Studien der Paderborner Komparatistik
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Die dystopische Jugendliteratur hat sich in den letzten Jahren zu einem politischen, kulturellen und ästhetischen Genrephänomen entwickelt. [...] Die anhaltende Bedeutung der dystopischen Literatur in der Populärkultur zeigt bereits auf, dass sich auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mit diesem Genrephänomen auseinandergesetzt werden sollte. Im aktuellen Forschungsdiskurs der Literaturwissenschaften wird der Aktualität und Relevanz dieses Phänomens bereits begegnet, indem sowohl das Genre als auch einzelne Werke auf verschiedene Aspekte hin untersucht werden. Die Forschungsschwerpunkte liegen hierbei jedoch vordergründig in der Untersuchung von psychologischen und soziologischen Aspekten der Protagonist*innen im Hinblick auf Fragen der Ökokritik, der Gender Studies oder der Kulturwissenschaften. Jedoch fehlen im gegenwärtigen Diskurs fast gänzlich Fragen nach einer eventuell vorherrschenden Biopolitik im Genre oder aber in konkreten Werken, obwohl diese in zahlreichen der fiktiven Weltbilder eindeutig gegeben ist. Dieser Beitrag erweitert den bereits bestehenden Diskurs um die Fragestellung, welche Formen einer dystopischen Biopolitik im zeitgenössischen Jugendroman am Beispiel der Reihe "Divergent" zu finden sind und wie diese literaturwissenschaftlich analysiert werden können. Da eine vollständige Analyse der drei Romane und all ihrer relevanten Aspekte zur Biopolitik den Rahmen dieses Beitrags überschreiten würde, werden einige Analyse-Schwerpunkte gebildet. Diese bestehen sowohl aus der Untersuchung des Wirklichkeitsmodells der Romane und der Thematik Biopolitik als auch aus der literarischen Darstellung. Durch die Untersuchung dieser Aspekte wird deutlich, inwiefern literarische Werke, auch dystopische Romanreihen, als Aushandlungs- und Reflexionsraum für aktuelle biopolitische Fragestellungen fungieren können. Zunächst werden die vier elementaren biopolitischen Inhalte der Romane herausgearbeitet und in Bezug zu den Ausführungen Foucaults gesetzt: Gesellschaftssystem der verschiedenen Fraktionen, neue technische Möglichkeiten der fremdgesteuerten Bewusstseinskontrolle, das Leben als und in einem Experiment und die Differenzierung von genetisch perfekten und genetisch defekten Menschen. Anschließend wird ein Blick auf die literarische Umsetzung in Form der Raum-/ Zeitstruktur und der Charakterkonstellation geworfen. Diese beiden Aspekte unterstützen das bewusste Einfühlen der Leser*innenschaft in die Romansituation und ermöglichen auf diese Weise sowohl eine Auseinandersetzung mit der Biopolitik aus ethischer Sicht als auch eine Vergegenwärtigung der Parallelen zur Alltagswelt der Leser*innenschaft. Abschließend werden ein Fazit und ein kurzer Ausblick formuliert.
Die labyrinthische Organisation des Erzählraums, die bisweilen dem Prinzip der Assoziation durch Josef K. zu folgen scheint, korrespondiert historisch mit der desorientierten Wirklichkeitserfahrung der Moderne - einem "Gefühl der 'Ohnmacht' und der 'Entfremdung' des 'modernen Menschen'". Nicht ohne Grund wird "Der Proceß" so in der verbreiteten sozialgeschichtlichen (und vor allem sozialkritischen) Lesart zur literarischen "Gestaltung der verwalteten Welt, der vielfältigen Einengungen und Bedrohungen, die das Individuum heute durch anonyme Mächte erfährt, zur Anklage des Kapitalismus, zur prophetischen Vorwegnahme der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts oder, aktueller und à la Foucault, zur Verbildlichung der das Begehren unterdrückenden 'Macht'". Der vorliegende Beitrag unternimmt den Versuch, diese sozialgeschichtliche Lesart unter Hinzunahme des in der Kafka-Forschung bislang nur randläufig berücksichtigten Paradigmas der 'Biopolitik' bzw. 'Biomacht', wie es insbesondere von Michel Foucault analysiert wurde, noch einmal produktiv zu erweitern. [...] Franz Kafkas literarisches Werk befasst sich zweifellos immer wieder mit modernen Machtverhältnissen und Normierungsprozessen sowie auch mit den Individuen, die vor der (scheinbaren) Wahl stehen, sich zu assimilieren oder von eben jenen verschüttet zu werden. Dieser Beitrag wird erstens zu zeigen versuchen, wie das Gericht in Der Proceß durch seine Raumordnung als Metapher für eine breitere Machtökonomie der diegetischen Gesellschaftsordnung lesbar wird. Zweitens wird er der Frage nachgehen, inwieweit die Kategorie des Angeklagten als Schnittpunkt gelesen werden kann, der zwar intradiegetisch einen eigenen institutionellen und epistemologischen Stellenwert hat, auf der Metaebene allerdings der Logik des modernen Zusammenspiels bio- und disziplinarpolitischer Interventionen und Prozesse nachspürt.
Nach dem Anthropologen Kaushik Sunder Rajan bedeutet der Biokapitalismus die Überdeterminierung der Wirtschaft bei biopolitischen Entscheidungen. Die Überdeterminierung heißt in diesem Fall eine starke wirtschaftlich-politische Beeinflussung der Richtung wissenschaftlicher Forderung und Entwicklung. Ein extremes Beispiel für solch ein System ist in der Dystopie "Brave New World" (1932) vorzufinden, mit der sich dieser Aufsatz beschäftigt. Zuerst werden die Begriffe der Biopolitik nach Michel Foucault und des Biokapitalismus nach Kaushik Sunder Rajan definiert. Darauf aufbauend untersucht die Arbeit den Biokapitalismus innerhalb der Gesellschaft von Aldous Huxleys Roman. Dafür wird zunächst der Autor, sein zeitlicher Kontext und der Aufbau der dystopischen Gesellschaft thematisiert. Im Hauptteil befasst sich der Aufsatz mit folgender Fragestellung: Wie zeigt sich der Biokapitalismus in Huxleys "Brave New World"? Dabei sind die Ziele des Aufsatzes die Beantwortung der Fragestellung und die Herauskristallisierung der Gefahren dieser dystopischen Gesellschaft für unsere Gegenwart. Diese werden zum Schluss im Fazit zusammengefasst erläutert.
Biopolitik und Biomacht in der Jugendliteratur. Thanatopolitik in Lois Lowrys "Hüter der Erinnerung"
(2023)
Was verstehen wir unter "Freigabe"? Das Freigeben, das Freigegebenwerden. Synonyme: Entlassung, Freilassung. [...] In Lois Lowrys 1993 erschienenem Roman "Hüter der Erinnerung" - im Original "The Giver" - ist die Tragweite dieses Terminus enorm: "Freigegeben zu werden ist für einen aktiven Bürger eine endgültige Sache, eine schreckliche Strafe, ein niederschmetternder Beweis menschlichen Versagens." Während es im Original "release" heißt, enthält die deutsche Übersetzung durch "frei" im Begriff im Kontext des Verfahrens eine Mehrdeutigkeit, die am Ende erörtert wird. Es soll im Folgenden sowohl mit dem Original als auch mit der Übersetzung textnah gearbeitet werden. [...] Es wird deutlich, dass mit dem Begriff des Freigebens eine ganz neue Denotation einhergeht, sodass "Freigeben" letztlich nichts anderes als ein Euphemismus ist, der die eigentliche Bedeutung, die Konsequenz des Vollzugs für die Sprecher*innen verschleiert. Ein ausgeprägtes Sprachregime und eine Vernichtungspolitik treten hier eng verflochten auf. Das Bezeichnen von Dingen, Handlungen und Ritualen ist dabei eine Voraussetzung für die Umsetzung des totalitären Regimes, wie im Folgenden unter anderem deutlich werden soll. Zusätzlich soll beispielhaft betrachtet werden, welche stilistischen Mittel für die Darstellung eines extremen biopolitischen Gesellschaftsmodells in einem Jugendroman für ein Lesepublikum ab dem jungen Alter von zwölf Jahren vorliegen. Dabei soll die Frage beantwortet werden, wie in "Hüter der Erinnerung" ein totalitäres System etabliert und welche Wirkung auf die Leser*innenschaft erzeugt wird. Lässt sich vielleicht eine gewisse schonende Vermittlung gegenüber der jungen Zielgruppe bezüglich des ernsten, 'belastenden' Themas feststellen?
Bereits mit dem Titel dieses Bandes wird in Aussicht gestellt, darin "Biopolitik(en) in Literatur, Film und Serie" zu thematisieren. Mit der Überschrift dieses Beitrags wird hierzu analog angekündigt, die "Modi der Aushandlung menschlichen Lebens in (Gegenwarts-)Literatur, Film und Serie" zu untersuchen. Was jedoch meint 'in' im gegebenen Kontext? Worin besteht die Konnexion zwischen biopolitischer Thematik und künstlerischem Medium, die über die Präposition zum Ausdruck gebracht wird? Zunächst kann ein Auftreten biopolitischer Themen in Erzähltexten auf Ebene der 'histoire' festgestellt werden, insofern Biopolitik in ihren diversen Spielarten die Settings und Plots literarischer wie filmischer erzählender Texte ausgestaltet. [...] Weitergehend kann eine Wirksamkeit biopolitischer Fragestellungen in Erzähltexten auf Ebene des 'discours' konstatiert werden, sobald Biopolitik zum Reflexionsanlass eines erzählenden Textes wird. Über Szenario und Handlung hinausgehend, eröffnen semantische, narratologische oder metafiktionale Auseinandersetzungen mit biopolitischen Fragen neue Aushandlungs- und Reflexionsräume, in denen Biopolitik perspektiviert und problematisiert wird und mit denen eine kritische Revision durch die Rezipierenden initiiert wird. In dieser Variante biopolitischer Thematik in erzählenden Texten wird somit Biopolitik nicht nur zur Darstellung gebracht, sondern zur Disposition gestellt. In dieser Weise kann ein Erzähltext selbst als Beitrag zum biopolitischen Diskurs fungieren und als solcher Lebenswissen generieren. Auf diesen Prämissen aufbauend werden im Folgenden zunächst der Begriff der Biopoethik und die Besonderheiten biopoethischer Modi skizziert, bevor eine ausführlichere Betrachtung vier solcher Modi an konkreten Erzähltextbeispielen erfolgt. Als komplementäre Ergänzung zur Produktivität biopolitischer Diskurse, wie sie im voranstehenden Beitrag erarbeitet wird, soll so die Produktivität narrativer Biopolitik(en) verdeutlicht werden.
Wie fragil der scheinbare Differenzmarker der Emotionalität zwischen Mensch und Maschine ist, führt insbesondere das Genre des Science-Fiction-Films vor, das als ein Experimentierraum fungiert, in dem die biopolitischen Diskurse durch ästhetische bzw. poetische Konter-Diskurse aufgebrochen und hinterfragt werden. Diese Konterdiskursivität führt der Science-Fiction-Film "Ex Machina" (2015) eindrücklich vor, indem dieser anhand der als weiblich gegenderten und künstlich konstruierten AI und Protagonistin Ava (Alicia Vikander), auf der Ebene der Handlung die Frage verhandelt, ob die Grenze zwischen Mensch und Android teilweise aufgehoben werden kann, und damit verbunden die Frage, ob der vermeintliche Differenzmarker der Emotionalität nicht von Androiden produktiv gewendet werden könne, insofern er programmatisch in die entsprechenden Algorithmen eingebaut wird. Diese leitenden Überlegungen führen zur These des vorliegenden Beitrages: Die Protagonistin Ava bedient sich gegenüber den männlichen Figuren des Films der Strategie der Täuschung, indem Ava ihre künstlich angeeignete Emotionalität nutzt, um aus der Forschungsstation zu fliehen. Emotionalität kann entsprechend nicht (mehr) als eine Essenz des Menschen bzw. des Menschseins gelesen werden, sondern muss als ein elementares Konstrukt verstanden werden, das von der Maschine gegenüber den Menschen genutzt wird oder zumindest genutzt werden kann, um diese zu überlisten. Die vermeintliche moralische Überlegenheit des Menschen entpuppt sich folglich als ein grundlegender, menschlicher Denkfehler. Überlegen ist der Mensch gegenüber der Maschine nicht durch seine Emotionalität, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Weil der Mensch emotional ist, gelingt es der Maschine, ihn zu täuschen und sich somit als dem Menschen überlegen zu etablieren. Dergestalt führt "Ex Machina" explizit eine doppelte Grenzüberschreitung vor, indem der Film zum einen darauf aufbaut, dass Androiden scheinbar emotional handeln, da Avas Verhalten einen hoch rationalen Akt darstellt, der die künstlich erschaffene Frau gegenüber den Männern, Nathan (Oscar Isaac) und Caleb (Domhnall Gleeson), die sie beständig konstruieren, optimieren und testen, letztlich als überlegen präsentiert. Zum anderen führt "Ex Machina" anhand der Maschine Ava auf der Ebene des Gendering eindrücklich vor Augen, dass auch die männliche Überlegenheit und die damit einhergehende Geschlechterhierarchie ein reines Konstrukt ist. Der Homosozialität der beiden männlichen Figuren des Films steht die weiblich gegenderte Maschinenfrau Ava konträr gegenüber, auch wenn sie zunächst in diese integriert zu sein scheint, so dass die Frage nach der Repräsentation von Geschlecht und die nach den Verhandlungen zwischen den Geschlechtern nachdrücklich gestellt wird. Die damit aufgerufene Engführung von Männlichkeit und Überlegenheit sowie Weiblichkeit und Emotionalität wird im Verlauf des Films dezidiert aufgebrochen, sodass die Frage nach der Transgression gleich auf zweifache Weise gestellt wird, wenn man den Blick auf Ava richtet: 1. Inwiefern wird das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, in Bezug auf 'bios', an der weiblichen Androide Ava verhandelt? 2. Inwiefern erlaubt es Ava, Geschlechterverhältnisse neu zu denken, respektive das Verhältnis der Geschlechter, wie es im Film vorgeführt wird, einer neuen Betrachtung zu unterziehen? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich in einem ersten Schritt die Differenz zwischen Mensch und Maschine, wie sie in "Ex Machina" inszeniert wird, in den Fokus der Betrachtungen stellen, um danach zu fragen, inwiefern das Verhältnis zwischen den 'menschlichen Männern' und der 'künstlichen Androide' das Konzept des 'bios' verhandelt. In einem anschließenden zweiten Schritt werde ich mich auf das Verhältnis zwischen den männlichen Figuren Caleb und Nathan sowie deren Beziehung zu Ava konzentrieren, um herauszuarbeiten, welche Geschlechterpolitik(en) in "Ex Machina" inszeniert wird, respektive werden.
Stefan Zweig entwickelt in "Castellio gegen Calvin" (1936) die These, dass Machtformen, die Lebensprozesse mit Zwang regulieren und elementare Bedürfnisse dauerhaft unterdrücken, Widerstände hervorrufen, die letztlich die Emanzipation und Entfaltung des Unterdrückten forcieren. Am Beispiel des Liberalismus ursprünglich autoritär geprägter calvinistischer Gesellschaften veranschaulicht der 1934 nach London emigrierte Autor die Dialektik von Unterdrückung und deren Überwindung. Er thematisiert ein Verhältnis von Leben und Politik, das Michel Foucault mit dem Begriff der "Bio-Politik" bezeichnet. Dieser Begriff, der vor allem in jüngerer Vergangenheit vermehrt Aufmerksamkeit erfährt, beschreibt eine spezielle Form politischer Herrschaft, die sich durch "verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und Kontrolle der Bevölkerungen" kennzeichnet. Die Anwendung dieser 'biopolitischen' Disziplinierungstechniken bringt nach Foucault einen speziellen Machttyp, die "Bio-Macht", hervor, die sich zu einem Prinzip aller modernen Staaten entwickelt und somit nicht nur auf Extremfälle zu beschränken ist. [...] In diesem Beitrag soll untersucht werden, inwiefern Stefan Zweig in "Castellio gegen Calvin" anhand der Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats biopolitische Herrschaft thematisiert. Ausgehend von einigen Überlegungen zu dessen Komposition und der Schwierigkeit einer eindeutigen gattungstheoretischen Zuordnung wird Zweigs Darstellung von Calvins Herrschaft hinsichtlich der politischen Unterwerfung und Kontrolle des Lebens analysiert. Die Untersuchung schließt mit Blick auf den parabolischen Charakter des Textes, der eine Erklärung dafür bietet, warum Zweigs Darstellung des Calvin'schen Gottesstaats aus dem 16. Jahrhundert Charakteristika eines Machttyps aufweist, der sich nach Foucault erst Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt.
Die Biopolitik ist in den letzten Jahrzehnten zu einem grundlegenden Studienbereich für das Verständnis unserer politischen Modernität und zu einem wertvollen Instrument für die Analyse von literarischen Texten geworden. In der aktuellen Literatur zu Günter Grass' Roman "Die Blechtrommel" (1959) findet man jedoch keine ausführliche Studie, die eine biopolitische Perspektive als hermeneutische Annäherungsmethode einnimmt. Eine Analyse von "Die Blechtrommel" vor dem theoretischen Rahmen der Biopolitik ist aber für eine umfassende Lektüre des Textes notwendig, wie im Folgenden belegt wird. [...] Um sich der nationalsozialistischen Biopolitik zu widersetzen und bürgerliche Rationalitätsparadigmen zu untergraben, lässt Grass verschiedene Facetten der Populärkultur (insbesondere Volks- und Kunstmärchen), die der Nationalsozialismus entweder unterdrückte oder für seine Ideologie manipulierte, wieder aufleben. Strukturell und inhaltlich verbindet Grass' Roman die Verfolgung 'entarteter' Kunst mit der Verfolgung und Ausrottung 'entarteter' Menschen, für die der verfolgte Zwerg Oskar zur zentralen Metapher und Stimme wird. Der groteske Körper Oskars bildet in seinem Überleben und subversiven Praktiken gegen die diktatorische Autorität einen alternativen Diskurs gegen NS-Körperideale, die vor allem von Rezeptionen der klassischen Kunst beeinflusst waren. Durch eine Reihe intertextueller Bezüge zur Märchen-Tradition und seine Ästhetik des Grotesken erschafft der Roman eine irrationale Gegenkultur, die sich dem zerstörenden Rationalismus der Nazi-Biopolitik und der Kontinuität dieses Eugenik Gedankens im Nachkriegsdeutschland entgegenstellt, wobei gleichzeitig die Absurdität der Stunde Null entlarvt wird.
Verbale Kontroversen, gewaltsame Kämpfe und folgenschwere Krisen, die aus den konflikthaften Kollisionen der Geschlechter hervorgehen, stellen nur einige denkbare Ausformungen von "Geschlechter-Dramen" dar. Aus einer interdisziplinären Perspektive wird im vorliegenden Band nach literarischen sowie filmischen Modellierungen ebensolcher Geschlechter-Dramen gefragt. Mit dieser Wortkomposition und ihrer Polysemie werden hier bewusst zwei grundlegende Denkmodelle der Literatur- und Kulturwissenschaft aufgerufen, welche in ihrer Verknüpfung die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit (inner)subjektiven, kategorialen und systemischen Konflikten von Geschlecht erlauben. Mit dem Drama wird zugleich auf das Ordnungssystem der Gattung - verstanden als Sorte oder Art von künstlerischen Werken, die in ihren charakteristischen Eigenschaften miteinander übereinstimmen - verwiesen, das im Folgenden untersucht werden soll im Hinblick auf die möglichen Zusammen-, Wechsel- und Gegenspiele mit dem Geschlecht, verstanden als eine die sozialen und kulturellen Verhältnisse grundlegend prägende Kategorie, die vor allem auf das binäre Geschlechterverhältnis und die damit einhergehende Bildung scheinbar feststehender Geschlechtsidentitäten bezogen ist. Die Inszenierungen von Geschlechter-Dramen werden auf den "Bühnen" der Literatur, der darstellenden und bildenden Künste sowie des Films auf höchst unterschiedliche Weise dargeboten und sind dabei historisch, gattungs- und medienspezifisch gebunden. Obgleich Geschlechter-Dramen zu allen Zeiten in den Gattungen und Medien sämtlicher mimetischer und nicht-mimetischer Kunstformen in Erscheinung treten, fokussieren die Beiträge des vorliegenden Bandes filmische und literarische Darstellungen moderner Geschlechter-Dramen seit 1800, die sich als "Probehandlungen" vorzugsweise in der Fiktion "abspielen".
Annkatrin Buchens Beitrag mit dem Titel " Wenn es aber... bei mir anders wäre? Geschlechter-Rollen-Spiele und alternative Rollenentwürfe in Arthur Schnitzlers "Reigen"" setzt am Ehe- und Sexualitätsdiskurs an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert an. Der Hauptaugenmerk liegt auf den im Reigen inszenierten Geschlechterverhältnissen und den hierin geschaffenen Spielräumen. Die Verfasserin stellt fest, dass Schnitzler in seinem zyklisch angelegten Drama eine bemerkenswerte Beobachtung über den Umgang mit Sexualität und die damit verbundene Reziprozität männlicher und weiblicher Rollenentwürfe präsentiert. Dabei greift Schnitzler auf stereotypisierte Figuren zurück, die die moralische Repression von Sexualität mit der männlichen Dominanz respektive der weiblichen Unterlegenheit verbinden. Gleichzeitig stellt er diesen Figuren zum Teil radikale Gegenentwürfe weiblicher Frauenfiguren gegenüber und zeigt auf diese Weise die Problematisierung männlicher und weiblicher Rollenentwürfe zu einer Zeit auf, in der die explizite Thematisierung von Sexualität auf der Theaterbühne wie im Fall des Reigen zu einem öffentlichen Skandal führte.
Mit dem Beitrag von Lis Hansen zu den "Verdammte[n] Dinge[n] - Tabu und Müll in der Literatur" wenden wir uns im Anschluss der Betrachtung von Tabus und ihrer Überschreitungen in der Literatur zu. Hansen begreift Müll dabei im Sinne von Mary Douglas als Medium der Ordnungsstiftung und weist dem ordnungstiftenden Akt des Entsorgens mit Kristevas Abjekt-Begriff identitätsstiftende Funktion zu. Damit sind Müllprodukte jedoch auch fortwährend eingebunden in einen Kreislauf von Bedeutungsverlust und Sinnstiftung. Anhand verschiedener Beispiele der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zeigt sie, wie die ausrangierten, erneut aufgefundenen Dinge für ihre Finder das Potential bereithalten, Lebensgeschichten zu erzählen und Sinnverlust in Sinnproduktion verwandeln können. Dabei setzt die Möglichkeit eines neuen Sinnarrangements aus dem Verworfenen poetisches Potential im Sinne eines semantischen Spiels frei, so dass dem Begriff Recycling hier eine neue, gleichsam poetisch gewendete Funktion zukommen kann.
Benjamin Hein beschäftigt sich im Beitrag "Über die Dethematisierung der Judenverfolgung und des Holocaust in der Populärliteratur der Nachwendezeit" mit den gegenwärtigen literarischen Aufarbeitungstendenzen der NS-Vergangenheit. Er untersucht, wie das Fortwirken eines Authentizitätsanspruchs und eines damit verbundenen 'Bildverbots' in der Schrifsteller-Generation der Nachgeborenen sowie der dritten Generation eine Aussparung der Opferperspektive zeitigt, die eine brisante Leerstelle produziere.
Ronja Hannebohm nimmt den im Jahr 1985 erschienen Roman "The Handmaids Tale" zur Grundlage ihres Beitrags, um die in einer Dystopie verorteten Geschlechterrelationen in den Fokus zu stellen, die auf den ersten Blick binär und in dieser Form starr erscheinen, jedoch anhand einer eingehenden Analyse relativiert werden können. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt der Beitrag die Gegenüberstellung von starken, machtvollen Männern und schwachen, unterworfenen und auf ihre Gebärfähigkeit reduzierten Frauen, den sogenannten Handmaids. Diese scheinbar stabilen Verhältnisse werden - dies hebt Hannebohm bereits mit dem Titel ihres Beitrags "Geschlechter-Macht-Binarismen relativiert: Margaret Atwoods Männerdarstellungen in "The Handmaid’s Tale"" hervor - in der Erzählung durch Ambivalenzen ersetzt, die erstens, den aktuellen Forschungstendenzen folgend, anhand der Beschreibungen der Handmaids ausgemacht werden, zweitens aber auch durch die männlichen Figuren, die im Roman als in ihrer Macht enthoben dargestellt werden, nachgewiesen werden können.
Eine in gewisser Weise auf die Spitze getriebene visuelle Inszenierung von Geschlechter-Dramen bildet die Grundlage des Beitrags von Anda-Lisa Harmening "Mopa - Serielle und visuelle Geschlechter-Dramen in "Transparent" von Jill Soloway", dessen Gegenstand die ersten beiden Staffeln der seit 2015 erscheinenden Dramedy-Serie bilden. Visuell steht zunächst das Coming-out eines Familienvaters im Fokus, der sich seiner Familie erstmals als Frau präsentiert und somit seine Transsexualität enthüllt. Dieses Ereignis scheint im Laufe der Serie die Krisenhaftigkeit der Geschlechtsidentitäten sämtlicher Familienmitglieder freizusetzen und diese in der Serialität in unterschiedlichen Variationen zu erproben. Harmening stellt anhand der Leitbegriffe Visualität, Maskerade und Serialität in ihrer Analyse heraus, dass die konflikthaften Geschlechterkonstitutionen und -konstruktionen im privaten Bereich der Familie durchgespielt werden, gleichzeitig aber entscheidend mit der Historizität öffentlich wahrnehmbarer (Trans-)Gender-Debatten verbunden werden, die Geschlechter-Dramen also sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makro-Ebene inszeniert und vor allem dramatisiert werden.
Der vorliegende Band möchte mit seinen Beiträgen unter anderem die benannten medien-, genre- und gattungsspezifischen Zusammenhänge von Ästhetiken des Tabuisierten und insbesondere des Tabubruchs beleuchten, so dass der Aufbau des Bandes einer Unterteilung in literarische, (audio)visuelle und theatrale Inszenierungen des Tabus und des Tabubruchs folgt. Nach einer ersten theoretischen Annäherung an den Begriff des Tabus, seine Geschichte und Bedeutungszusammenhänge sowie seine Valenz für die wissenschaftliche Auseinandersetzung werden daher zunächst literarische Inszenierungen verschiedener Tabus und Tabuverletzungen im Vordergrund stehen, während im darauffolgenden Teil Tabus und Tabubrüche in (audio)visuellen Formaten fokussiert werden. Schlussendlich stehen Darstellungen des Tabus und des Tabusbruchs auf der Theaterbühne im Blickpunkt. Der Band geht zurück auf eine im September 2014 stattgefundene und von Studierenden des Masterstudiengangs Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn initiierte Tagung zum Thema. Mit großem Engagement haben die Beteiligten eine Konferenz zu einem aktuellen und in den Kulturwissenschaften durchaus breit diskutierten Thema konzipiert und darüber hinaus couragiert die Ergebnisse erster eigener Forschungsprojekte zur Diskussion gestellt. Dieser Band präsentiert in diesem Sinne in der Hauptsache Beiträge von fortgeschrittenen Studierenden, die in diesem Rahmen erste Publikationserfahrung sammeln, darüber hinaus jedoch auch Aufsätze von jungen NachwuchswissenschaftlerInnen in der Qualifikationsphase.
"Tabu", "Verbot", "Grenze" - exakte definitorische Abgrenzungen der Begriffe erscheinen diffizil, ihre Übergänge dagegen mitunter fließend. Diese erste Bestandsaufnahme bedeutungsverwandter Wörter trifft die Frage nach der Konzeption des Tabus und seinem Gegenstandsbereich im Kern: Es geht um Grenzziehungen und um deren zeitgleiche Übertretungen, die in der Konzeption des Tabus - wie es im Folgenden konturiert werden soll - simultan angelegt sind. Leonie Süwolto gibt zur Definition des Begriffs zunächst über die Begriffsherkunft und -überlieferung Auskunft, bevor ein Überblick theoretischer Reflexionen des Tabus Aufschluss über seine Konzeption gibt. Ausgehend von der These, die im Verlauf des Textes entwickelt wird, dass Tabus als historisch und kulturell variable Grenzmarker Auskunft über gesellschaftliche Wertesysteme und ihren Wandel geben können und somit immenses kulturdiagnostisches Potential bergen, denkt Süwolto außerdem über ihre Bedeutung in der Gegenwartsgesellschaft und nicht zuletzt über das Verhältnis von Literatur, Kunst, Medien und dem Phänomen Tabu bzw. Tabubruch nach.
Mara Kollien beschäftigt sich im Beitrag "Tod und Sterben in der zeitgenössischen Filmkomödie" buchstäblich mit dem Unerfahrbarem, dem Tod als Gegenstand der zeitgenössischen Filmkomödie. Vor dem Hintergrund kultureller Zugangs- und Umgangsweisen mit dem Tod identifiziert die Autorin den humoresken Umgang mit dem Verdrängten als Möglichkeit einer distanzierten Annäherung.
In Stephanie Willekes Beitrag ""Nichts mehr stimmt, und alles ist wahr." Tabubrüche in Herta Müllers "Atemschaukel"" steht die literarische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen im Vordergrund der Betrachtung. Herta Müllers "Atemschaukel" fokussiert das Schicksal in Rumänien lebender Deutscher, die zum Kriegsende in Arbeitslagern interniert werden. Damit wird in gewisser Weise ein Tabu im Sinne des Unausgesprochenen berührt, da das Schicksal der internierten Rumäniendeutschen im Kollektivgedächtnis weitestgehend ausgespart bleibt.
Dennis Bock stellt in seinem Beitrag "'Denn es geht hier nicht um Mögen oder Nichtmögen. Die Muselmänner stören ihn, das ist es' - Erzählungen über Muselmänner in der Literatur über die Shoah heraus", wie durch die narrative Variation der im Rahmen der Shoah-Literatur inventarisierten Figur des Muselmanns und dem mit ihr verbundenen konventionalisierten Narrativ ein Störpotential erzeugt wird, das den Fokus auf die Berührbarkeit eines Tabus legt. Es ist die Berührbarkeit des Todes, die durch die erzählerische Identifikation mit einer zwischen Leben und Tod begriffenen Figur evoziert wird, und dergestalt einen Reflexionsprozess in Gang setzt.
"Der Mensch, der sich auslöschte" : philosophische und literarische Perspektiven auf den Suizid
(2017)
Sarah-Christina Henze und Kevin M. Dear beschäftigen sich mit der literarischen Bearbeitung des Themas Suizid anhand von Terézia Moras Roman "Das Ungeheuer". In ihrem Aufsatz "Der Mensch, der sich auslöschte" - Philosophische und literarische Perspektiven auf den Suizid zeigen die Autoren anhand terminologischer Abgrenzungen die ethische Problematik auf, die sich mit der Selbsttötung verbindet. In diesem Kontext könnten Suizide als nachvollziehbar gelten, die das Ende eines physischen oder psychischen Leidens verheißen. Im Falle von Moras Protagonistin, die sich in Folge einer anhaltenden Depression das Leben nimmt, laufe eine solche Legitimation jedoch insoweit fehl, als die Depression an sich ein Nicht-Artikulierbares, ein Unberührbares im Sinne des Tabu-Begriffs darstelle, das im Roman umkreist wird.
Mit dem Beitrag "Seinfeld und das Tabu der Masturbation" betrachtet Elisabeth Werner Inszenierungen von Tabus und Tabubrüchen in audiovisuellen Formaten. Die Autorin fokussiert die (De)Thematisierung von Sexualität und Autoerotik vor dem Hintergrund der medialen Bedingungen des Formats Sitcom und des spezifischen kulturellen Zuschnitts der Sitcom "Seinfeld", die zuweilen mit ihrer Figurenkonstellation an überlieferte Narrative der jüdischen Kultur anschließt.
Alin Bashja Lea Zinner fokussiert in ihrem Aufsatz ein Tabu innerhalb der literarischen Aufarbeitungsgeschichte der NS-Verbrechen. In "Das Tabu der sexuellen Gewalt in der Holocaust-Literatur" stehen die literarischen Werke des Holocaust-Überlebenden Yehiel DiNur im Zentrum der Aufmerksamkeit, die mit einem Vexierspiel aus Faktualität und Fiktionalität die sexuelle Ausbeutung von Häftlingen entlarven und sich aufgrund dessen in ihrer Rezeptionsgeschichte Anfeindungen und Vorwürfen der pornographischen Ausschlachtung und Proftigier ausgesetzt sahen.
Aude Defurne diskutiert in ihrem Beitrag die Frage, inwiefern weibliche Autorinnen die bis dato dezidiert durch männliche Autoren geprägte (literarische) Tradition des Amazonenmythos aufnehmen und für die Modellierung kämpferischer und unabhängiger Frauenfiguren nutzbar gemacht haben. Anhand von Karoline von Woltmanns "Der Mädchenkrieg" aus dem Jahr 1815 stellt Defurne heraus, dass Woltmanns Erzählung an den Sagenkreis der Königin Libussa und den damit verbundenen Gründungsmythos des böhmischen Reiches noch vor den Frauenbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts angelehnt ist, dabei bestimmten stereotypischen, negativ konnotierten Mustern der Amazone als entfesselter Furie folgt, dieser Variante jedoch einen positiven Neuentwurf der kämpferischen Frauenfigur entgegenstellt und die Autorin somit eine zentrale Repräsentantin der aus einer weiblichen Perspektive geprägten Fiktionen von Amazonengeschichten darstellt. Mit diesem literarischen Neuentwurf der Amazone um 1800 wird ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis überhaupt erst suggeriert, wenngleich dieses sich letztlich nicht durchsetzen kann und ebenso wie der Jungfrauenstaat scheitert.
Lukas Betzler beschäftigt sich mit der Dominanz weiblicher über männlichen Identitätsentwürfen, indem er die Gegenüberstellung von Femme fatale und Homme fragile als entscheidendes Charakteristikum der Erzählung "Der kleine Herr Friedemann" von Thomas Mann aus dem Jahr 1898 voraussetzt, die Interpretation dieses nur allzu binär wirkenden Geschlechterverhältnisses jedoch deutlich relativiert. Zu diesem Zweck schließt er diese Überlegungen mit dem Konzept der "hegemonialen Männlichkeit" kurz und kommt dabei zu dem Schluss, dass sich die im Fokus stehende Geschlechterbeziehung mit den Symptomen der Krise der Geschlechterordnung um 1900 verbinden lässt. In dem Beitrag zeigt Betzler auf, dass sich die Inszenierung der Femme fatale als Schreckensvision von Weiblichkeit an einen dezidiert männlichen Blick des Protagonisten rückbinden lässt, der durch die Unzuverlässigkeit und die ironische Distanzierung des Erzählers wiederum ambivalent erscheint.
Christin Harpering setzt sich in ihrem Beitrag mit der Entwicklung der Bond-Girls in den populären Kinofilmen um den von Ian Fleming erfundenen Geheimagenten James Bond auseinander. Dabei setzt sie mit Dr. No (1962) bereits bei dem ersten Film der Bond-Reihe an und geht anhand ausgewählter Beispiele zu den jüngsten Bond-Verfilmungen, um die Geschlechterkonzeption(en) der Bond-Girls in den Fokus ihrer Analyse zu stellen. Die Verfasserin geht davon aus, dass die Inszenierung der Bond-Girls in den populären Strandszenen an das rinascimentale Bild der Venus von Botticelli angelehnt sind, diese sich aber in Folge der Serialität und der damit verbundenen Weiterentwicklungen in ihren Weiblichkeitsdarstellungen transformieren. Im Zusammenhang mit der Veränderung des männlichen Helden James Bond führt Harpering den Nachweis, dass die erstarkenden Bond-Girls nicht etwa zu einer Marginalisierung der Männlichkeit Bonds führen, sondern mit den jüngeren Filmen ein hypermaskuliner Bond auf die Kino-Leinwand gebracht wird, so dass die Transformation der weiblichen Geschlechterkonzeptionen in einer Wechselwirkung mit männlichen Geschlechterkonzeptionen verstanden werden kann.
Adelina Debisow stellt in ihrer Einleitunt die übergreifende These des Sammelbandes "Geschlechter-Dramen: Literarische und filmische Inszenierungen von 1800 bis heute" vor, dass die Analyse von Geschlechter-Dramen ein bemerkenswertes Potenzial aufweist, insofern die Perspektive der Reziprozität von Gattung und Geschlecht in besonderer Weise erlaubt, gesellschaftliche und künstlerische Ordnungen in ihrer Dynamik und Historizität interdisziplinär in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff des dramatising gender vorgeschlagen und entfaltet, mit dem in Absetzung und Ergänzung zu den Begriffen des doing, staging und narrating gender die Inszenierung von Geschlechter-Dramen in den unterschiedlichen Gattungen künstlerischer Ausdrucksformen bezeichnet wird. Die Beziehung der unterschiedlichen Modellierungen von Geschlechter-Dramen zu sozialhistorischen Wandlungsprozessen bildet dabei eines der zentralen Probleme, die im Folgenden diskutiert werden sollen, indem die Funktionalität der Fiktion als Spielraum von "Probehandlungen" mit der Reziprozität von Gattung und Geschlecht zusammengedacht wird. Zuvor werden die möglichen terminologischen Bedeutungshorizonte des Geschlechter-Dramas im Detail vorgestellt und somit eine erste Stoßrichtung vorgegeben.
Salina Reinhardt setzt sich mit dem Thema der krisenhaften Männlichkeit am Beispiel des seit den 1990er Jahren zum Kultroman avancierten "Fight Club" von Chuck Palahniuk auseinander. Der Konflikt des weißen, heterosexuellen Mannes konkretisiert sich in dem Protagonisten und lässt durch dessen Persönlichkeitsspaltung gegenläufige Rollenerwartungen sowie fehlende Neuentwürfe aufeinanderprallen und in einer Überkompensation eines hypermaskulinen, sich von jeder Form weiblicher Zuschreibung loslösenden Männlichkeitsentwurfs gipfeln, der in seiner Mythenhaftigkeit nicht nur thematisiert, sondern vor allem als ein in den Wahnsinn führendes Problem inszeniert wird. Den Konflikt zwischen dem Protagonisten und seiner abgespaltenen Persönlichkeit schließt Reinhardt mit dem Erzählmodus des Romans kurz, der in seiner Aufspaltung den Geschlechter-Kampf der schizophrenen Figur mit sich selbst reproduziert und diesen beinahe in einer Eigendynamik zu überhöhen scheint.
Dem Inzesttabu gilt die Aufmerksamkeit in Verena Richters Beitrag "'C'est comme blasphémer: ça veut dire qu'on y croit encore.' Inzest und 68er-Diskussionen in Louis Malles "Le souffle au coeur" (1971)". Louis Malle inszeniert im Film einen Mutter-Sohn-Inzest vor dem Hintergrund eines französischen Nationalfeiertags. Dieses mit kultureller Bedeutung aufgeladene Setting erlaubt es der Autorin nicht nur, den Inzest vor dem Hintergrund einer kritischen Auseinandersetzung mit der Familienstruktur der bürgerlichen Kleinfamilie zu lesen, sondern als kritische Revision paternalistischer Gesellschaftsstrukturen grosso modo.
Adelina Debisow widmet sich der Inszenierung eines Tabus auf der Theaterbühne des 17. Jahrhunderts. In ihrem Aufsatz "Die 'obescénité' als inszenierter Tabubruch in der Komödie des 17. Jahrhunderts - Molières 'L'École des femmes' und 'La Critique de L'École des femmes'" beschreibt die Autorin ein Tabu, das zur Zeit Molières noch nicht als solches benannt werden kann, da der Begriff erst im 18. Jahrhundert überliefert wird. Dennoch weist seine Komödie etwas Unaussprechliches auf; das Moment sexueller Überschreitung wird im Bild der gestohlenen Schleife der Figur Agnés coram publico angezeigt und in der später erscheinenden 'Critique' mit dem Begriff der 'Obescénité' als Unsagbares gekennzeichnet.
Mit einem gegenwärtig besonders populären medialen Format setzt sich Tanja Lange in ihrem Aufsatz "Dahin zeigen, wo es weh tut: Perspektiven auf Verletzbarkeit und Selfiekultur" auseinander. Gemeinhin gilt das Phänomen des Selfies als Ausdruck des Egozentrismus einer Generation. Die Autorin nimmt dagegen jedoch Selbstdarstellungen in den Blick, die Verletzbarkeit demonstrativ ausstellen und stellt diese in den Kontext philosophischer Anerkennungstheorien. Mit der Zurschaustellung von Verletzung und Versehrtheit scheint in einer erfolgsorientierten Gesellschaft ein Tabu berührt zu sein.
In Marie Meiningers Aufsatz "Verhandlungen von Tabus in der Populärkultur. Darstellungsweisen in der ARD-Vorabendserie 'Verbotene Liebe'" steht ein serielles TV-Format im Vordergrund der Betrachtung. Bereits im Titel ruft die einstmals erfolgreiche Vorabendserie "Verbotene Liebe" das Tabuisierte auf den Plan. Die Serie nimmt ihren Ausgang von der (De)Thematisierung eines Geschwisterinzests und fokussiert damit ein Tabu, das bereits Freud Anfang des 20. Jahrhunderts neben dem Tötungstabu als eines der bedeutsamsten gesellschaftlichen Regulative beschreibt. Marie Meininger untersucht, wie die Serie jenes Tabu mit aufklärerischem Anspruch inszeniert, dabei eine (moralische) Hierarchisierung verschiedener Inzesthandlungen und -konstellationen vollzieht, die sich außerdem verbinden mit kultur- und geschlechterstereotypen Darstellungsmustern.
Vera Nordhoffs Beitrag "Alles ist erlaubt - oder doch nicht? Subjektive Tabus und ihre Grenzen in der Serie 'Sex and the City'" hat eine populäre US-amerikanische Serie zum Gegenstand, die ob ihrer sexuellen Freizügigkeit scheinbar keine Tabugrenzen zu kennen scheint. Die Autorin führt jedoch den Nachweis, dass es dennoch ein Unantastbares gebe, das in der Serie als unhinterfragtes Heiligtum firmiert: das romantische Ideal monogamer Liebe, das jedoch durch die genrespezifischen Bedingungen des seriellen Formats immer wieder als serielle Monogamie dargestellt und dabei unterlaufen wird.
Tabu als "travelling concept" : ein Versatzstück zu einer kulturwissenschaftlichen Tabu-Theorie
(2017)
In ihrem Beitrag "Tabu als travelling concept: Ein Versatzstück zu einer kulturwissenschaftlichen Tabu-Theorie" überprüft Ute Frietsch kritisch die Fruchtbarkeit des Tabu-Begriffs, dessen weit verzweigte begriffsgeschichtliche Entwicklung vom Sakralen zum Profanen führt, für die kulturwissenschaftliche Analyse. Sie schlägt vor, den Begriff mit Edward Saids Begriff der "traveling theory" bzw. mit Mieke Bals Begriff des "travelling concepts" als einen reisenden zu verstehen, um den Mehrdeutigkeiten, die sich begriffsgeschichtlich abbilden, Rechnung zu tragen. Frietsch vollzieht in diesem Sinne die 'Reise' des Begriffs von seinen polynesischen Ursprüngen bis zu seiner alltagssprachlichen Verwendung in Europa nach und legt dabei den Fokus auf die vielgestaltigen Wandlungsprozesse, denen das Tabu unterworfen ist.
Die Epoche der Weimarer Republik war gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Umbrüchen im politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich. Diese durch den Ersten Weltkrieg verursachten radikalen Veränderungen der Lebensverhältnisse hatten auch einen weitreichenden Einfluss auf den Alltag und die öffentliche Wahrnehmung der Frauen dieser Zeit: So konnten diese ab 1918 an den Wahlen teilnehmen, konnten sich an allen deutschen Universitäten einschreiben und in bestimmtem Maße finanziell unabhängig werden. Das Bild der so genannten "Neuen Frau", das gleichzeitig in der Öffentlichkeit generiert wurde, war insbesondere gekennzeichnet durch innerliche und äußerliche Emanzipation und stellte damit einen radikalen Gegenpol zur traditionellen Weiblichkeit des 19. Jahrhunderts dar. Viele Facetten der "Neuen Frau" sind in der Forschung weitgehend erschlossen - die sportliche Frau, die automobile Frau, die Frau als flapper oder garçonne - nur einer Ausprägung des neuen Frauentypus wurde bisher wenig Beachtung geschenkt: der Frau als Verbrecherin. Ziel der vorliegenden interdisziplinär und medienkomparatistisch angelegten Dissertation ist es daher, übergreifende Semantiken und Ästhetiken der geschlechtsspezifischen Verbrechensdarstellung in der Weimarer Republik offenzulegen und die unterschiedlich erzeugten, vermittelten und klassifizierenden Vorstellungen von Verbrecherinnen zu analysieren und zu kontextualisieren. Das zugrundeliegende Material umfasst dabei fachwissenschaftliche, publizistische und literarische Darstellungen von Verbrecherinnen, wobei das Hauptaugenmerk auf der Analyse von Artikeln aus Illustrierten Magazinen liegt, da diese, neben Radio und Film, zu den wirkungsmächtigsten Medien der Weimarer Republik gehören.
Dass Geschlechter-Dramen nicht zwingend in einer Eskalation der Verhältnisse münden müssen, beweist der Beitrag von Stephanie Polek, die sich dem Thema "No Drama in Drama. Poetische Dekonstruktionen geschlechtsspezifischer Räume in der Romanverfilmung "Carol" von Todd Haynes" widmet. Im Vordergrund der Betrachtungen steht die Inszenierung einer homosexuellen Beziehung zweier Frauen in den 1950er Jahren, die bereits in der literarischen Vorlage, die 1952 unter dem Titel "The Price of Salt" erschien, in den Termini der aristotelisch geprägten Tragödientradition gesprochen, nicht in einer Katastrophe mündet, sondern ein (stilles) Happy End für die Protagonistinnen vorsieht. Polek stellt heraus, dass der im Jahr 2015 erschienene Film nicht nur die Thematisierung von Homosexualität vornimmt, sondern diese vor allem mit den damit kollidierenden Lebensentwürfen verbindet, die in den gesellschaftlichen Verhältnissen im nordamerikanischen Raum der 1950er Jahre vorherrschten. Dies gelingt dem Regisseur Todd Haynes im Medium des Films durch formale Gestaltungsmittel in Form der Montage sowie der visuellen Darstellung geschlechtsspezifischer Räume, die eine entscheidende Bedeutung für die Veränderung und Dekonstruktion scheinbar stabiler Entwürfe der Geschlechterrollen einnehmen.