Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte. 5. Jahrgang [Heft] 2
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Mit dem Stichwort "Materialanalyse" tritt ins Blickfeld, was Walter Benjamin als ein "zentrales Problem des historischen Materialismus" bezeichnet hat: "auf welchem Wege es möglich ist, gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden". Die Frage betrifft die Beziehungen von Philologie, geschichtlicher Erfahrung und materialistischer Dialektik im Zusammenhang einer Geschichtsschreibung, der es nicht, wie der konservativen Hermeneutik, um das "Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" geht, sondern darum, das "Kontinuum der Geschichte aufzusprengen. Dass die marxistische Methode auf jene 'Beschaulichkeit' verzichten muss, die 'für' Benjamin das Verfahren des Historismus kennzeichnet, gründet in der von Friedrich Engels ausgegebenen Maxime, wonach die dialektische Darstellung den "Schein einer selbständigen Geschichte [...] der ideologischen Vorstellungen " aufzulösen habe, indem sie den "vom Denken unabhängigen Ursprung" zu ihrem Ausgangspunkt macht. Für Benjamin ist ihr Prinzip kein 'episches', sondern das der Montage. Sie ermöglicht, "die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten", um "durch Analyse des kleinen Einzelmoments" den "Kristall des Totalgeschehens" sichtbar werden zu lassen. Das Verfahren, das auch im apokryphen Materialgesellschaftliche Einsichten zu gewinnen sucht, verlangt nach einer aktiven Lektüre, die weniger 'auslegt' als 'übersetzt' und also den Text nicht unverändert lässt. Die Materialanalyse geht nicht aus von einem abstrakten Allgemeinbegriff, unter dem die Einzeldinge zum 'Spezialfall' herabsinken. Sie verlangt vielmehr, wie Theodor W. Adorno von der Dialektik fordert, die "Einlösung des Anspruchs der besonderen spezifischen Erkenntnis auf ihre Allgemeinheit". Ihren Namen, der in Studienprojekten des Argument-Verlags Ende der 1970er Jahre programmatisch wird, rechtfertigt die Materialanalyse da, wo das geschichtliche Material und eine am Begriff des Gegenstands selbst gebildete Reflexion sich zusammenschließen. Gefordert ist daher eine philosophische Arbeit, wie sie in marxistischer Tradition vor allem von Walter Benjamin und Antonio Gramsci ins Werk gesetzt worden ist. Die Materialanalyse setzt kein 'System' oder einen 'Entwurf' voraus, sondern schöpft aus der Kritik und dem Kommentar von Texten, prototypisch durchgeführt in der marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Sie verlangt eine Kunst des Zitierens, wie sie sich im 'Passagen-Werk' von Benjamin ähnlich wie in den 'Gefängnisheften' Gramscis vorgebildet findet. Ihre Verfasser "haben vorgemacht, wie aus Zitaten ein Text aufgebaut werden kann, der den Ursprungstexten nie in den Sinn gekommen wäre". Das Feststellen der "Einzeltatsachen in ihrer unverwechselbaren 'Individualität'" gilt dabei als eine unhintergehbare Voraussetzung 'für die Schaffung einer' "lebendigen Philologie", die ihr Material analytisch zu durchdringen versteht.
Die stetig wachsende Menge an digital verfügbarem, zeitgenössischem wie historischem Textmaterial bietet für die begriffsgeschichtliche Forschung Chancen und Herausforderungen: Während die fortschreitende Digitalisierung die Verfügbarkeit erforschbaren Materials deutlich erhöht, resultiert aus der verbesserten Auffindbarkeit potentieller Quellen eine schwindende Übersicht dessen, was für begriffsgeschichtliche Studien überhaupt in Betracht zu ziehen ist. Am Beispiel der Begriffe Netz, Netzwerk und Vernetzung erproben wir quantitative, semi-automatische Ansätze für eine digitale Begriffsgeschichte. Dafür identifizieren wir zunächst die Beschränkungen des Tools Google Ngrams, das weder für die Analyse von Wortbedeutungen noch für die Bestimmung der Kontexte von Wortverwendungen geeignet ist. Demgegenüber erörtern wir die Vorzüge einer hier erstmals im Kontext begriffsgeschichtlicher Forschung vorgestellten Methode der vorwissensfreien Bedeutungsinduktion, die semantische Aspekte gesuchter Begriffsworte automatisch ermittelt, deren typische und untypische Verwendungskontexte aggregiert, Wortfelder kartiert und durch einen geeigneten Index die Möglichkeit bietet, Belegstellen zu betrachten sowie die Veränderung von Wortbedeutungen im Laufe eines gegebenen Zeitraums zu analysieren. Mittels dieser interaktiven, semi-automatischen Methode lässt sich für den deutschen Sprachraum nachweisen, dass sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Problemdiskurs über Netzwerke entwickelt, mit dem sich ein Wandel der Semantik des Begriffswortes erklären lässt. Mit dem vorgestellten Verfahren lässt sich auch die Bedeutung komplexer metaphorischer Prozesse für den zu erklärenden Begriffswandel erschließen.
'Die Zukunft kommt von selbst - der Fortschritt nur mit uns' war das Motto eines SPD-Parteitages im Jahr 1988 in Münster. Dieses Motto verrät nicht nur etwas darüber, wie der Begriff des Fortschritts interpretiert wurde (dass Fortschritt nämlich im Unterschied zur Zukunft nicht automatisch eintritt, sondern politisch 'gemacht' werden muss und dass er, im Gegensatz zur unbestimmten Zukunft, kommen 'soll'), sondern zeigt vor allem, dass gerade dieser Begriff und der mit ihm verbundene politische Gestaltungsanspruch als wesentliches Distinktionsmerkmal zum politischen Gegner herausgestellt wurde. Die Beschlüsse, die 2016 auf dem Parteikonvent der SPD gefasst wurden, standen unter dem Motto 'Fortschritt und Gerechtigkeit'. Dieses Begriffspaar, so erklärte der Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel, sei die "Seele der Partei". Die Selbstbeschreibung als Partei des Fortschritts vereinfacht aber die Sache. Wie gezeigt werden soll, hat die Rede über Fortschritt in der Sozialdemokratie eine wechselvolle und ambivalente Geschichte, angesichts derer der heutige, recht ungebrochene Bezug auf das Schlagwort Fortschritt doch ein wenig überrascht. Der Geschichte des Fortschrittsbegriffs in der deutschen Sozialdemokratie soll im Folgenden in einigen wichtigen Momenten durch eine Untersuchung der Programmtexte nachgegangen werden. Dazu wurde auch auf die Methoden der digitalen Korpusanalyse zurückgegriffen. Der Schwerpunkt liegt in diesem Beitrag auf der Herausbildung und der Erosion der 'klassischen' Prägung des Fortschrittsbegriffs in der SPD in der Bundesrepublik. Er wurde nach der Neuausrichtung der SPD beim Parteitag in Bad Godesberg 1959 in besonderer Weise mit benachbarten Kategorien gekoppelt und hat so die grundlegende politische Zielsetzung und das Selbstbild der Partei nachhaltig geprägt.