LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie
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Theaterkulturen - Kulturtheater präsentiert u.a. die Ergebnisse der im Rahmen des LiTheS-Workshops "Habitus" im Mai 2009 geführten und davon angestoßenen Diskussionen. Michael Walter: Der Fall Salicola oder Die Sängerin als symbolisches Kapital - Marion Linhardt: Das Weibliche als Natur, Rolle und Posse : Sozio-theatrale Tableaus zwischen Shakespeare und Nestroy - Zoltán Péter: Karl Kraus und die Avantgarde - eine mehrschichtige Beziehung - Manfred Prisching: Der spätmoderne Hermann Broch
In diesem Aufsatz geht es um einen Teil jener Ansätze von Karl Kraus, die bei der Entfaltung der Wiener historischen Avantgarde eine besondere, jedoch kaum geachtete Rolle gespielt haben. Denn er war es, der, nach den 1896 begonnenen Attacken auf den etablierten Pol des literarischen Feldes (der Kleinproduktion), sich ab 1912 auch gegen die Avantgarde richtete: nicht nur gegen den Expressionismus, wie oft behauptet wird, sondern auch gegen den Aktivismus, Dadaismus und Konstruktivismus. Er übernahm also zuerst die anderswo den Avantgardisten zukommende Rolle - nämlich die Zurückdrängung der klassischen Moderne - und anschließend versuchte er, auch jene überflüssig erscheinen zu lassen. All dies vollzog er nicht ausschließlich, doch überwiegend in seiner eigenen Zeitschrift "Die Fackel"; in einem Einzelunternehmen, das dazu da war, die Kraus’sche Sichtweise einem breiten Publikum zugänglich zu machen, sprich: eine selbstständige Position zu etablieren. Das war ihm auch gelungen und er wurde dabei selten und nur geringfügig von dem einen oder anderen Netzwerk unterstützt oder getragen. [...] Im Anschluss an die Analyse des in dieser Arbeit vorerst aus undetaillierten Bestimmungen bestehenden Kontextes wurde eine Analyse der Fackel in ihren Verknüpfungen zu den Ismen unternommen. Die digitale Ausgabe der Fackel wurde durch zahlreiche Begriffe, die dem Vokabular der Avantgarde angehören, gefiltert. Der Bericht diskutiert einen Teil der Ergebnisse, die mit den Suchbegriffen "Expressionismus", "Futurismus", "Dadaismus", "Konstruktivismus", "Raumbühne" sowie "Neutöner", "Hans Arp" und "Friedrich Kiesler" erzielt wurden.
Wenn man die Broch'schen Betrachtungen durchblättert, wie auch jene einiger Zeitgenossen, scheinen sie nicht nur ideengeschichtliche Resonanz, also rein akademisch-historisches Interesse, auszulösen, vielmehr erinnern viele Äußerungen an die Gegenwart oder regen zu Vergleichen mit der späteren Moderne (oder eben: mit der Postmoderne, Spätmoderne oder zweiten Moderne) an. Man stolpert über Beobachtungen, die sich in gegenwärtigen zeitdiagnostischen Studien wiederfinden, zum Teil bis in die Wortwahl hinein. Natürlich könnte man beide Arten von Literatur, damals wie heute, damit abtun, dass sich kulturpessimistisches Vokabular immer in gleicher Weise darstelle und demgemäß die verwendeten Denkfiguren immer ziemlich ähnlich seien. Man könnte aber auch dem Gedanken nachgehen, ob es sich nicht bei den beschriebenen Phänomenen um solche handelt, die seinerzeit, schon an der Wende zum 20. Jahrhundert, ihren ersten "Anlauf" zu verzeichnen hatten, während sie, nach mancherlei Bremsversuchen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erst in der Gegenwart zur vollen Entfaltung gelangt sind. Es könnte ja sein, dass schon in jener Zeit, als die Moderne erst so recht zu sich selbst gekommen ist, kräftige Tendenzen hin zu jener Welt spürbar und wahrnehmbar geworden sind, die als Postmoderne zu bezeichnen man sich mittlerweile angewöhnt hat. Die historische Zeitdiagnose könnte sich mit der aktuellen Zeitdiagnose überlagern. Es könnte - schon damals - von "uns" die Rede gewesen sein. Wie "postmodern" war Broch?
Wer ist Margherita Salicola? Man erfährt über sie in den einschlägigen Lexika nur, sie sei die Schwester der Sängerin Angiola (oder Angela) Salicola und die berühmtere der beiden gewesen, daß aber sich kaum Nachrichten über sie erhalten hätten, außer jener daß sie, wie ihre Schwester, in den Diensten des Herzogs Ferdinando Carlo (IV.) Gonzaga von Mantua gestanden habe und dann mit Johann Georg III. nach Dresden gegangen sei. Schon Lorenzo Bianconi und Thomas Walker hatten in einem langen Artikel, der noch heute die Grundlage aller sozialgeschichtlichen Arbeiten zur Operngeschichte des 17. Jahrhunderts ist, herausgearbeitet, daß die ca. 1660 geborene Sängerin in den 1680er Jahren zu den international berühmtesten italienischen Sängerinnen gehörte und ihr Ruhm auch jenseits der Alpen noch am Anfang des 18. Jahrhunderts nicht verblaßt war. 1682 begegnet Salicola zum erstenmal als Sängerin am Teatro San Salvatore in Venedig in einer Oper Giovanni Legrenzis und trat im folgenden Jahr in Pietro Andrea Zianis "Il talamo preservato dalla fedeltà d’Eudossa" in Reggio Emilia auf. Kurz darauf sang sie in Venedig, wo ihr der sächsische Kurfürst begegnete, der sie - davon handelt der folgende Text - mit nach Dresden nahm, wo sie, die erste Primadonna jenseits der Alpen wurde. 1693, nachdem sie Dresden verlassen hatte, trat sie in Wien auf und ist ab 1696 erneut in Italien nachweisbar. [...] War Salicola bei den Zeitgenossen berühmt wegen ihres Gesangs, so wurde sie musikhistorisch vor allem bekannt durch ihre angebliche Entführung aus Venedig, die noch im 19. Jahrhundert und bis heute immer wieder erzählt wurde. Aber auch außerhalb der musikwissenschaftlichen Literatur werden die im folgenden dargestellten Ereignisse anekdotisch erzählt und mit der "Theaterbegeisterung der höfischen Gesellschaft" erklärt. Im folgenden soll dem, im Detail gelegentlich verwirrenden, "Salicola incident" erneut nachgegangen werden, um ihn dann innerhalb des politisch-kulturellen Rahmens zu erklären.
Das Weibliche als Natur, Rolle und Posse : sozio-theatrale Tableaus zwischen Shakespeare und Nestroy
(2011)
Es wäre viel zu einfach, die in einer bestimmten historischen Konstellation verbreitete Rede davon, was "weiblich" und was "männlich" sei (eine Rede, der die Alltagsrealität des Einzelnen ohnehin entgegengesetzt sein kann), und die in einem Bühnenstück vorgeführten Verhaltensweisen von Frauen und Männern in eins zu setzen. Zu bedenken ist vielmehr, was Walter Obermaier über die Frauen bei Nestroy schreibt: dass sie nämlich "generell einer Welt der Fiktion zugehörig [sind], in der Possentradition und Theaterkonventionen eine entscheidende Rolle spielen" - oder allgemeiner formuliert, dass Kunst, Alltagswissen und die Autorität wissenschaftlicher Rede je spezifische Funktionen für einen Diskurs besitzen und dabei in verschiedene Beziehungen zueinander treten können. Dies vorausgesetzt, möchte Marion Linhardt im Folgenden einem traditionellen Thema des komischen Theaters nachgehen: dem Aufeinandertreffen von geschlechtsbezogener Norm einerseits und Abweichung von dieser Norm andererseits. Das genre- wie geschlechtergeschichtliche Feld wird dabei durch William Shakespeares "The Taming of the Shrew" (um 1592) und Nestroys "Gewürzkrämer-Kleeblatt" (Theater an der Wien 1845) aufgespannt. Die Verschiebungen im Geschlechterdiskurs, die sich innerhalb dieses Feldes vollzogen, und das jeweilige Potenzial dieses Diskurses im Hinblick auf komische Genres lassen sich beispielhaft anhand der maßgeblichen Wiener Shrew-Adaption des 19. Jahrhunderts nachvollziehen: gemeint ist "Die Widerspänstige" (Burgtheater 1838) des Nestroy-Zeitgenossen Johann Ludwig Deinhardstein, ein Stück, das seinerseits nach zwei Richtungen hin kontextualisiert werden soll - zunächst durch einen Blick auf die im deutschsprachigen Raum viel gespielten älteren Shrew-Bearbeitungen von Johann Friedrich Schink und Franz Ignaz von Holbein, dann durch Beobachtungen zu einem programmatischen Stück aus dem unmittelbaren Umfeld der "Widerspänstigen", nämlich Wilhelm Marchlands Lustspiel "Frauen-Emancipation" (Theater in der Josephstadt 1839). Der Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein doppelter: Es wird gefragt, wie sich die aus dem erwähnten Aufeinandertreffen von Norm und Abweichung resultierende Komik zur - historisch bedingten - Disposition von Genres verhält und welche Dimensionen das Phänomen des Rollenspiels in diesem sozio-theatralen Tableau gewinnt.
Nachdem der erste große Krieg der Moderne Ende Juli 1914 seinen Anfang genommen hatte und innerhalb weniger Monate immer mehr Nationen in ein Kampfgeschehen von bis dahin unerreichtem Ausmaß eingetreten waren, ließ es sich – so wird in ausgewählten Puppenspielen der Zeit berichtet – alsbald auch ein altbekannter Spaßmacher und berühmtberüchtigter Spitzbub nicht nehmen, im weltumspannenden Kriegsgetümmel mitzumischen. Mit dem Kasper(l) unserer Tage, der wohl in vielen Menschen kraft seiner herzerwärmenden Kindlichkeit und seiner schalkhaften Harmlosigkeit Assoziationen an die eigene Kindheit hervorruft, hat der Lustigmacher des Ersten Weltkriegs wenig gemeinsam. Vorausgeschickt sei an dieser Stelle ein wesentlicher Aspekt: beim Kriegskasper(l) der Jahre 1914 bis 1918 handelt es sich nicht um eine für ein Kinderpublikum konzipierte Figur. In weiterer Folge differieren beispielsweise die Inhalte, die Figurenkonzeption oder die Darstellungsmittel in erheblicher, ja mitunter frappierender Weise von dem, was der unbedarfte Rezipient von heute sich vermutlich von einem Kasper(l)theater erwarten würde. Zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen wurde der Spaßmacher des Ersten Weltkriegs allerdings äußerst selten erklärt: Sowohl die Literatur-, die Theater- und die Sprachwissenschaften als auch die historisch-volkskundlichen Disziplinen schenkten diesem Randphänomen des Literatur- und Kulturbetriebs bisher spärlich Beachtung. [...] Programm und zugleich Ziel dieser Masterarbeit ist eine Annäherung an das Phänomen des Kasper(l)s der Weltkriegszeit auf mehreren Ebenen unter Rückgriff auf ein interdisziplinäres Instrumentarium, wobei der philologische Zugang zu den Primärtexten durch die zusätzliche Einbeziehung sozialhistorischer wie auch soziologischer Theorien und Methoden maßgeblich bereichert werden kann. Diese fächerübergreifende Herangehensweise wurde gewählt, da die Kasper(l)stücke der Weltkriegsjahre 1914 bis 1918 eine Fülle von Anspielungen auf politische Ereignisse und soziale Zustände in sich bergen wie auch auf ihre sehr spezifische Weise die Gesellschaft bzw. die nationale Gemeinschaft der damaligen Zeit samt ihren Charakteristika, Anforderungen und Problemen widerspiegeln.