Chancen eines solchen Archivs: Der Roman zeigt Möglichkeiten diasporischer Gemeinschaftsbildung und beschreibt die transatlantische Perspektive des Protagonisten als Ressource für das Erkennen von Kontinuitäten der Unterdrückung wie auch für das Ableiten von alltäglichen Widerstandsstrategien. Andererseits werden ausgehend vom Kunstgriff der Herausgeberfiktion und von Dokumenten aus dem Nachlass Risiken und Widersprüche des hier entworfenen Archivs diskutiert. Es wird gezeigt, dass dieses zwar auf Transnationalität zielt, jedoch teilweise der Rückbindung an ein lokales Moment bedarf.