LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie
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Das 1814 bei der Wiener Polizeihofstelle eingereichte "lokale Lustspiel" Modeschwindel verdient Interesse sicherlich nicht wegen seiner Ästhetik oder Dramaturgie - man hat es mit einem reichlich lang, geradezu geschwätzig geratenen Verwechslungsstück mit allerlei verwandtschaftlichem und amourösem Verwirrspiel und doppeltem Heiratsschluss zu tun. Und auch die Komik ist mehr als ausgedünnt: So enthält das Stück weder eine Lustige Person noch deren mehrere, und die situationskomischen Szenen beschränken sich auf jene wenigen, in denen sich der Filou und Theaterdichter Seicht verstecken muss. Die Komik ist vielmehr auf die männlichen und weiblichen Parvenüs abgestellt, die mittels satirischer Verzerrung der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Interesse verdient es freilich wegen zweier Besonderheiten: der ausufernden Streichungen durch den Zensor sowie der detailfreudigen Inszenierung von Lebensstilen bzw. Habitusformen im Wien des beginnenden 19. Jahrhunderts. Ins satirische Visier geraten nämlich die Moden und Marotten von Parvenüs, die ihren sozialen Aufstieg betrügerischen Finanzspekulationen verdanken; von ihren ebenso raffgierigen wie niederträchtigen Ehegattinnen, die das erborgte oder erschlichene Geld mit vollen Händen ausgeben und sich damit auch noch einen Galan halten; von ehrgeizzerfressenen Kleinbürgern und Handwerkern, die ihren Söhnen Ehren und Titel erkaufen wollen. Das Stück bietet nichts weniger als ein Bild historischer Soziologie. Es sind nicht nur Zerrbilder allgemeinmenschlicher Torheiten oder deren Personifikationen, welche die Schärfe der satirischen Klinge zu spüren bekommen, sondern ansatzweise psychologisch und soziologisch konturierte Repräsentanten ihres Geschlechts, ihres Alters, vor allem jedoch ihres Standes und ihres Berufs. Gemessen an den Schemata der alten Typenkomödie bietet Modeschwindel eine Satire, die die Figuren ständisch-sozial verortet und derart die Geschichte motiviert.
Das 1814 bei der Wiener Polizeihofstelle eingereichte "lokale Lustspiel" Modeschwindel verdient Interesse sicherlich nicht wegen seiner Ästhetik oder Dramaturgie - man hat es mit einem reichlich lang, geradezu geschwätzig geratenen Verwechslungsstück mit allerlei verwandtschaftlichem und amourösem Verwirrspiel und doppeltem Heiratsschluss zu tun. Und auch die Komik ist mehr als ausgedünnt: So enthält das Stück weder eine Lustige Person noch deren mehrere, und die situationskomischen Szenen beschränken sich auf jene wenigen, in denen sich der Filou und Theaterdichter Seicht verstecken muss. Die Komik ist vielmehr auf die männlichen und weiblichen Parvenüs abgestellt, die mittels satirischer Verzerrung der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Interesse verdient es freilich wegen zweier Besonderheiten: der ausufernden Streichungen durch den Zensor sowie der detailfreudigen Inszenierung von Lebensstilen bzw. Habitusformen im Wien des beginnenden 19. Jahrhunderts. Ins satirische Visier geraten nämlich die Moden und Marotten von Parvenüs, die ihren sozialen Aufstieg betrügerischen Finanzspekulationen verdanken; von ihren ebenso raffgierigen wie niederträchtigen Ehegattinnen, die das erborgte oder erschlichene Geld mit vollen Händen ausgeben und sich damit auch noch einen Galan halten; von ehrgeizzerfressenen Kleinbürgern und Handwerkern, die ihren Söhnen Ehren und Titel erkaufen wollen. Das Stück bietet nichts weniger als ein Bild historischer Soziologie. Es sind nicht nur Zerrbilder allgemeinmenschlicher Torheiten oder deren Personifikationen, welche die Schärfe der satirischen Klinge zu spüren bekommen, sondern ansatzweise psychologisch und soziologisch konturierte Repräsentanten ihres Geschlechts, ihres Alters, vor allem jedoch ihres Standes und ihres Berufs. Gemessen an den Schemata der alten Typenkomödie bietet Modeschwindel eine Satire, die die Figuren ständisch-sozial verortet und derart die Geschichte motiviert.
Das 1814 bei der Wiener Polizeihofstelle eingereichte "lokale Lustspiel" Modeschwindel verdient Interesse sicherlich nicht wegen seiner Ästhetik oder Dramaturgie - man hat es mit einem reichlich lang, geradezu geschwätzig geratenen Verwechslungsstück mit allerlei verwandtschaftlichem und amourösem Verwirrspiel und doppeltem Heiratsschluss zu tun. Und auch die Komik ist mehr als ausgedünnt: So enthält das Stück weder eine Lustige Person noch deren mehrere, und die situationskomischen Szenen beschränken sich auf jene wenigen, in denen sich der Filou und Theaterdichter Seicht verstecken muss. Die Komik ist vielmehr auf die männlichen und weiblichen Parvenüs abgestellt, die mittels satirischer Verzerrung der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Interesse verdient es freilich wegen zweier Besonderheiten: der ausufernden Streichungen durch den Zensor sowie der detailfreudigen Inszenierung von Lebensstilen bzw. Habitusformen im Wien des beginnenden 19. Jahrhunderts. Ins satirische Visier geraten nämlich die Moden und Marotten von Parvenüs, die ihren sozialen Aufstieg betrügerischen Finanzspekulationen verdanken; von ihren ebenso raffgierigen wie niederträchtigen Ehegattinnen, die das erborgte oder erschlichene Geld mit vollen Händen ausgeben und sich damit auch noch einen Galan halten; von ehrgeizzerfressenen Kleinbürgern und Handwerkern, die ihren Söhnen Ehren und Titel erkaufen wollen. Das Stück bietet nichts weniger als ein Bild historischer Soziologie. Es sind nicht nur Zerrbilder allgemeinmenschlicher Torheiten oder deren Personifikationen, welche die Schärfe der satirischen Klinge zu spüren bekommen, sondern ansatzweise psychologisch und soziologisch konturierte Repräsentanten ihres Geschlechts, ihres Alters, vor allem jedoch ihres Standes und ihres Berufs. Gemessen an den Schemata der alten Typenkomödie bietet Modeschwindel eine Satire, die die Figuren ständisch-sozial verortet und derart die Geschichte motiviert.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Was einen "Edlen Verbrecher" ausmache, aus welchen habituellen oder biografischen Attributen er sich charakteristischerweise zusammensetze und welche Funktionen ihm als Sozialtyp, Männlichkeitskonzept und Heros der Literatur und des Dramas, des Marionettentheaters und des Volkslieds zukommen können, fesselte die Kulturgeschichtsschreibung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. [...] An Typologien des Edlen Verbrechers als eines politik-, sozial- und psychohistorisch ausdeutbaren Fluchtpunkts kollektiver Phantasien mangelt es nicht. Sieht man genauer hin: nicht auf den ewiggleichen Typ, sondern auf dessen Modifizierung, Perspektivierung und Modellierung, kurzum: auf dessen Diskursivierung, bietet der edle Delinquent nichts weniger als eine einheitliche Moral oder Psychologie, sei sie nun idealisierend, kriminalisierend oder, wie im populären Marionettentheater üblich, komisierend. So spricht vieles dafür, dass die literarischen Gattungen und nicht-literarischen Textsorten - also all die Protokolle und "Aktenmäßigen Geschichten", Anekdoten und Lieder, Novellen und Romane, Laientheater- und Marionettentheaterstücke - die Typenbildung ganz unterschiedlich prägten beziehungsweise voneinander abweichende Typen mit differenten Biographien hervorbrachten. Womöglich bewohnt der historisch-anekdotische, der epische, lyrische und theatrale Schinderhannes im 19. Jahrhundert gar nicht jenes eine Haus des Edlen Verbrechers, das ihm die Geistes- und Kulturwissenschaften gebaut und zugewiesen haben? Und womöglich ist er weder als Figur noch überhaupt als Typus, sondern bloß als Name anzusehen, dem wechselnde Diskurse kriminalistischer, pädagogischer, moralischer, künstlerischer Ausrichtung wechselnde Bedeutungen, Funktionen und Plätze im kollektiven Gedächtnis wechselnder Gruppen gaben? [...] In der Folge soll die im 19. Jahrhundert von Anekdotik, Lied und (Marionetten-)Theater konstruierte fiktive Kollektivbiographie des Schinderhannes Johannes Bückler textsortenspezifisch re-vidiert und in eine Soziobiographie aus Dichtung und Wahrheit übergeführt werden.
Nachstehenden Text schrieb ich, während ich an der University of Victoria in British Columbia, an der Westküste Kanadas, lehrte. Schon vorher war ich oft in Nordamerika gewesen und hatte überall im Land mit vielen Menschen gesprochen. Die Auseinandersetzung mit "Political Correctness" war ein Versuch zu verstehen, was mich jedesmal neu irritierte, wenn ich den Fuß auf nordamerikanischen Boden setzte: Mein (europäisches) politisches Orientierungssystem funktionierte nicht mehr. Ethnozentrismus, identitäre Politik, Tendenzen zu politischer Abschließung waren und sind in meiner europäischen Sicht "rechts" - hier galten sie als "links" und als die letzte Weisheit progressiver Politik. Und in der Kritik solcher Tendenzen, auch im Seminarraum, fühlte ich mich in mir unangenehmer Nähe zu - aus europäischer Sicht - "rechten", konservativen Autoren, mit denen ich sonst keine politischen Werte teilte. Schon damals war mir klar, dass die US-Gesellschaft, weniger die kanadische, politisch in zwei feindliche Blöcke gespalten war. Diese Spaltung wirkte tief bis in die Argumente der verfeindeten Gruppen; für abwägende Positionen war wenig Raum, zu sehr waren die Feinde ineinander verkeilt. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass das gesellschaftliche und politische Zerwürfnis sich noch weiter vertiefen könnte. Aber die heutigen USA sind tatsächlich noch tiefer in einem Strudel politischen Irrationalismus. Insofern war die schon schattige Schlussbemerkung des alten Aufsatzes bei Weitem zu optimistisch. Und der politische Irrationalismus hat sich auch in Europa einen weiten Handlungsraum erobert.
Wie kann man sich auf etwas beziehen, das sich einfach nicht sagen lässt? Melanie Unseld hat herausgestellt, dass "Salomons Singespiel als künstlerisch-autobiographische Selbstreflexion und als Markierung der eigenen Liminalität zu verstehen [ist], als Versuch einer künstlerischen Selbstverortung, entstanden in einer isolierten Exilsituation, in der Selbstverortung in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung darstellte." Wo das Politische und eine extreme Form von Zensur korrektes, den Normen entsprechendes Kommunizieren nicht mehr zulassen, diese Situation aber gleichzeitig das Bedürfnis auslöst, ein Medium des gelingenden Selbst(er)sprechens zu finden, erscheint (kulturelle) Identität auch als ein performativer Akt, in dem die Herstellung und Darstellung der eigenen Geschichte nicht mehr klar zwischen Fiktionalität und Faktualität trennen kann, sondern spezifisch eigene Formen des Selbstentwurfs findet. Das macht Elisabeth Böhm im Folgenden anhand von Charlotte Salomons "Leben? oder Theater?" nachvollziehbar.
Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges blühte das deutschsprachige Berufsschauspiel auf - und mit ihm auch das Marionettentheater. Beide agierten in denselben Räumen und fußten auf demselben Repertoire, das hauptsächlich aus dem Englischen und Niederländischen, seltener aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen übertragen wurde. Da es in Deutschland im Gegensatz zu den Niederlanden keine professionellen Dramatiker gab, bearbeiteten die Prinzipale die Texte meist selbst oder übertrugen die Aufgabe einem angehenden oder abgeschlossenen Akademiker gegen Lohn. Der Einfluss des evangelischen Schultheaters und des katholischen Jesuitentheaters ist dagegen zu vernachlässigen, da deren Texte nicht für eine professionelle Aufführung konzipiert waren bzw. einen übermäßigen szenischen Aufwand verlangten. Auf der Suche nach neuen Texten wurden dagegen die Opernsammlungen von Cicognini und anderen Librettisten, deren Werke überwiegend im höfischen Kontext entstanden waren, aufmerksam studiert. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Puppen- und dem Schauspielertheater bestand in der Betriebsorganisation. Man konnte eine Marionettenbühne bereits mit einem Bruchteil des Personals einer Schauspieltruppe betreiben. Dies senkte die Betriebskosten und erweiterte die Auftrittsmöglichkeiten. So spielten die Marionettenspieler nicht nur an Höfen und auf Rathäusern, auf Jahrmärkten und Messen in Bretterbuden und Gasthäusern. Sie waren auch in den Vorstädten und selbst in kleinen Dörfern zu finden. Für die Genehmigung waren ausschließlich die Kommunen zuständig. [...]
Ludwig Anzengruber wurde zu Lebzeiten zum 'Klassiker der Bauernkomödie' stilisiert, was seinen in der Stadt angesiedelten Dramen aufgrund der "eingerastete[n] Erwartungshaltung des Publikums" mitunter zum Verhängnis wurde. Dass sich die am Land dargestellten gesellschaftlichen Probleme nahtlos auf die Stadt übertragen lassen, hat Anzengruber im Nachwort zu seinem Roman "Der Sternsteinhof" angedeutet, das auch als poetologischer Schlüsseltext für seine Dramenproduktion gelesen werden kann. Demnach diene ihm "der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens" zu einer einfacheren und verständlicheren Darstellung, "wie Charaktere unter dem Einflusse der Geschicke werden oder verderben." An den Vorstadtbühnen muss in theatraler Hinsicht wohl zudem die Schaulust der Großstädter an den ländlichen Bauernfiguren mitbedacht werden. Und - so das Fazit des vorliegenden Beitrags - auch im Hinblick auf die Überwachung des Wiener Unterhaltungstheaters dürfte besonders der Gattung der Bauernkomödie ein erweiterter dramaturgischer Handlungsspielraum zugestanden worden sein. Während sich die Zensur im Falle der "Kreuzelschreiber" vor allem dem 'vorgeschobenen', tagesaktuellen Kirchenkonflikt widmete, der in Anzengrubers Komödie nach der Exposition allerdings keine größere Rolle mehr spielt, tolerierte sie die satirische Kirchenkritik wohl auch, weil sie den politisch und moralisch nicht gerade integren Bauernfiguren in den Mund gelegt wurde.
Sozial- und politikromantische Einbildungen haben eine lange, vielleicht sogar unendliche Lebensdauer, vor allem - aber nicht nur - in den Massenmedien. Zu solchen Vorstellungen gehört, dass die Oper vor allem im 19. Jahrhundert eine revolutionäre und systemkritische Wirksamkeit entfaltete oder die Komponisten dies zumindest beabsichtigten. [...] Die Opernzensur, so wird umgekehrt geschlossen, sei dazu dagewesen, all dies zu unterdrücken. Und die freiheitsliebenden und aufgeklärten Komponisten hätten einen steten Kampf gegen die Zensoren zu führen gehabt. Das hier skizzierte Bild der Operngeschichte darf man, auch wenn es immer noch in wissenschaftlichen Kontexten erscheint, als groben Unfug bezeichnen. [...] Viel wichtiger als das politische Argument war sowohl im 18. wie im 19. Jahrhundert das moralische Argument von Zensoren gegen einzelne Opern.
Es legt sich nicht unmittelbar nahe, dass sich eine Alttestamentlerin von ihrem Fach her zu Zensur äußert. Schließlich ist das, was wir heute unter Zensur verstehen, vorrangig mit der Kontrolle von Massenmedien verbunden, die es in der Form zu biblischen Zeiten nicht gab. Zensur im Sinne kontrollierender Lenkung von Information und Deutungshoheit über Fakten durch politische, religiöse oder wirtschaftliche Institutionen und Machthaber gab und gibt es freilich überall, wo Menschen zusammenleben und sich eine soziale Ordnung bzw. Hierarchie herausbildet. So will dieser Beitrag in einem interdisziplinären Kontext einige grobe historische und theologische Linien vom alttestamentlichen Verbot, andere Gottheiten zu verehren, über die ikonographische Zensur hin zu erlaubten, religionspolitisch aber völlig inkorrekten sprachlichen Gottesbildern nachzeichnen.
Fast unbemerkt und wider alle Erwartung ist der Laie ausgerechnet unter den Bedingungen einer modernen, hoch differenzierten, aber inzwischen weitgehend entbürgerlichten Massengesellschaft zum Experten seiner selbst ernannt worden. Konsumenten, Studienfachwähler, Spiritualitätsbegeisterte und andere von ihrer Eigenkompetenz überzeugte Meinungsinhaber bekennen sich inzwischen selbstbewusst zu den Dogmen der Selbstautorisierung, Selbstbestimmung, Selbstermächtigung, Selbstherrlichkeit, Selbsterkenntnis und Selbstverliebtheit, obwohl oder gerade weil sie jedem philosophischen System abhold sind, alle Ideen für weitgehend überflüssigen Ballast und die bürgerliche Gesellschaft längst nicht mehr für eine diskutierende Klasse halten. Das spätestens seit der Reformation geltende Zeugnis vom "Priestertum aller Gläubigen": ist es im Untergang der bürgerlichen Gesellschaft endlich zur selbstverständlichen Wahrheit geworden? Das Fragezeichen ist der Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen.
Erstens: Der Begriff der Zensur löst Assoziationen an vergangene Welten oder an autoritäre Systeme aus. Aber Zensur ist Gegenwart, auch in der klassischen Form durch Staaten und Religionen; und sie gewinnt ganz neue Facetten und Dynamiken durch die Systeme der digitalen Welt. Zweitens: Zensur wird grundsätzlich als negativ wahrgenommen, als Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit. Aber mindestens die Hälfte des Problems besteht auch in der westlichen freiheitlichen Welt darin, wie man - im Dienste der Freiheit - Zensur aufbaut, intensiviert und durchsetzt. Drittens: Die zahlreichen Bereiche gesellschaftlicher Tabuisierung, die in einer (oft massiven) Zensurierung des Sagbaren münden, sind nicht zu unterschätzen. Es gibt Prozesse einer partiellen Sensibilisierung, die sich in sozialer Sprachkontrolle ausdrücken. Neben den sprachlichen gibt es aber auch inhaltliche 'Verbote'. Viertens: Aus einem dogmatischen Relativismus erwächst oft ein normativer Postfaktizismus. Eine dieser Varianten ist der "gefühlige Postfaktizismus", demzufolge Fakten, die den Gefühlen vieler Menschen widersprechen, nicht mehr vorgebracht werden dürfen. Linksintellektuelle und Rechtsautoritäre sind sich in der Verwendung dieser Muster sehr ähnlich.
Manfred Prisching: Die Verbotsgesellschaft : Zeitdiagnostische Befunde zur Zensur - Georg Kamphausen: Der Laie als Experte seiner selbst, oder : was heißt moralische Selbständigkeit? - Irmtraud Fischer: Vom kreativen Effekt der Zensur alttestamentlicher Gottesbilder : das alttestamentliche Bilderverbot in seinen historischen Kontexten und seinen Auswirkungen auf die metaphorische Rede von Gott - Michael Walter: Zensur und Political Correctness auf der Opernbühne - Matthias Mansky: Ludwig Anzengruber und die Zensur : Anmerkungen zur Bauernkomödie "Die Kreuzelschreiber" - Lars Rebehn: Vorzensur, Nachzensur, Selbstzensur : das Puppentheater, der Staat und die Moral - Elisabeth Böhm: Was sich einfach nicht sagen lässt : Sagbarkeit, Gattungskonzeption und kulturelle Identität anhand von Charlotte Salomons "Leben? oder Theater?" - Dieter Haselbach: Political Correctness : zur politischen Kultur in Nordamerika (1995)
Bei "Litteratur, Kunst und Wissenschaft" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (1889) (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Suttner macht im Kapitel "Literatur, Kunst und Wissenschaft des Maschinenzeitalters" darauf aufmerksam, dass der 'gottgleiche Status' von damals zur Weltliteratur zählenden Dichtern vor allem auf der Anerkennung der Anerkennenden beruht: Überhaupt sah Suttner alle Menschen - also auch DichterInnen - in ihrer Zeit verankert und folglich deren Werke "als das zurückgeworfene Bild der Zeitgeist-Strahlen, welche in dem Brennpunkte eines Geistes sich vereinigt haben". Die Literatur selbst ist in diesem Sinne "nichts abgetrenntes - sie ist vielmehr der Brennpunkt des Zeitbewußtseins" und steht damit mit anderen 'Feldern' in enger Verbundenheit. Veranschaulicht wird dies anhand des zu Suttners Lebenszeit entstandenen Naturalismus. Er sei eine Erscheinung, welche "durch den Kampf der neuen und alten Weltanschauung hervorgerufen wurde". Die aus dem Gebiete der Wissenschaft kommende Forderung nach Wahrheit versuchte man auch in der Literatur umzusetzen. Auch diesbezüglich wies Suttner nachdrücklich darauf hin, dass die Forderung nach Wahrheit an sich nichts Neues sei, sondern dass die Resonanz, auf die diese Forderung stoße, das Besondere sei, denn "damals hat es niemand gehört; es stand in ihren Werken, aber bisher hat es niemand herausgelesen." Auch die geringe Wertschätzung, die man im Deutschen Reich der damaligen zeitgenössischen Literatur und deren AutorInnen entgegenbrachte, wird in einen geopolitischen Zusammenhang gesetzt. Suttner sieht den geringen Status der SchriftstellerInnen mit dem vorherrschenden militärischen Selbstbewusstsein des 'deutschen Volkes' verbunden. Dass Kunst ein Spiegel des Zeitgeistes ist - wie auch die Kunstkritik -, führt Suttner ihren LeserInnen auch anhand der Musik vor Augen. Suttner zeichnet ein Bild der fehlenden Objektivität der musikalischen Kritik und entlarvt die Wertungen als weltanschauliche Meinungen der KritikerInnen. Ihre Kritik wendet sich dabei vor allem gegen jene BefürworterInnen einer "sogenannten 'klassischen' deutschen Musik", welche Tanz- und italienische Musik abwerteten. Suttner vergleicht diese mit einer finsteren Priesterschaft, deren Sprache "an Unduldsamkeit, Überspanntheit und Selbst-Beweihräucherung hinter keiner konfessionellen Alleinseligmachungs-Predigt" zurücksteht. In "Litteratur, Kunst und Wissenschaft" findet sich eine Betrachtungsweise, welche Suttner mit vielen ihrer Zeitgenossen teilte: einem auf dem Darwin’schen Evolutionismus beruhenden Fortschrittsoptimismus. Der Glaube an den geschichtlichen Fortschritt der Menschheit war charakteristisch "für den überwiegenden Teil des politischen und geschichtlichen Denkens in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts" und prägte gegen die Wende zum 20. Jahrhundert die Denkweise vieler Intellektueller. Die Auffassung von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Menschheit war schon im 18. Jahrhundert präsent, wurde aber erst im 19. Jahrhundert mit naturwissenschaftlichen Theorien verbunden: Der Fortschritt der Menschheit wurde als 'Naturgesetz' gesehen; nicht Gott oder der Mensch bestimme die geschichtliche Entwicklung, sondern die Natur. Menschen könnten zwar "in technischer, wissenschaftlicher, sozialer, politischer, und nicht zuletzt in moralischer Hinsicht" das Fortschreiten zu "immer höhere[r] Vollkommenheit" hemmen oder unterstützen - aufzuhalten sei dieser naturgesetzliche Prozess aber nicht.
Der Zeitgeist
(2017)
Im Inventarium einer Seele wird nicht nur auf eine Beeinflussung der Person durch ihren Status, sondern auch auf jene durch den vorherrschenden Zeitgeist aufmerksam gemacht. Alles sei von dieser "unsichtbare[n], mächtige[n] Gewalt" abhängig. Vergleichbar mit einem feinen Staub dringe er in jede Ecke und wirke auf der Menschen "geistiges Leben, auf ihr Bewußtsein", weshalb es schlicht unmöglich sei, außerhalb seiner Zeit zu leben. Auch die Entwicklung und Ausbreitung von Ideen wird als dem Geist der Zeit unterworfen angesehen: Gleich einem Ton, der Resonanz braucht, um erklingen zu können, brauche eine Idee Verständnis, um weitergetragen zu werden. Deshalb gebe es "mitunter in alten Werken Ideen, welche damals, als sie zuerst ausgesprochen wurden, unbemerkt vorübergingen und welche jetzt als neu die Welt revolutionieren."
Suttner zeichnet im "Inventarium einer Seele" zwei Varianten eines reaktionären Typus, mit welchen das erzählende Ich in Gedanken Diskussionen führt und diese niederschreibt. Im vorliegenden Textausschnitt finden sich die zwei Beschreibungen dieses Typus und - als mittlerer Textteil - eine Reflexion des erzählenden Ichs.
Die Frauen
(2017)
Bei "Die Frauen" handelt es sich um eine Vorlesung aus Bertha von Suttners "Maschinenalter" (in späteren Auflagen "Maschinenzeitalter"). Das vortragende Ich hält in einer fiktiven Zukunft, in welcher der Mensch höher entwickelt ist, eine Vorlesungsreihe über die gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Vorlesungen bilden die Kapitel des Buches, welches nicht nur die gesellschaftlichen Missstände des 19. Jahrhunderts darlegt, sondern eine soziale, in sich stimmige Utopie erschafft. [...] Bertha von Suttners Soziologieverständnis war stark von Auguste Comtes positivistischer Sichtweise geprägt, die auf einem absoluten Glauben an Wissenschaft und Vernunft beruht. Dieses positivistisch geprägte soziologische Programm hatte um 1900 seinen Höhepunkt erreicht und war danach für Jahrzehnte unter den Generalverdacht der Faktenhuberei und der naiven Wissenschaftsgläubigkeit gestellt worden. Mit den Positivisten teilte Suttner ein monistisches Weltbild, sah das menschliche Zusammenleben als naturgesetzliches Ganzes an und negierte eine nomothetische Wissenschaftsauffassung. Für sie hatte die Soziologie - wie die Wissenschaft überhaupt - die Aufgabe, das menschliche Zusammenleben sowohl zu beschreiben als auch zu verbessern. Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen betrachtete Bertha von Suttner auf Basis einer Theorie der Sozialisation. Für sie gab es keine spezifisch männlichen oder weiblichen Wesenszüge. Bei Frauen oder Männern vermehrt wahrgenommene Charaktermerkmale entstünden entweder durch Zuschreibung, oder sie seien "keine wesentlichen, im Organismus wurzelnden" Eigenschaften, sondern könnten "auf äußere Umstände und Einflüsse" wie "Erziehung und Lebensstellung" zurückgeführt werden. Diese soziologisch gefärbte Auffassung von Geschlecht ist detailliert in der fiktiven Vorlesung mit dem Titel "Die Frauen" ausgeführt. Im Text zeichnet Suttner das Bild einer zukünftigen Gesellschaft, in der Geschlecht nicht mehr als hierarchisierendes Ordnungsprinzip fungiert. Überhaupt billigte Suttner den Geschlechtern bis auf wenige physiologische Merkmale keine natürlichen Unterschiede zu. Eigenschaften wie körperliche Stärke, Mitgefühl und Mut sah sie bei beiden Geschlechtern gleichermaßen vorhanden. Suttners Auffassung stand im Gegensatz zu der allgemein vorherrschenden, welche auf Hierarchisierungen von Unterschieden beruhte. Suttner kritisiert die Zuordnung von geistigen und charakterlichen Eigenschaften zu physiologischen Eigenschaften, wie sie auch noch heute getroffen wird. Dabei geht sie wissenschaftlich-analytisch vor, indem sie Textstellen aus markanten Büchern, die 'Frauen' zum Thema haben, genau unter die Lupe nimmt und deren fehlende Objektivität und mangelhafte Argumentation darlegt. Dass bestimmte Eigenschaften bei den Frauen ihrer Zeit häufiger zu beobachten sind als bei Männern, verneint die Autorin nicht, doch erklärt sie diese Prägung mit der Sozialisation. Suttner macht aber nicht nur auf Paradoxe in der Argumentation aufmerksam, sondern zeigt die verschiedenen Formen auf, in welchen die Unterdrückung der Frau in verschiedenen Epochen zum Vorschein kommt: So argumentierten die VertreterInnen der Lehre von der Minderwertigkeit der Frau im 19. Jahrhundert nicht mehr theologisch, sondern philosophisch und 'wissenschaftlich'. Der Rang der Frau sei zwar nicht mehr der einer Sklavin, aber immer noch der einer dem Mann Untergebenen. Somit sei bloß die Form subtiler geworden, denn "die Unterordnung, die Abhängigkeit - die war geblieben." Diese Unterordnung der Frau unter den Mann als eine "Art Neben- oder vielmehr Unterabteilung des Menschentums" sieht Suttner auch in der Sprache gespiegelt: Der Begriff 'Mensch' umfasst im Maschinenzeitalter nur den Mann. Diese Reflexionen Suttners zur Sprache können als "Ansätze zu einer feministischen Sprachkritik" betrachtet werden.
Suttner erklärt den Antisemitismus in ihrem Wort an die antisemitischen Frauen auch sozialpsychologisch. Ein Kernaspekt dabei sei die Feindseligkeit, die Hassfähigkeit, die der Mensch "gegen die Dinge wendet, die ihm störend, schädlich oder auch nur - unangenehm erscheinen". Diese Fähigkeit zu hassen werde "sehr leicht angefacht, denn er [der Mensch] ist froh, einen Gegenstand zu finden, auf welchen er die verschiedenen Richtungen seines Grolles concentriren kann." Hinzu komme, dass viele Menschen - vor allem jene mit niedrigem Sozialstatus - aus der Degradierung von Anderen an Selbstwert gewinnen würden. Suttner bezeichnet den Antisemitismus in dem Artikel von 1893 als "Gefahr für die Gesellschaft" und warnt auch eindringlich vor seinen noch latenten, aber nicht weniger gefährlichen Ausprägungen. Zwar werde (noch) kein Kampfruf wie 'Schlagt sie nieder!' ausgestoßen, doch "die Häufung der einzelnen Beschuldigungen, Verdächtigungen, Geringschätzungen" müsse früher oder später zu jenem Ruf führen. Die AntisemitInnen strebten an, die "Verfolgung" der Juden, "die jetzt noch außergesetzlich ist, zum Gesetz zu erheben". Der Antisemitismus an sich widerstrebe aber dem Prinzip der Gerechtigkeit und basiere auf fehlerhaften Argumentationen, sei also ein Vorurteil: Denn "[a]lle Schlechtigkeiten, Verbrechen und Vergehen, welche innerhalb der Gesellschaft begangen werden, sind individuelle Thaten und dürfen daher nur an den Einzelnen verpönt und bestraft werden." Indem man eine Gruppe ihrer "Glaubens- oder Raceangehörigkeit wegen" zurücksetze, tue man vielen Einzelnen unrecht. Suttner beschreibt das Phänomen, dass AntisemitInnen sich von ihren GegnerInnen permanent persönlich beleidigt und angegriffen und sich als Gruppe diskriminiert fühlten. Sie verwahrt sich gegen die Behauptung eines solchen Angriffs.