Jahrbuch / FVF, Forum Vormärz Forschung - 22.2016
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Der Bürger als Anarchist : Friedrich Theodor Vischers "Auch Einer" erklärt dem Zufall den Krieg
(2017)
Vischers 1878 erschienener Roman ist ein Sonderfall selbst in der an originalen Einfällen nicht armen Literatur des 19. Jahrhunderts. Und nicht nur, weil es der einzige Roman eines Autors ist, der als Verfasser einer sechsbändigen Ästhetik berühmt war und erst in seinen letzten Lebensjahren mit seinem einzigen Roman gleich einen Bestseller landete. Das wirklich Erstaunliche an diesem Erfolg ist, dass dieses formal wie inhaltlich komplexe Erzählwerk, das in der zeitgenössischen Kritik eher auf zögerliche Resonanz stieß, über einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert zu einem Kultbuch des deutschen Bürgertums wurde. Die Deutsche Verlags-Anstalt veröffentlichte den Roman in zahlreichen Neuauflagen bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, und seit der Jahrhundertwende wollten auch andere Verlage an dem Geschäft teilhaben.
Der Erfolg bei der bürgerlichen Leserschaft ist einerseits verständlich, denn "Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft" scheint auf fast programmatische Weise an den Interessen des Bildungsbürgertums orientiert: an den Fortschritten der Wissenschaft wie an der Fixierung auf die klassisch-romantische Tradition, nicht zuletzt an der preußisch-deutschen Staatenbildung von der Annektierung Schleswig-Holsteins durch Preußen, über den deutschen Krieg Preußens gegen Österreich 1860 bis zur Reichsgründung Bismarcks nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71.
Vorliegende in zwei Bänden erschienene Untersuchung beruht auf einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft und legt in vier ausführlichen Fallstudien dar, inwieweit sich in dem "Zeitraum zwischen etwa 1780 und 1840" ein gleichsam emanzipiertes Verständnis von Kultur und Literatur entwickelt, das die Unterhaltung als Wert an sich legitimiert - im Gegensatz zum aufklärerischen Grundsatz der Verbindung von delectare und prodesse. Diesem Mentalitätswandel kann gar nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden, entwickelt sich doch aus ihm sowohl ein Buch- und Literaturmarkt im modernen Sinn als auch ein radikal verändertes Rollenverständnis zwischen Textproduzenten und ihren Rezipienten, eine Erschütterung, die sich nicht zuletzt in der Metaebene so mancher Werke dieser Epoche widerspiegelt - wobei die in der Studie untersuchten Protagonisten "nicht mit Verteufelungen" auf die veränderten Rahmenbedingungen reagieren, sondern "dem Bedürfnis nach 'bloßer' Unterhaltung sein Recht einzuräumen" versuchen.
Neben den Einzelstudien, die im Folgenden kurz umrissen werden sollen, führen die AutorInnen noch weitere als Akteure in diesem Prozess wichtige Persönlichkeiten an und entfalten so, unter Auswertung zahlreicher Quellen, ein umfassendes Netzwerk, das dem thematisierten Strukturwandel zugrunde liegt. Diesem verdienstvollen Unterfangen gebührt a priori schon einmal die höchste Anerkennung.
Im Vorwort zum Rotteck-Welckerschen Staatslexikon hielt der bekannte liberale Staatsrechtler Carl von Rotteck 1834 ein flammendes Plädoyer für den Wert politischer Bildung. Oberstes Ziel müsse es sein, die Menschen in den Stand zu setzen, die Rechte und Pflichten wahrzunehmen, die ihnen als "active Bürger eines constitutionellen Staates oder überhaupt als mündige [...] Bürger eines Rechtsstaates" zustünden. Die Synthese von Erziehung und Demokratie, die bis heute zum Katechismus des braven Republikaners zählt, hat hier im politischen Denken des deutschen Vormärz ihren Ursprung. Während aber Liberale wie Rotteck vor allem für die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien und die Einübung bestimmter sozialer Tugenden auf dem Boden der konstitutionellen Monarchie warben, waren es in dieser Zeit vor allem demokratische Denker und Publizisten, die in volkspädagogischen Bemühungen einen Weg erkannten, das "gelobte Land" der Demokratie und damit eine komplette Systemalternative zu erschaffen.
Exemplarisch für diese Richtung untersucht Katharina Schneider in ihrer lesenswerten Dissertation eine besonders spannende Intellektuellengruppe deutscher Exilanten in der Schweiz, die 1840 in Zürich den politischen Emigrantenverlag "Literarisches Comptoir" gründeten und aus dem benachbarten Ausland versuchten, publizistisch auf die politische Lage in Deutschland einzuwirken.
"So rezensieren ist viel schwerer als man - das heißt als ich - es gedacht habe", heißt es im Brief Fanny Lewalds an Adolf Stahr vom 15. Februar 1849 aus Berlin nach Oldenburg, wobei sie sich auf ihre Beschäftigung mit Bettina von Arnims, ihrer Berliner guten Bekannten, Briefroman "Ilius Pamphilius und die Ambrosia" bezieht und munter gegen die Geisteswissenschaft zu Felde zieht: "Mir, die eigentlich so plastisch produktiv ist, dass aus jeder Rezension bei mir eine Novelle wird, wenn ich mich nicht in Acht nehme, mir kann es gewiss nur eine nützliche Übung sein, weil es zu konkretem Denken zwingt. Sieh, solchen physischen Ekel habe ich vor Philosophie als Wissenschaft und vor ihrer Schulsprache, dass - ich gebe Dir mein Wort darauf - mir die Haut schauert bei dem preziösen Wort 'konkretes Denken'." (S. 498) Eine gesprächige, keineswegs redselige Schreiberin äußert sich hier beim Bericht über ihr Tagewerk en passant zum Lobe einer nützlichen "Übung" von Buchbesprechungen, die hoffentlich als Echo auf die literarische Produktivität im feuilletonistischen wie akademischen Raum auch in Zukunft zum Wohle einer breiten Information und als kritische Reaktion auf die Produktivität des Buchmarktes noch vielen zugutekommen möge.
Den 668 Seiten des ersten, vom Rezensenten ebenso dankbar wie anerkennend besprochenen Bandes des Briefwechsels von 1846/47 zwischen Fanny Lewald und Adolf Stahr aus dem Jahre 20141 ist der zweite Band für die wahrlich brisanten Jahre 1848/49 just 2015 auf dem Fuße gefolgt. Auch dieser soll hier freudig begrüßt und anteilnehmend bedacht sein
Examinierung auf Schiff vor Landung. Sehr gut! 'Nichts zu verzollen?' - 'Nichts.' Sehr gut! Dann politische Fragen. Er fragt: 'Sie sind Anarchist?' Ich antworte [...] 'Erstens, was wir verstehen unter Anarchismus? Praktisch, metaphysisch, theoretisch, mystisch, abstraktisch, individuell, sozialisch Anarchismus? Als ich jung war', sage ich, 'alles das für mich war wichtig.' So wir hatten sehr interessante Diskussion, und war ich dann ganze zwei Wochen auf Ellis Island - [...].
Dies eine Episode, die Professor Pnin in gebrochenem Englisch in Vladimir Nabokovs gleichnamigen Roman erzählt. Gibt es ein anarchistisches Moment auch in Gottfried Kellers Prosa? Und falls ja: Wo und in welcher Weise wäre ein solches auszumachen? Im Hinblick auf die Novelle ‚Romeo und Julia auf dem Dorfe‘ fragt der Beitrag nach Resonanzen zwischen Kellers Novellen der 1850er Jahre und dem historischen Kontext anarchistischer Positionen des 19. Jahrhunderts. Hierbei wird auch die Frage zu erörtern sein, inwiefern den Erzähl- und Darstellungsverfahren Kellers eine als anarchistisch beschreibbare Logik innewohnt.
Dort, wo der Weg der Geschichte sich gegabelt hat zwischen der Hinnahme des Gewohnten und dem Ausstieg aus ihm, so sanft wie tunlich oder so revolutionär wie nötig, da stoßen wir auf eine Reihe von Neuerern: Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse oder der überkommenen Denkbahnen, z.T. auch Sprachkritiker, Sprachneuerer. Die "Linkshegelianer" bilden den Grundstock: Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer, Stirner, Hess, in ihren Anfängen müssen wir auch Marx und Engels dazu zählen. Sie haben an schon etablierten politischen Lehren weitergearbeitet, aber sie haben, vor allem, neue Lehren und eine Kritik an allem Überkommenen in die Welt gesetzt. Zu einem beträchtlichen Teil haben sie sie nicht selbst erdacht. Bei französischen Revolutionären (oder auch Reformern) von Babeuf und Fourier bis zu Proudhon sind sie in die Lehre gegangen, Marx auch bei Ricardo und den Größen der britischen Nationalökonomie. Auf die Nachzeichnung jener Lehren soll es hier ankommen. Dazu greife ich einen heraus, der interessant ist, weil er von den Anfängen seiner Reflexion an, erst mit der Verarbeitung seines Judentums beschäftigt, sich zu einem Mitkämpfer der führenden kommunistischen Führerpersönlichkeiten entwickelt hat, aber auf anarchistische Weise; danach ist er auch noch bei den frühen Sozialdemokraten gelandet, eben Moses Hess.
Volksaufklärung im 19. Jahrhundert? Der Autor dieser monumentalen vierbändigen Teilausgabe - die das betreffende "Biobibliographische Handbuch" nunmehr für das 19. Jahrhundert fortschreibt - stellt sich selbst programmatisch diese Frage und verweist auf die Widerstände, die sich ergaben, als an die bisher erbrachten Forschungsleistungen zur Volksaufklärung im 18. Jahrhundert für diesen Zeitraum angeknüpft werden sollte. Aber allen Vorbehalten zum Trotz erwies sich, dass die Volksaufklärung nach den zwei Jahrzehnten ihres Höhepunkts - und zwar 1780-1800 - keinesfalls abbrach. Die anfängliche Befürchtung, "Rückgang, Verfall", gar "ein Dahinsiechen der Aufklärung“ beobachten zu müssen, wich, so der Autor, einer "Riesenüberraschung" (Bd. 3.1, S. XLIII). Am Ende erscheint zumindest anhand der Literatur, die als "Volksaufklärung" klassifiziert werden kann (und in der Einleitung zu den Bänden findet sich nochmals ein präzisierender Eingrenzungs- und Definitionsversuch), die Epochenschwelle 1800 als hinfällig. Denn mit Blick auf diese Textgattung war "Aufklärung" keinesfalls an ein Ende gelangt. Es gab bemerkenswerte Kontinuitäten, aber auch Diskontinuitäten, und teilweise veränderten sich Inhalte und Themen.
Vor allem erfolgte Volksaufklärung nunmehr, so der Autor nicht ohne einen sichtlich kämpferischen Duktus, der angesichts der vorliegenden und eher in eine andere Richtung weisenden Resultate vielleicht als etwas ideologisch eingeübt erscheint, "meist ohne staatliche Unterstützung und oft gegen massive staatliche und ultramontane Repression" (Bd. 3.1, S. LXIX).
Der jüdische Intellektuelle Ludwig Börne (1786-1837), der einer breiten Öffentlichkeit als Journalist, Literatur- und Theaterkritiker sowie Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland bis in die Gegenwart ein Begriff ist, soll 1821 geurteilt haben, dass Johannes Weitzel der beste deutsche politische Schriftsteller sei. Umso erstaunlicher bei einer solchen Eloge durch eine weithin bekannte und seine Zeit prägende Geistesgröße ist, dass der Name Johannes Weitzel und dessen Werk heute weitestgehend unbekannt sind. Wenn man weiterhin berücksichtigt, dass Weitzels schriftstellerisches Werk mit den Werken und den Lebenswegen von Johann Joseph von Görres (1776-1848), Karl August Fürst von Hardenberg (1750-1822) und Karl Wenzeslaus Rodeckher von Rotteck (1775-1840), Karl Theodor Georg Philipp Welcker (1790-1869) sowie Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) korrespondierte, mit allen denen er in einem direkten Austausch stand, wundert man sich umso mehr, dass ein solch wichtiger ideengeschichtlicher Impulsgeber - was sich übrigens auch daran zeigt, dass er als eher bürgerlicher politischer Autor selbst für das Demokratieverständnis der deutschen Frühsozialisten von großer Bedeutung war - dermaßen in Vergessenheit geraten konnte. Wolfgang Kötzlers 1961 aufgeworfene Frage "Und wem, außer wenigen Fachhistorikern, ist sein Name heute noch ein Begriff?" gilt jedenfalls auch heute noch.
Keine Macht für Niemand : gegen die Ehe: Luise Mühlbach, Louise Dittmar, Louise Aston, Wilhelm Marr
(2017)
Theoretisch-utopische Entwürfe der Frühen Neuzeit und der Aufklärung haben fast automatisch nur männliche Akteure im Blick. Wenn Frauen dennoch auftauchen, dann allenfalls als Gebärerinnen, Haushaltsverantwortliche oder Erzieherinnen. Und auch für 'anarchoide' Entwürfe des 18. Jahrhunderts - gleich ob theoretisch-utopische oder literarische - gilt: Es waren fast ausschließlich solche von Männern für Männer. Diese Sichtverengung änderte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, d.h. mit dem Eintritt von Frauen als Autorinnen in soziale und politische Diskurse. Denn Frauen - unter einer Mehrfachherrschaft: unter dem gleichen sozialen, ökonomischen und politischen Druck wie Männer, aber zusätzlich noch unter dem Druck eben der Männer - hatten ihre Anliegen selbst in die Hand zu nehmen, und sie nahmen sie in die Hand. Und es zeigt sich: Nicht wenige der Emanzipationsdiskurse, die bislang als demokratisch angesehen wurden und werden, waren mitnichten 'nur' demokratisch. Denn sie waren nicht selten anarchistisch oder 'anarchoid'. Das verdeutlichen zum Beispiel auch die Debatten um den Status von 'Ehe'.
In Deutschland nahezu unbekannt, gehört der Schriftsteller Laurent Tailhade (1854-1919) zu den interessantesten Persönlichkeiten des literarischpolitischen Anarchismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche Gedichte und Essays, trat aber auch als Autor polemischer Zeitungsartikel und als aggressiver Redner hervor, sodass sich an seiner Person exemplarisch das Zusammenspiel von literarisch-ästhetischer und politisch-provokativer Praxis darstellen lässt.
Berühmt wurde Tailhade durch seinen zynischen Ausspruch "Qu’importent les victimes si le geste est beau!" anlässlich des Attentats von Auguste Vaillant auf die Französische Nationalversammlung im Dezember 1893: Gegenüber der "Schönheit" des terroristischen Aktes spielten humanitäre Erwägungen für Tailhade scheinbar keine Rolle. Nur wenige Monate später, im April 1894, wurde er selbst Opfer eines Anschlags in dem Pariser Restaurant Foyot, wobei er ein Auge einbüßte, sich aber dennoch - dies ist neben der ‚Ironie des Schicksals‘ der eigentlich entscheidende Aspekt - weiterhin für anarchistische Ideen einsetzte. Im Folgenden soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich die zur viel zitierten ästhetizistischen Provokationsformel geronnene Aussage Tailhades in dessen literarisch-intellektueller Entwicklung und im künstlerischen und politischen Kontext des 19. Jahrhunderts verorten lässt.
Der Zeitabschnitt zwischen 1815 bis 1848, der demokratisch-republikanische Vorfrühling, wird in der Literaturhistorik kontrovers gesehen und diskutiert. Denn zum Einen war da das Sich Reibende der Menschen an Verhältnissen, die zusehends durch ökonomischen Druck gekennzeichnet waren, und ihr daraus resultierendes Unwohlsein. Es gab etwas Gärendes, eine Unzufriedenheit, die sich Bahn brechen sollte und zur politischen Eruption von 1848 führte. Da war aber auch das Streben derjenigen, die man im Nachhinein unter dem Begriff Biedermeier subsumiert hat, nach der ländlichen Idylle und dem Rückzug ins Private. Es gab den Wunsch von vielen, der Kapitalismus, der am Horizont aufzuziehen begann, möge einen selbst noch verschonen, es möge einen Ausweg geben, und so reagiert auch der literarische Klassiker jener Epoche, Georg Büchners Figur Lenz, der einem wirklichen Menschen nachempfunden ist, verstört auf die zunehmende Kapitalisierung seiner Umgebung. Auch Lenz versucht, sich ihr zu entziehen, und Generationen von Schulkindern wurden Zeugen seiner Flucht ins Gebirge, die vergeblich bleiben musste. Lenz blieb letztlich nichts, als sich in eine Welt zu fügen, die nicht die seine war. Von nun an tat er: "[...] Alles wie es die Andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin."
Gab es wirklich keine Möglichkeit, sich aus einer Entwicklung zu retten, die ein anderer Klassiker aus jenen Jahren folgendermaßen beschrieben hat: "Die Bourgeoisie," das sagen Karl Marx und Friedrich Engels im "Manifest der Kommunistischen Partei", das erstmals zu Beginn des revolutionären Jahres 1848 erschienen ist, "wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung."
Welche Optionen gab es, auf "das nackte Interesse" und "die gefühllose bare Zahlung" zu reagieren? Georg Büchner hatte für die Revolte optiert und hatte sie gelebt, er hatte fliehen müssen und war jung verstorben. Andere versuchten, sich einen privaten Rückzugsort zu schaffen. Die Französin Louise Michel jedoch stand für einen dritten Weg, der allein der ihre war: Sie wollte sterben. Und ihren Todeswunsch hat sie mit großem Pathos verkündet.
0. Wenn man als Anarchisten jemanden versteht, der davon überzeugt ist, dass es den Menschen möglich ist, ihr Zusammenleben so zu organisieren, dass Herrschaft in jeglicher Form verzichtbar ist, dann war Grabbe ganz sicher keiner. Auch gibt es in allem, was schriftlich von ihm überliefert ist, keinen einzigen Hinweis darauf, dass er sich jemals zustimmend zum Ideal der Herrschaftslosigkeit geäußert hätte. Wenn Grabbe m.E. dennoch zum Kontext des Themas Anarchismus im Vormärz gehört, so hat das andere Gründe.
1. Negativer Anarchismus
Das Programm, mit dem sich der noch ganz junge, 1801 geborene literarische Debütant mit seiner Tragödie 'Herzog Theodor von Gothland' (entstanden zwischen 1819 und 1822) von dem das literarische Feld seiner Zeit bestimmenden klassisch-idealistischen Diskurs in radikalster Weise abgrenzen will, ist das eines Frontalangriffs auf alle ihm zugrunde liegenden Wertvorstellungen und Deutungsmuster. Die hehren Ideale des klassisch-humanistischen Projekts (das Wahre, Gute und Schöne als zugleich Mittel und Ziel der menschlichen Veredelung durch einen umfassenden Bildungsprozess) werden im Gothland ebenso rigoros als nicht mit der Wirklichkeit kompatibel zurückgewiesen wie die aufklärerische Grundannahme der Perfektibilität des Menschen und die christliche Überzeugung von einem guten Gott, der die Geschicke im Sinne der an ihn Glaubenden und ihm Vertrauenden lenkt. Nach Grabbe ist so gut wie in jeder Hinsicht das Gegenteil der Fall.
In Deutschland nahezu unbekannt, gehört der Schriftsteller Laurent Tailhade (1854-1919) zu den interessantesten Persönlichkeiten des literarischpolitischen Anarchismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er verfasste zahlreiche Gedichte und Essays, trat aber auch als Autor polemischer Zeitungsartikel und als aggressiver Redner hervor, sodass sich an seiner Person exemplarisch das Zusammenspiel von literarisch-ästhetischer und politisch-provokativer Praxis darstellen lässt.
Berühmt wurde Tailhade durch seinen zynischen Ausspruch "Qu’importent les victimes si le geste est beau!" anlässlich des Attentats von Auguste Vaillant auf die Französische Nationalversammlung im Dezember 1893: Gegenüber der "Schönheit" des terroristischen Aktes spielten humanitäre Erwägungen für Tailhade scheinbar keine Rolle. Nur wenige Monate später, im April 1894, wurde er selbst Opfer eines Anschlags in dem Pariser Restaurant Foyot, wobei er ein Auge einbüßte, sich aber dennoch - dies ist neben der 'Ironie des Schicksals' der eigentlich entscheidende Aspekt - weiterhin für anarchistische Ideen einsetzte. Im Folgenden soll versucht werden aufzuzeigen, wie sich die zur viel zitierten ästhetizistischen Provokationsformel geronnene Aussage Tailhades in dessen literarisch-intellektueller Entwicklung und im künstlerischen und politischen Kontext des 19. Jahrhunderts verorten lässt.
Die "erste anarchistische Sammlung in deutscher Sprache" hat der vielleicht bedeutendste Historiker des Anarchismus, Max Nettlau, die von Ludwig Buhl 1844 herausgegebene 'Berliner Monatsschrift' genannt und im gleichen Atemzuge Edgar Bauers ein Jahr zuvor entstandenes, dann beschlagnahmtes und 1844 neugedrucktes Buch 'Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat' als anarchistische Schrift gewürdigt. Beide Texte entstammen dem lockeren Kreis der Berliner 'Freien', der aus dem Doktorklub der 1830er Jahre hervorgegangen ist und zu dem neben Edgar Bauer und Ludwig Buhl etwa Max Stirner, Arnold Ruge, Moses Hess oder Eduard Meyen gehörten und in dem Edgars Bruder Bruno die führende Rolle spielte.
Im Folgenden möchte ich den anarchistischen Motiven in den beiden von Nettlau genannten Texten nachgehen. Das bedeutet: Ich beschränke mich auf diese beiden Quellen und wage gar nicht erst den Versuch, anarchistischen Gedankengängen in anderen Schriften der Gruppe nachzuspüren oder gar eine Geschichte der Kritik im Bauer'schen Freundeskreis zu schreiben. Indem ich von einem Kreis spreche, halte ich die Abgrenzung bewusst offen und lasse die bekannten terminologischen und historischen Unterscheidungen zwischen Links- und Rechts-, Jung- und Althegelianern dahingestellt sein.
Staatsgründung als pädagogische Herausforderung : die Politisierung des Pädagogischen im Vormärz
(2017)
Im Jahr der deutschen Revolution 1848 schrieb der politische Journalist und Paulskirchenabgeordnete Arnold Ruge:
Die freie Staatsform braucht freie Menschen und erst die freie Staatsform bringt mit Sicherheit freie Menschen hervor. Ja, so ist es, dieser Zirkel ist vorhanden.
In diesem Zitat äußert Ruge ein von ihm wahrgenommenes Kernproblem der Situation während des Vormärz und der Revolution: Die Einführung der auf einem souveränen Volk basierenden demokratischen Staatsform, ohne dass das Volk zur politischen Selbstbestimmung in der Lage sei. Ruge verstand den politischen Systemwechsel als Aufgabe eines jeden Menschen, der das 'monarchische Prinzip' selbst überwinden müsse, um die Demokratie zu schaffen. Dazu bedürfe er jedoch der pädagogischen Unterstützung. Ebenso projektierte Ruge im Jahr 1849 einen sozialdemokratischen Staat der Zukunft, in dem die demokratische Erziehung der Jugend eine staatserhaltende Funktion hat. Ruge machte damit sowohl die Schaffung als auch die Erhaltung des projektierten demokratischen Staates zu Aufgaben des Individuums, die der pädagogischen Förderung bedürfen. Im vorliegenden Beitrag sollen beide politischen Funktionen des Pädagogischen dargestellt werden: die schaffende sowie die erhaltende Funktion.
Die Freiheit der Welt ist solidarisch. Wo man für oder gegen sie kämpft, kämpft man für oder gegen die Freiheit der ganzen Welt.
G. H. 'Nachgelassene Aphorismen und Reflexionen'
Die auf insgesamt sechs Bände angelegte kritische und kommentierte Herwegh-Ausgabe umfasst in ihren drei Werkabteilungen jeweils zwei Bände Lyrik, Prosa bzw. publizistische Beiträge und Briefe. In allen Bänden sind die Texte bzw. Briefe chronologisch angeordnet, wobei der jeweils erste Band mit dem Jahr 1848 endet und der zweite von 1849 bis 1875, Herweghs Todesjahr, reicht. Diese Bandeinteilung ist, so die Herausgeberin, "sowohl aus dem Charakter als auch dem Umfang der Überlieferung" geschuldet, zudem spiegelt sich in ihr die in der Vormärzforschung viel diskutierte Frage der literaturgeschichtlichen Relevanz der gescheiterten Revolution von 1848/49. Nach der Briefabteilung liegt nun mit dem zweiten Gedichtband auch die Lyrikabteilung der Ausgabe vollständig vor. Georg Herwegh veröffentlichte 1841/43 mit den "Gedichte[n] eines Lebendigen" eine Sammlung politischer Gedichte, die in Preußen und den übrigen Staaten des deutschen Bundes sofort verboten wurde. Da sie aber in Fröbels Literarischen Comptoir in Winterthur zensurfrei gedruckt werden konnte, fand sie dennoch eine ungeheure Verbreitung. In anderthalb Jahren brachte sie es auf sieben Auflagen mit über 19.000 Exemplaren und machte den Autor umgehend zum gefeierten Dichter. Trotz dieses überwältigenden Erfolgs hat Herwegh selbst zu Lebzeiten keinen zweiten Gedichtband veröffentlicht, stattdessen beschränkte er sich darauf, seine nachfolgenden Gedichte ausschließlich in unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften zu publizieren.
Der vorliegende Band enthält sämtliche von Herwegh selbst publizierten Gedichte aus der Zeit von 1849 bis 1875 sowie alle Gedichte aus dem Nachlass, angefangen mit seinen Jugendgedichten aus den 30er Jahren bis zu politischen Warnungen vor zunehmendem Chauvinismus und verstärkter Militarisierung Deutschlands der frühen 70er Jahre.
Saint-Simon sprach von der Organisation der Gesellschaft nach Maßgabe der Fähigkeiten ihrer Teilnehmer. Die Leitidee des "Chacun selon ses capacités" verspricht nicht Gleichförmigkeit, sondern Konstanz der Organisationsstruktur. Feudales Erbe und der vorherbestimmte Platz in der Welt sollten ersetzt werden durch komplementäre Kompetenzausübung. Gleichwohl orientierte sich die Freiheitshoffnung, die in der gerechten Ordnungsstruktur lag, wieder vertikal - das Ende der Netzmetapher, des Gewebes der Gleichheit. Die Autorin von Heinrich Heine und der Saint-Simonismus (1830-1835), Nina Bodenheimer, betont zu Recht, dass dieser Aspekt von großer Wichtigkeit ist. Sie geht mit der vergleichend angelegten Studie über das hinaus, was in im weiten Sinne kulturwissenschaftlichen Arbeiten gemeinhin geleistet wird. Die Kapiteleinteilung lautet: Heine und der Globe / Saint-Simonismus und Idealismus / Die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Damit erfolgt die Präsentation vermittelt durch die Darstellung symbolischer Medien. Die saint-simonistische Zeitschrift zeigt Heine als Akteur im Literaturmarkt, nicht als ferne Dichterfigur zwischen den Sprechweisen von Ironie und Prophetie. Bodenheimers Studie betont die nachweisbaren Daten.
Die Bezeichnung 'Unglaubensgenosse' geht auf Heinrich Heine zurück; sie bildet den plastischen Ausdruck für eine Tendenz in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, der die Autorin in ihrer Erfurter Dissertation nachspürt. Sie tut das nicht, indem sie etwa die behandelten Texte in das Säkularisierungsparadigma einzuordnen und damit die Säkularisierungsthese wiederzubeleben versuchte, die mit der Wiederkehr der Religion in den letzten Jahrzehnten als "Großtheorie der Moderne" abgedankt hat. Fritz verwendet statt dessen den von Charles Taylor und Hans Joas geprägten, wesentlich bescheideneren Terminus säkulare Option und meint damit die ab etwa 1800 "innerhalb vielschichtiger poetologischer Netze erzählbar" werdende "Möglichkeit, nicht zu glauben": 'Wir Unglaubensgenossen' möchte damit einerseits einen Beitrag zur Untersuchung säkularer Tendenzen und andererseits textueller Verfahren und narrativer Strukturen in diesem thematologischen Umfeld leisten. Ihr Ziel hat die Untersuchung erreicht, wenn sie die kontingente Genese der säkularen Option als literarisches Thema sichtbar macht, das in Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen steht; und wenn sich spezifische Textverfahren und poetologische Charakteristika des 'Unglaubens' herausarbeiten lassen, die die poetologische Dimension der literarischen Fassung der säkularen Option ausmachen. Dabei folgt sie recht unkritisch Joas' These von den drei Säkularisierungsschüben (1791-1803 vor allem in Frankreich; 1848-1880 in Deutschland; 1969-1973 in Westeuropa) und beschränkt sich bei der Auswahl ihrer Texte und Autoren auf die ersten beiden Phasen.
Romantik als Gegenbewegung zur vernunftfixierten, fortschrittverheißenden Aufklärung wird allzu oft klischeehaft reduziert auf gedankenverlorene Gefühlsduselei, schwärmerische Realitätsflucht und idealisierende Mittelalterverehrung. Wie die Romantik wird auch die Rheinromantik in dieser verzerrten Form heute als Topos des Tourismusmarketing missbraucht und derart im kollektiven Gedächtnis markiert. Dabei hat nicht zuletzt Rüdiger Safranskis populäre Romantikmonographie unmissverständlich hervorgehoben, dass Romantik auch als politische Emanzipationsbewegung, als Ergänzung des nüchternen Rationalismus und als Erweiterung des Wirklichen um das Geheimnisvolle verstanden werden muss.
Dieser ursprünglichen Vieldeutigkeit des Romantischen ist auch Ulrich Meyer-Doerpinghaus mit seinem Band "Am Zauberfluss" verpflichtet. Die "Szenen aus der rheinischen Romantik" wollen das idyllisierende Klischee der efeubewachsenen Gemäuer, der weinseligen Geselligkeit und der Wehmut widerlegen.
Ein Handbuch soll grundlegende, fundierte und leicht auffindbare Orientierung und Informationen zum Thema bieten. Diesem Anspruch wird das in überzeugender Systematik entwickelte und gegliederte Marx-Handbuch zweifellos gerecht. Unter der Leitung der beiden Herausgeber setzt sich ein größerer Kreis von Autorinnen und Autoren mit dem Wirken von Karl Marx auseinander. Nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation sehen sie alle die Chance für "eine unbefangenere Annäherung an dieses Werk" (S. V).
Die einzelnen, sehr unterschiedlich komplexen Abschnitte des Buches sind jeweils an ihrem Schluss namentlich gekennzeichnet und mit Literaturhinweisen versehen. Im Mittelpunkt des Buches steht erklärtermaßen das philosophische Programm von Karl Marx, da es als der Kern seines Werkes angesehen wird. Entsprechend dominieren - bei allem interdisziplinären Anspruch - die Philosophischen Fakultäten zahlreicher Universitäten des In- und Auslands als Ankerpunkte der Autorinnen und Autoren, wobei der unverkennbare Schwerpunkt im westfälischen Münster liegt