100 Philosophie und Psychologie
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In this paper, I will address the issue of translation as a critique of autochthony that emerges in the context of Fritz Mauthner's linguistic scepticism. Translation, for Mauthner, becomes a privileged prism through which to consider identity and belonging, as well as a way of understanding uprootedness, since language is a continuous product of borrowing, bastardization, stratification, and contingency. According to Mauthner, languages are not possession, but borrowing; not purity, but contagion; not an abstract crystallization, but transit. Therefore, love of the mother tongue - the only way to conceive patriotism - is not a physical connection with the land, roots, or nation, but a refuge, an always precarious 'Heimat' (home).
This chapter identifies two contrasting methodological reductions utilized in philosophical scepticism: withdrawal/doubt [R–]; immersion/attention [R+]. Moving toward a feminist ethics grounded in phenomenological scepticism, Aumiller explores how reduction relates to experiences of personal and global uncertainty such as a pandemic. Reduction involves our entire embodied being, challenging how we are fundamentally in touch with the world. How we respond to being disrupted makes all the difference.
Souvenir und Andenken
(2006)
Souvenir und Andenken sind [...] Mediatoren einer Umwegerinnerung: und dies, weil sie "mit dem ursprünglichen Sinneseindruck" metonymisch, d.h. als Fragment zusammenhängen. Charakteristisch für Souvenir und Andenken ist, dass sie, als Reststücke einer Person, eines Ortes, einer Situation, eines Erlebnisses, ein Versprechen enthalten, nämlich eine bislang im Rest-Fragment nur angedeutete Geschichte ganz zu erzählen, wiederzubeleben, wiederzuinszenieren. Dass dieses Versprechen nur sehr schwer und selten eingelöst werden kann, ist der Zwischenzeit geschuldet.
Daniel Weidner untersucht die (als 'absolut' begriffene) Metapher der Welt im Werk Hans Blumenbergs und wirft in enger Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Tradition die Frage auf, ob 'Welt' im Plural überhaupt noch eine Ganzheit meinen könne. Der philosophische Zugriff auf die 'Welt' oder auf 'Welten' - ähnliches gelte mit Blick auf Blumenberg vornehmlich für den 'Horizont' - gestalte sich insofern als schwierig, als sie auf Gegenstandsebene immer implikativ bleiben müsse. Diesem Problem begegne Blumenberg mit der Ausgestaltung vierer historischer Wirklichkeitsbegriffe, die die 'Welt' in einer "Spannung von Evidenz und Mitpräsenz, von Intention und Erfüllung" situierten, und zwar als Anschauung (in der Antike), als Offenbarungsmitteilung (im Mittelalter), als sukzessive sich entfaltende "Verläßlichkeit" (in der Neuzeit) oder als Widerstand. Letzteres scheint vornehmlich für die Moderne zu gelten, der Welt und Wirklichkeit oft als ein "ganz und gar Unverfügbares" erschienen. Anschließend beleuchtet Weidner die unterschiedlichen Vorstellungen von Kunst, die Blumenberg diesen Modellen von Welt und Wirklichkeit attribuiert. Die von Blumenberg dem Roman als "formale Totalstruktur" zugeschriebene "Welthaltigkeit" entspreche dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit. Durchaus also würden Wirklichkeit oder Welt Blumenberg zufolge in der Kunst tentativ erfahrbar; dies jedoch gerade nicht im Sinn der einen Totalität des vollkommenen Kunstwerks, wie es die idealistische Ästhetik in der Regel suggerierte.
Astrid Deuber-Mankowsky wirft einen Blick auf Alfred N. Whitehead und sein 1929 erschienenes Hauptwerk "Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie". Zur Ausformulierung seines denkbar umfassenden Ziels einer "vollständigen" Kosmologie rekurriere Whitehead auf eine "systematische Philosophie des Prozesses". Whitehead sei davon überzeugt, dass die philosophische Erkenntnis sich den Ergebnissen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie zu stellen habe und zugleich versuchen müsse, sich gegen deren Absolutheitsansprüche zu behaupten. Während die Quantentheorie gezeigt habe, dass sich kleinste Teilchen diskontinuierlich zueinander verhalten, beharre Whitehead auf der Möglichkeit, ein Ganzes zu denken und am "Prinzip der Kontinuität" energisch festzuhalten. Sein Bemühen ziele darauf ab, das berühmte, auch von Leibniz systematisch aufgegriffene Diktum "natura non facit saltus" wieder in sein Recht zu setzen. Die Spannung zwischen Kontinuität und Atomizität begreife Whitehead konsequent als "Komplementarität", ein entscheidendes Relais hierfür stelle seine Entdeckung der "realen Potentialität" dar. Anders als man vielleicht zunächst annehmen könnte, steht Whiteheads Interesse an Leibniz damit nicht in fundamentalem Widerspruch zu dem Latours, umso weniger als eine Zäsur zwischen Natur und Sozialem oder eine Einschränkung von Subjektivität auf den Menschen schon für Whitehead keine Verbindlichkeit mehr besaß.
Siarhei Biareishyk beschäftigt sich mit Spielarten der Kritik an der platonischen Ideenlehre, die er von der epikureischen Tradition über Spinoza bis hin zu Deleuze verfolgt. Diese habe ein Denken von prozessualer und "modaler Ganzheit" ("modal whole") herausgebildet, das gerade auf die Instabilität und die Endlichkeit des Ganzen abhebe. Damit arbeite sie der Vorstellung sowohl einer möglichen Pluralität von Ganzheiten als auch der einer inneren Heterogenität jedes einzelnen Ganzen bis heute überzeugend zu. Im Gegensatz zu einem von vornherein als übersummativ konzipierten Ganzen entfalte diese Tradition Formen des Ganzen, die dynamisch sind und sich prozesshaft konstituieren. Biareishyk versteht das als Chance, Diversität und Disparatheit philosophisch fundieren zu können, ohne die Hoffnung auf Ganzheit(en) preisgeben zu müssen. Lukrez und Spinoza attestiert er auf diese Art und Weise philosophisch wie politisch ein ganz ähnliches Potential wie das, das Latour oder Cuntz in der Leibniz'schen Monadologie sehen.
Michael Cuntz greift die Leibniz'sche Monadologie in systematischer Absicht auf. Zwar gehe es auch der Monadologie zunächst um die Organisation der Relationen zwischen Teilen und Ganzem. Allerdings trage Leibniz als "Denker des Fluiden" in diese Organisation keineswegs die heute selbstverständlich anmutenden Implikationen und Hierarchien ein. Moderne Dualismen und Binarismen, etwa der zwischen Natur und Kultur, besäßen für Leibniz noch keine Gültigkeit. Die Monaden selbst seien zudem als geschlossen und offen zugleich konzipiert. Jede Monade enthalte die Welt und alle anderen Monaden. Nicht die stabile Differenz, sondern die 'Faltung', die 'Korrespondenz' und die 'Ähnlichkeit' regelten in der Monadologie die Beziehungen. "Untrennbar und doch unabhängig von einander oder verschieden - diese vermeintlich paradoxe, komplexe Struktur der Relation" betrachtet Cuntz als deren aktuelle Provokation, über die man sich durch die für Leibniz maßgebliche Überzeugung einer 'Weltharmonie' nicht hinwegtäuschen lassen sollte. Die Monadologie könne nämlich einen bedeutenden Beitrag zur Verstärkung von Diversität wie zur Überwindung des Anthropozentrismus leisten. Hierfür sei jedoch der direkte Rückgriff auf Leibniz selbst vonnöten. Moderne Anverwandlungen seiner Philosophie etwa bei Gabriel Tarde oder Gilles Deleuze hätten die originäre Sprengkraft der Monadenlehre mitunter missverstanden, simplifiziert oder entschärft, dies gelte auch und gerade für Tardes Umstellung von der 'Harmonie' auf den 'Agon'.
Insel und Archipel
(2022)
Das theoretische Denken bedient sich bekanntlich häufig räumlicher Metaphern, wie etwa Reinhart Koselleck mit Bezug auf die Repräsentation von Zeitverhältnissen zu betonen pflegte. Darüber hinaus reicht ein Denkmodus, den der italienische Philosoph Massimo Cacciari einmal als "Geo-Philosophie" bezeichnet hat. Dieser Modus setzt dort ein, wo die Eigenarten und Kontingenzen der Gestalt der Erdoberfläche nicht mehr allein als metaphorische Sinnressourcen willkürlich genutzt werden, sondern selbst über Form und Richtung des Gedankens Gewalt gewinnen. Obwohl nicht der Erfinder eines solchen Denkens, ist Carl Schmitt doch sein bekanntester Vertreter, und er ist auch derjenige, der in der Dichotomie von Land und Meer die nachhaltigste Ressource erschlossen hat, vermittels derer man mit der Planetenoberfläche philosophieren kann. [...] Der Insel kommt in dieser Konstellation ein besonderer Status zu. Sie ist das nicht mit den Landmassen zusammenhängende Gebiet, dessen Daseinsbedingung das Meer ist. [...] Festzuhalten ist, dass die Geo-Philosophie, insofern es ihr um Figuren der Ordnung geht, früher oder später stets auf normative Sprache zurückgreift. Archipele sind immer schon normative Räume, in denen es um unübersichtliche, voneinander getrennte und doch aufeinander bezogene Normen und Werte geht. Die wechselseitige Bezogenheit, das Mitsein, stiftet die Einheit des Archipels als spezifischer 'Form des Ganzen'. Diese Form dient nicht allein dazu, jeweils ein spezifisches Gefüge von Normen und Werten abzubilden, sondern erlaubt auch eine philosophische Untersuchung der Natur solcher Gefüge.
Totalität
(2022)
Aus dem weiten Bedeutungshorizont des philosophischen Terminus soll im Folgenden 'Totalität' vor allem als Begriff in einer bestimmten neuzeitlichen Theorietradition thematisiert werden, in der er besonders prominent ist, und zwar in der zunächst im deutschen Idealismus verwendeten, dann vornehmlich im westlichen Marxismus prominent werdenden dialektischen Philosophie, wobei Gesellschaft zum paradigmatischen Gegenstand wird. Von Hölderlin über Hegel bis zu Lukács und Adorno lässt sich die Kategorie der Totalität wiederholt als eine dem Ideal des Kunstwerkes entlehnte erkennen. Beim jungen Hegel heißt es: "Jede Philosophie ist in sich vollendet und hat, wie ein echtes Kunstwerk, die Totalität in sich." Dennoch wäre es verfehlt, den philosophischen Gehalt von 'Totalität' allein als eine Übertragung von der Kunst auf die Gesellschaft anzusehen. [...] Bei dem hier interessierenden Begriff der Totalität geht es um die vermittelt gedachte, nicht um die unmittelbar geschaute oder gefühlte Einheit der Welt. Auf andere, seltenere Verwendungen, etwa Alexander von Humboldts eher in der Anschauung gegründeten, panoramatisch auf die "Totalität der Naturanschauung" gerichteten Gebrauch, wird hier nicht näher eingegangen. Hegels berühmtes Diktum: "Das Wahre ist das Ganze" jedoch gehört ganz wesentlich zu dieser Theorietradition, auch wenn er das Wort Totalität an dieser Stelle selbst nicht verwendet. Die Bestimmung: "Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen" ist die wesentliche Denkfigur, die auch Hegel selbst später mit dem Terminus Totalität gefasst hat. Die Debatten um den Begriff sind seit den 1920er Jahren, worauf am Ende einzugehen sein wird, zugleich hochpolitisch, was die morphologische und semantische Nähe von 'Totalität' als philosophischer Kategorie und 'Totalitarismus' als politischem Schlagwort zeigt.
Aggregat
(2022)
Aggregate, die sich von realen Einheiten durch ihre Zusammengesetztheit unterscheiden, können Leibniz zufolge auf die verschiedensten Weisen zu einer zufälligen Einheit zusammengesetzt sein: durch räumlichen Kontakt (wie beim gefrorenen Teich), durch gemeinsame Bewegung (wie bei der zusammengebundenen Herde) oder durch einen einheitlichen Zweck (wie bei der niederländischen Ostindien-Kompanie). Nach Leibniz entsteht die zufällige Einheit eines Aggregats erst durch eine synthetische Operation des Geistes, durch die eine Menge von Dingen als Teile eines Ganzen betrachtet wird. Dies bedeutet aber nicht, dass Aggregate nur Erscheinungen sind. Sie sind vielmehr Körper, deren Wirklichkeit in den realen Einheiten besteht, aus denen sie zusammengesetzt sind. Es bedeutet auch nicht, dass Leibniz seinen Aggregatbegriff dem des Organismus entgegensetzt. Wenn ein Aggregat organisiert ist, hat seine Organisation entweder einen äußeren Grund (wie bei der Uhr) oder einen inneren Grund (wie beim Pferd). Die letztere, organische Variante heißt 'Lebewesen' und unterscheidet sich von einem bloßen mechanischen Aggregat dadurch, dass die Verhältnisse seiner Teile zueinander einer einzelnen Entelechie oder Seele untergeordnet werden. [...] Im Anschluss an Kant etablierte sich die Unterscheidung von System und Aggregat als zwei einander entgegengesetzten Formen des Ganzen. Ein System besteht demnach in der notwendigen Verknüpfung von Gliedern, die innerlich (nach einem Prinzip) in einem bestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Ein Aggregat ist dagegen das bloß zufällige Resultat eines sukzessiven Zusammensetzens von Teilen, die äußerlich (durch räumliche Verhältnisse) in einem unbestimmten Ganzen miteinander zusammenhängen. Im Unterschied zur Leibniz'schen Prägung des Begriffs, der auch organisierte Körper einschloss, wurde das Aggregat jetzt dem Organismus entgegengesetzt, der systematisch gedacht werden müsse, auch wenn unser begrenzter menschlicher Verstand dieses System nie vollständig begreifen werde.
Einleitung
(2022)
Die politischen Krisen der Gegenwart (Klimawandel, Migration, Pandemie) verlangen nach globalen und ganzheitlichen Lösungen, während Ganzheit aufgrund der Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts zugleich eine in Verruf geratene Kategorie ist. Dieser Spannung haben sich die Geisteswissenschaften seit einigen Jahren verstärkt zu stellen versucht. Galt das Ganze v. a. der Idealismuskritik lange als suspekt, geht die Verabschiedung überkommener Totalitätsmodelle derzeit oft mit der Erprobung neuer Vorstellungen von Ganzheit einher.
Die Zuspitzung der Problemkonstellation Virtuosentum versus Kunst im
Vormärz läßt sich plausibilisieren an Balzacs Roman "Les Illusions perdues". Hier wird nämlich die kunstkritische Kontroverse um Virtuosentum und Künstlertum und gleichzeitig das produktionsästhetische, narratologische Problem Feuilletonismus und Kunst zusammen- und enggeführt.
Die binäre Opposition von Ideal und Karikatur ist bis in den Alltagswitz eine Erfahrung der Revolutionsepoche geworden. Karl Marx hat dieser Desillusionierung des revolutionären Heroismus, des plötzlichen Umschlags vom Erhabenen zum Lächerlichen und Häßlichen in seiner Schrift "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" die zusammenfassende, man ist fast geneigt zu sagen, klassische publizistische Form gegeben. Es scheint mir daher nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, der Opposition Ideal und Karikatur auch in den exotischen Gefilden der Ästhetiken nachzugehen.
Wie stark Stil durch die Rezipienten in ihren unterschiedlichen historisch-kulturellen Prägungen mitbestimmt wird, zeigt Gyburg Uhlmann in ihrem Beitrag zum Verhältnis von Stil und Elliptik. Um der rhetorischen Figur dynamischer Auslassung an der Schnittstelle von Rhetorik und Rezeption Rechnung zu tragen, erarbeitet sie, auch in Auseinandersetzung mit der reader-response-theory und Flecks Denkstil, das Konzept des Homologiestils. In ihm wird die Möglichkeit einer Übereinstimmung der Leser mit dem Text zu einem integrativen Bestandteil des Textes: Der Text ist angelegt, seinen Lesern die dynamische Verfasstheit seines Stils im Lektürevorgang nahezubringen. In Uhlmanns Analyse wird deutlich, dass und wie Stil mit jeder Lektüre neu entsteht. Sie entwickelt ihre Thesen vor allem mit Blick auf die Pragmatien, also die Schulschriften des Aristoteles, die für die Tradition einschließlich einiger der hier verhandelten Beiträge, maßgeblich sind. Zwischen den Polen eines qualitativen Mangels und einer stilistischen Tugend wird Elliptik bei Uhlmann zu einem Gradmesser der Literarizität eines Textes in der Interaktion mit Rezipienten.
Throughout his career, Stanley Cavell's subject has been the ordinary: what Ralph Waldo Emerson would call 'the near, the low, the common'. Cavell provides compelling insights into Emerson's efforts to locate philosophy within the flow of everyday life. He examines how Emerson renews common thinking, citations, and fragments from the works of others by means of his 'aversive thinking': his technique of turning writing back upon itself. While taking Cavell's Emerson readings as its point of departure, this essay switches Cavell's philosophical angle for a philological one. I suggest that Emerson's engagement with contemporary debates concerning the historical reading of sacred and secular literature (the Bible, Homer, Shakespeare) formed his own practice of reworking literatures of various origins and recasting aesthetics in major ways.
Dem bemerkenswerten wissenschafts- und ästhetikgeschichtlichen Interesse an Friedrich Theodor Vischers Werk in der Gegenwart lässt sich ein weiterer Akzent hinzufügen, wenn man Vischers repräsentative Rolle sowohl im Vormärz wie im Nachmärz rekonstruiert und dabei vor allem auf seine Selbstkorrekturen und Revisionen die Aufmerksamkeit lenkt. In wissenschaftshistorischen Studien der jüngsten Zeit gewinnt die 'Historische Epistemologie' an Kontur.
Sicherlich hat der Begriff Erbe gegenüber konkurrierenden Begriffen wie dem der Tradition als einer bis in die Lebensverhältnisse hinein fraglosen Beziehung zum Hergebrachten oder dem der Rezeption als einer allein szientifischen Form der Vergangenheitsaneignung einsehbare Vorteile. Er faßt mehr als ein nur wissenschaftsgeleitetes Vergangenheitsverhältnis. Er ist vorbegrifflich angesiedelt in Lebens- und Eigentumsverhältnissen und legt auch in seinem wissenschaftlichen Gebrauch diese, sein Vorverständnis prägende Nähe zu Formen und Regeln gesellschaftlichen Lebens nicht ab. Doch verkehren sich - unbedacht - Vorteile leicht in Nachteile. Es sollten daher die wissenschaftsmethodischen, -theoretischen und -geschichtlichen Verwendungen des Erbebegriffs ebenso überlegt werden, wie die vorbegrifflichen, teils metaphorischen Implikationen, die den Begriffsgebrauch mitbestimmen. Denn gerade letztere entfalten, aus dem wissenschaftlich kontrollierten Kontext entlassen, eigene politische und ideologische Wirkungen. Auf beides kann ich nur knapp eingehen. Wenn ich von wissenschaftlichen Implikationen des Erbebegriffs spreche, die kaum Beachtung finden, denke ich beispielsweise an das Verhältnis der Metapher 'kulturelles Erbe' zu ihrer juristischen Basissemantik; es hat eine wissenschaftsgeschichtliche Vorgeschichte. Wenn ich von außerwissenschaftlichem Vorverständnis spreche, denke ich an den alltagssprachlichen Wortgebrauch und die Alltagserfahrung.
Karikatur
(1976)
Im Folgenden ist also zu klären:
1. warum die Romantiker mit ihrer Entdeckung, dass die Idee der Poesie Prosa sei, eine poetische Forminnovation in zweierlei Hinsicht angestoßen haben, und zwar einmal im Bereich der schreibpraktisch relevanten Poetisierung der Prosa und Prosaisierung der Poesie und zweitens im Bereich der ,Wiederaufbereitung' vergangener Poesie.
2. warum der kritischen Darstellung des prosaischen Kerns im Werk als eines "ewig nüchternen Bestandes" ästhetische und religiös-mystische Implikationen zukommen.
3. warum die Entdeckung, dass die Idee der Poesie Prosa sei, diagnostischen und resistenten Wert für die eigene Gegenwart Benjamins hatte und daher seine Fortsetzungsarbeiten (d.h. der Wahlverwandtschaften-Essay und Dichtung und Wahrheit) nachhaltig prägte.
Als 1789 der gerade berühmt gewordene Philosoph Johann Gottlieb Fichte über den Sprachgebrauch "Empfindung" nachdachte, prägte er das treffende Wort "in - sich - Findung". Man hat einmal die Vermutung geäußert, diese "in sich Findung", diese "Reise ins Innere" sei als Pendant und "Äquivalent der Erschließung neuer Welten im Zeitalter der Entdeckungen" zu werten. In der Tat ist die Empfindungsfähigkeit, die "sensibilité", die von der Empfindsamkeit zu unterscheiden ist, keineswegs, wie man früher glaubte, erst eine Begleiterscheinung des sich emanzipierenden Bürgertums, sondern viel früher einsetzend ein Begleitphänomen der schon in der frühen Neuzeit einsetzenden Modernisierungsphänomene.
Säkularisierung und die Souveränität der Moderne. Ein Kommentar zur Agamben-Lektüre Jürgen Mohns
(2014)
According to Benjamin and Foucault, calling something into question is not just a precondition of critical practice but its very realisation. The effect of critique depends on how a question is asked. An inaccurately posed question supports what it aspired to criticise. Critical practice thus involves a critique of allegedly critical questions. In their critique of power and violence, Foucault and Benjamin expose the moment in which a critical question becomes uncritical and subsequently seek its critical transformation. In Foucault, this movement is identical with "desubjugation", and in Benjamin, with "revolution". A revolutionary resoluteness in raising critical questions, however, can turn out to be decisionistic and uncritical itself. In this paper I reconstruct the struggle for an accurate critical question in Benjamin and Foucault and address how the dialectical turn into uncritical action might be avoided.
In ihrem Beitrag stellt Sara Fortuna die Verschränkung von Sprachnot und Lebensnot mit den Thesen vom Ursprung der Menschheit bei Giambattista Vico dar und geht hierbei auch dem kulturellen, materiellen und lebenspraktischen Hintergrund des Philosophen nach, um ihre Überlegungen auf eine Subversion der patriarchalen Ordnung abendländischer Philosophie hin zuzuspitzen. Übergeordnete Bedeutung hat bei Vico die Sprachnot bzw. die Not auf der symbolischen Ebene, und der Beitrag zeigt im Detail, dass und wie sich Lebensnot (inopia) und Sprachnot in Vicos Philosophie verbinden. Von Spinoza grenzt sich Vico unter anderem ab, weil er dessen "monastische Philosophie" ablehnt und auch die entsprechende von Spinoza gewählte Lebensweise nicht teilt, aber auch aufgrund seiner Religionskritik. Dies betrifft ebenso den Conatus oder Conato (Impuls), den - so Fortuna - Vico in die Nähe des göttlich geleiteten freien Willens rückt. Der Beitrag verbindet Betrachtungen zur Philosophie der Sprache, des Bildes und der Einbildungskraft mit aktuellen kulturhistorisch-materialistischen Überlegungen im Anschluss an die Matriarchal Studies zu Vico und seinem frühneuzeitlichen Umfeld.
Sören Kierkegaards Konzept der Verzweiflung steht im Mittelpunkt von Christiane Voss' medienanthropologischen Überlegungen. Der Beitrag behandelt und verortet die Frage nach der Lebensnot, aber auch nach dem Leiden zwischen Existenzial- und Medienphilosophie. Soll Kierkegaards Verwurzelung in der Philosophie des 19. Jahrhunderts sowie in der christlichen Ethik auch keinesfalls ausgeblendet werden, so argumentiert Voss dennoch dafür, Kierkegaards Subjektivitäts- und Freiheitsverständnis zu aktualisieren und für die Technik- und Medienphilosophie produktiv zu machen. Eine besondere Rolle spielen für Voss die Imagination und Einbildungskraft, auf die sie im Sinne einer medienanthropologischen Haltung rekurrieren will, die weder in neue Anthropozentrismen verfällt, noch einem Posthumanismus folgt, der Fragen der Normativität und Freiheit unbeantwortet lässt. Auf Grundlage der Philosophie Kierkegaards entwickelt Voss eine medienanthropologische Ästhetik, die durch ein selbstreflexives Moment gegenwärtige Technikphilosophien und Ökologien ergänzen will.
Das Zentrum und den Ausgangspunkt von Katja Diefenbachs Beitrag "'Conatus' versus 'cogito'" bildet, wie der Untertitel anzeigt, "der Streit um Spinozas spekulativen Materialismus in der postmarxistischen Philosophie". Sie stellt die kritischen Positionen Badious und Žižeks vor und diskutiert die unterschiedlichen Anknüpfungen an Spinoza in der postmarxistischen Philosophie bei Negri und Agamben, macht aber zugleich deutlich, dass sich ihre eigene Auslegung der Philosophie von Spinoza und des Conatusprinzips an Deleuze orientiert. So geht sie mit Deleuze davon aus, dass Spinoza das Sein als unendliche Potentialitätsdifferenz begreift, in dem der Mensch nichts anderes ist als "Handelnd-Werden, Vermögend-Werden, Verursachend-Werden, das eine Reihe kritischer Wendepunkte umfasst." Sie betont, dass die Struktur des Conatusprinzips anarchisch und nichtvorschreibend ist und genau deswegen einen Primat der Politik begründe, in dem es nicht um den Sprung in die Freuden des Denkens gehe, sondern um die Ungarantiertheit dieses Sprungs.
Der Philosoph und Komparatist Peter Fenves befasst sich in seinem Aufsatz mit Benjamins Ideen zur Wissenschaftspopularisierung und seiner Auseinandersetzung mit der theoretischen Physik. Er widmet sich insbesondere Benjamins Verteidigung der in Misskredit stehenden Wissenschaftspopularisierung, die eine neue Bedeutung und Funktion erhalten soll. Die latenten Bezüge zwischen Philosophie und theoretischer Physik zeigt Fenves am Beispiel des in der Quantenphysik verwendeten Begriffs der "Verschränkung" auf, der das Pendant zu Benjamins Begriff der "Aura" darstellt und zur gleichen Zeit von Heidegger verwendet wird.
This essay restages Arendt's 'Auseinandersetzung' with Heidegger regarding 'political beginnings'. Sketching Heidegger's exceptionalist account of 'new beginnings' and Arendt's dispute with him in relation to the tension between the spheres of 'philosophy' and 'politics', I trace her position about 'political founding'. I claim that Arendt invites us to recognize the 'principle of an-archy' innate to 'political beginnings', which cannot be absorbed by exceptionalist invocations of the 'history of Being'.
The essay confronts the question of weathering by considering its excess to the conceptual dimension and relating it to what Jacques Derrida names (the) 'trace'. The study of the 'logic' of weathering/the trace is confronted with Giorgio Agamben's critique of Derrida's project. Their two different conceptions of language, of its presuppositional structure, and of its order of 'metaphysical presence' are considered, in particular by turning to Werner Hamacher's work on these and related matters.
Säkularisierung
(2014)
Blumenbergs Kritik an der Kategorie der Säkularisierung hat schon zu Lebzeiten große Aufmerksamkeit erfahren und wird bis heute mit seinem Namen verbunden. Sie betrifft verschiedene für Blumenbergs Werk zentrale Problemzusammenhänge: die Deutung der Neuzeit ebenso wie die Logik historischer Entwicklungen, die Erörterung rhetorischer Funktionen von Theorie ebenso wie die Selbstbehauptung gegen den theologischen Absolutismus. Im weiteren Sinn steht Blumenbergs Krititk der Säkularisierung dabei im Kontext der in der Forschung höchst kontrovers diskutierten Frage, welche Bedeutung seiner gleichermaßen konstanten wie kritischen Bezugnahme auf die religiöse Tradition und auf theologische Diskurse für sein Denken zukommt.
Ende
(2014)
Das Ende ist einer der Orte, an denen sich bei Blumenberg verschiedenen Argumente und Diskurse auf höchst spannungsreiche Weise verbinden und an denen sich daher zeigen lässt, dass sein Denken nicht in der einen oder anderen These aufgeht, sondern gerade auf die Verbindung abzielt. Wenn er etwa einmal seinen eigenen Ansatz als "Phänomenologie der Geschichte" charakterisiert, so zeigt die Frage nach dem - zugleich denknotwendigen und unzugänglichen - Ende der Geschichte, wie wenig selbstverständlich jene Zusammensetzung von Phänomenologie einerseits, Geschichte andererseits ist. Sie impliziert nicht nur, auch nach dem Ende der Geschichtsphilosophie über das Ganze der Geschichte nachzudenken, sondern emphatisiert auch die Erinnerung als die zentrale Fähigkeit, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen.
A paradigm for thinking about wholes, their constitution and re-production, has long been provided by living organisms. While the emphasis is often on the relation between parts and wholes - between the functionally differentiated organs and the organism, or, on a lower level, between cells and organs - Robert Meunier and Valentine Reynaud's essay 'The Innate Plasticity of Bodies and Minds: Integrating Models of Genetic Determination and Environmental Formation' poses the question of the whole in biology with respect to the organism and its environment. A developmental system involves not only what we conventionally discern as the organism, that is, initially, the fertilized egg and the cellular mass arising from it by cell division, but also the physical and biological surrounding of the developing embryo. In the sense that not every aspect of the environment plays a role, the organism as part of the system constitutes this whole by determining what has an effect on the process and what does not. On the other hand, by not only enabling development or providing material but instead shaping the process in specific ways, the whole of organism-environment interactions constitutes its part, i.e., the developing organism. If there are therefore different, potentially incommensurable constitutions of the whole developmental system, there are also different ways of identifying the relevant units of selection in evolution, such as the living organism as a whole or the genes as the units of replication. In their essay, Meunier and Reynaud argue for a view on development and evolution that integrates notions of environmental influence and genetic determination. The notion of plasticity that has recently gained currency in the life sciences seems to oppose genetic determination and innateness by underlining the importance of environmental influence. However, while morphological and cognitive development is indeed plastic and sensitive to the environment, the essay emphasizes that the mechanisms and elements enabling a system to respond to influences must be available for development to happen in the first place. These resources for development are not homogeneous 'stuff' that becomes formed by the environment through the course of development. Instead, they are highly structured and specific and thus enable specific responses to contextual conditions. Under varying conditions they will of course appear in different combinations and produce different outcomes. Thus, they enable plasticity. And yet, as they are specific mechanisms and elements, which mainly gain their specificity from the structure of the genetic material on which the environment can act, it appears appropriate to refer to them as innate.
A different take on knowledge, history, and totalization is presented in Jamila Mascat's essay 'Hegel and the Ad-venture of the Totality', which aims at exploring the controversial notion of the Hegelian totality. Countering Louis Althusser's critique of Hegel's 'expressive totality', where every part is thought to expresses the whole, it proposes to consider such a speculative figure as a temporalizing instance situated at the entanglement of Knowing and History. Firstly, it illustrates the paradoxical inclination of Hegel's totality to being both complete and a never-ending task. Secondly, it analyses the accomplishment of totality at the peak of the Science of Logic, focusing on the temporal circularity of the Concept ('Begriff'). Thirdly, drawing on the readings of Alexandre Koyré, Alexandre Kojève, and Jean Hyppolite, the essay illustrates the peculiar relation between becoming and eternity that is located at the heart of Hegel's conception of time. Finally, it approaches the last section of the "Phenomenology of Spirit" devoted to Absolute Knowing in order to highlight the twofold movement of seizure ('Begreifen') and release ('Entlassen') that characterizes the activity of the Spirit and that is constitutive of the contingent ad-venture of the totality as a philosophical achievement. In other words, it is by embracing contingency as its limit that Absolute Knowing reaffirms the status of its absoluteness precisely because of its capacity to sacrifice itself and let it go. Critically engaging with Catherine Malabou's reading of plasticity in Hegel, Mascat highlights that Absolute Knowing is a process of totalization that entails cuts and interruptions. The essay shows that the Hegelian totality may be interpreted and actualized as a theoretical construct densely charged with temporal and historical implications: on the one hand, totality expresses a timely standpoint for thought - the standpoint of Hegel's age, which is, as claimed by the philosopher at the end of his "Lectures on the History of Philosophy", 'for the time being completed', as well as the standpoint of the present time to be speculatively accomplished; on the other hand, Hegel's idea of a speculative totalization sets for the philosophies yet to come the never-ending task of constituting and re-constituting wholes.
Filippo Trentin's essay 'Warburg's Ghost: On Literary Atlases and the "Anatopic" Shift of a Cartographic Object' analyses the atlas as a method of assemblage in literary theory. It takes issue with the use of cartography advocated by proponents of a 'spatial turn' within literary studies, including Malcolm Bradbury's "Atlas of Literature", Franco Moretti's "Atlas of European Literature", and Sergio Luzzatto and Gabriele Pedullà's "Atlante della letteratura italiana". While these atlases claim to dismantle the normative canon of historicism and to offer a different way of gathering knowledge, Trentin argues that they often risk reproducing analogous positivistic, hierarchical, and colonizing assumptions. Showing a totalizing attitude embedded in modern atlases and in the 'cartographic reason' emerging from the sixteenth century onwards, the essay proposes a speculative and heuristic use of the term 'anatopy' that aims to capture the disorienting potentialities that are intrinsic to non-cartographic explorations of space. In particular, it interprets Aby Warburg's "Bilderatlas Mnemosyne" as an 'anatopic' object that keeps troubling any purely cartographic use of the atlas. In Trentin's reading, by theorizing an anti-foundational (and anti-identitarian) method of knowledge organization based on the morphological affect between disparate images and objects, Warburg's project leads to the profanation of the atlas as a topographical machine and, with its recurrences, intervals, and voids, destitutes its traditional apparatus of power. This disparate and anti-holistic aesthetic disposition challenges the solid foundations of the constructions of historicism and cartographic reason. It breaks up the technical explanation of cause and effect and substitutes it with a 'danced causality', which Trentin relates to Leo Bersani's idea of 'aesthetic subject' and the possibility of moving beyond an immobile and filial principle of identity formation towards a virtual and impersonal one that is located beyond the 'ego', as well as beyond the rigid borders of cartographic reason and the linearity of positivistic historicism.
Eirini Avramopoulou asks the following questions in her essay 'Claims of Existence between Biopolitics and Thanatopolitics': How is the desire for existence implicated in the experience of identity as wound? Under which conditions does the demand for desire appear to confront the repetition of trauma? Or else, what echoes in the last breath of someone dying? In Istanbul, a city built upon neoliberal structures of governance and cosmopolitan aesthetics, and defined by severe policing and local histories of ethnic and gender violence, these questions reflect upon a particular historical and political period through a personal story. The essay focuses on a transgender activist named Ali, his fight against transphobia, his illness and death, while reflecting on the 2013 public uprising in Istanbul following attempts by the Turkish government to demolish Gezi park. By exploring the notion of spectral survival as a political praxis, it argues that this notion, rather than acceding to claims over a fuller subjectivity, mobilizes an aporia of de-subjectivation. De-constituting the 'I' here attests to an attempt neither to reconfigure its parts nor to merely perceive life as dismantled, but rather to speak of a loss that no familiar language can yet describe. The spectrality of this 'I' troubles and repoliticizes, then, the very notion of haunting, as it lays claims to its own differing and deferral from the constitution of a proper name, or of a 'self'-acclaimed existence, especially when the fight for existence here is also a performative assertion of loss and death connected to processes of resisting sexist, neoliberal, heteronormative, and phallogocentric representations of possession and belonging.
Didier Debaise entwickelt ausgehend von der Philosophie von Alfred North Whitehead eine spekulative, nicht anthropozentrische Theorie des Subjektbegriffs. In der Tradition der Kritik an einem phänomenologisch gedachten Begriff des Subjekts stellt Debaise einen kosmologischen Begriff des Subjekts vor, der einer Bindung an Kategorien wie Intentionalität, Bewusstsein und Repräsentation vorgängig ist und der anstatt vom Bewusstsein von einem universalen Begriff des Empfindens ausgeht. Das Subjekt ist in diesem kosmologischen Ansatz nicht mehr der Ursprung der Empfindungen, sondern der Effekt eines Prozesses, es ist ein Subjekt, das als Superjekt sich selbst voraus ist.
Marie-Luise Angerer fragt in ihrem Beitrag "Die 'biomediale Schwelle'. Medientechnologien und Affekt" nach den Konsequenzen, die es hat, wenn die Medientechnologien sich nicht mehr als Objekt oder als Gegenüber zur Erscheinung bringen, sondern sich - wie im Fall der "fehlenden Zeitspanne", den sie von Helmholtz bis Brian Massumi nachvollzieht - in den Prozess selbst einschreiben, mit dem die Wahrnehmung wissenschaftlich beschrieben wird. Mit Canguilhem auf der einen und Haraway auf der anderen Seite lotet sie die neue Situation aus, die sie als post-biological condition beschreibt.
Liebe, Situation, Sprache
(2013)
Ali Benmakhlouf behandelt "Die Abenteuer des Kontextprinzips" bei Wittgenstein und Frege und zeigt in überzeugender Weise, dass auch und gerade die Logik nicht davon ausgeht, dass es ein nicht situiertes rationales Wissen geben könnte. Das Kontextprinzip ist als Prinzip der Objektivität erforderlich, um sicherzustellen, dass die beurteilbaren Inhalte auch kommunizierbar sind.
Unter dem Titel "Die Begrenzung der Wissensfelder bei Kant, Canguilhem und Foucault" fragt David-Ménard nach der Beziehung, die zwischen der Problematik der Grenzen des Wissens und dem In-Rechnung-Stellen der Illusionen besteht, von denen sich das Wissen - folgt man der Richtung der kritischen Philosophie Kants - abzugrenzen hat.
Vom Vitalen zum Sozialen : Überlegungen zu einem politischen Wissen im Anschluss an Canguilhem
(2013)
Muhle geht von der Frage nach dem Verhältnis des Begriffs des Lebens und der sozialen Normen aus, das Canguilhem als eines der Mimesis des Vitalen durch das Soziale beschreibt und führt daran anschließend ihre Annahme aus, nach der Foucault aus dieser Verhältnisbestimmung von Vitalem und Sozialem einen entscheidenden Impuls für die Ausformulierung seiner Biopolitik gewonnen habe.
Christoph F. E. Holzhey beschäftigt sich in seinem Aufsatz "Kippbilder des Vitalen" mit dem Verhältnis von Wissen und Leben bei Canguilhem und Haraway. Im Begriff des Kippbildes stellt er Canguilhems Beschreibung des Lebens als einer "dialektischen Essenz" den Vorschlag gegenüber, das diskursiv konstituierte Leben als etwas zu denken, das ohne Vermittlung zwischen verschiedenen Aspekten oszilliert und seine Einheit allein im Phänomen oder im Namen Leben findet.
Astrid Deuber-Mankowsky untersucht den Begriff des Lebens, der in Canguilhems Epistemologie der Biologie und seinem Verständnis der Technik sowie in Haraways Schriften zu den technisch geprägten Biowissenschaften vorausgesetzt wird, und findet die Verbindung zum Politischen in der Spannung zwischen Anthropomorphismus und Anthropozentrismuskritik.
Von Canguilhem zu Haraway
(2013)
Vor dem Hintergrund der Geschichte des physikalischen Objektivitätsbegriffs zieht die Physikerin und Epistemologin Françoise Balibar in ihrem Beitrag "Von Canguilhem zu Haraway" einen Vergleich der unterschiedlichen Konzepte der Objektivität von Haraways situiertem Wissen und Canguilhems regionaler Epistemologie. Dabei erinnert sie daran, dass Objektivität im physikalischen Sinn nicht, wie Haraway unterstelle, auf eine repräsentationale Identität der Objekte ziele, sondern dass das Objekt der Physik durch die Beziehungen generiert werde, die sich zwischen Tatsachen herstellen.
Detailliertere Auseinandersetzungen mit dem weit verzweigten Werk Canguilhems finden sich bei Haraway nicht. Und somit scheint es angemessen, wenn sie selbst resümiert: "Canguilhem war für mich nicht wirklich ein 'Einfluss', aber er war ganz bestimmt ein Teil der Ideenwelt, die für mich wichtig war, damals wie heute." Welche Stellung Canguilhem in dieser 'Ideenwelt' zukam (und zukommt), ist damit freilich nicht gesagt, und das ist der Ansatzpunkt des vorliegenden Beitrags. Diese Studie geht der Frage nach, in welcher Weise sich konstruktive Beziehungen zwischen der Tradition der Historischen Epistemologie und der aktuellen Wissenschafts- und Technikforschung herstellen lassen. [...] Im Folgenden wird das Spannungsfeld zwischen Historischer Epistemologie und Wissenschafts- und Technikforschung mit Blick auf die dort bislang kaum genutzten Potentiale der Medienwissenschaft erkundet. [...] Vor diesem Hintergrund erfolgt die Argumentation der vorliegenden Studie in zwei Schritten. Der erste, epistemologische Schritt geht von einer Sichtung der bisherigen Beiträge zum Verhältnis von Haraway und Canguilhem aus, die bislang vor allem im philosophischen und philosophiehistorischen Register verblieben sind. Dabei ist Haraways Figur des Cyborgs und das von Canguilhem prominent thematisierte Verhältnis von Maschine und Organismus in den Mittelpunkt gestellt worden, aber nur vereinzelt wurde der Rückbezug auf die historisch gewachsene Materialität der wissenschaftlichen und (medien-)technischen Praktiken vollzogen. [...] Im zweiten, historischen Teil dieses Beitrags wird die Frage erörtert, auf welche Weise Wissenschaft und Technik zur Herstellung und Verbreitung dessen beigetragen haben, was Haraway als eine bestimmte "Vision" der wissenschaftlich-technisch bestimmten Realitäten bezeichnet. Das historische Beispiel dafür sind die Projektionsvorrichtungen, mit denen die Lebenswissenschaftler des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert versuchten, ein neues Bild des Lebens zu schaffen.
So sehr der Begriff des "situierten Wissens" zur Zeit in Mode ist, so sehr wirkt der Begriff der "Region" veraltet, ja sogar ein wenig überholt, ruft doch der "epistemologische Regionalismus" in Frankreich die 1960er und 1970er Jahre in Erinnerung: die Jahre Bachelards, Canguilhems und Foucaults. Doch die Tatsache, dass 2011 am ICI Berlin Institute for Cultural Inquiry eine Tagung zum Thema "Situiertes Wissen und regionale Epistemologie" stattfand, belegt ohne Zweifel, dass diese Fragestellung das Verfallsdatum doch noch nicht überschritten hat. [...] Es ist wohl sinnvoll, zunächst die Vorgeschichte des Begriffs der Region in der Epistemologie in aller Kürze darzustellen, bevor mit Gaston Bachelard und Georges Canguilhem die beiden Autoren ins Gedächtnis gerufen werden, die ihn am prominentesten verkörperten. Danach soll auf die Werke von Michel Foucault und Louis Althusser eingegangen werden, die diese Bezugnahme auf den Regionsbegriff erneuerten und zugleich transformierten. Es bietet sich des Weiteren an, die Kontexte dieser Verwendungen hinzuzuziehen, denn schließlich ist doch sicher das Mindeste, was man mit dem Begriff der Region tun kann, ihn zu kontextualisieren. Dabei wird sich zeigen, dass dieser "französische" Zugang zum Begriff der Region und die angelsächsische Frage nach der "Uneinheit" ('disunity') der Wissenschaften sich in gewisser Hinsicht berühren.
Wie wird das Leben zum Objekt des Wissens? Und wie gestaltet sich das Verhältnis von Leben, Wissenschaft und Technik? Donna J. Haraway und Georges Canguilhem verstehen diese Fragen als politische Fragen und Epistemologie als eine politische Praxis. Die besondere Aktualität von Canguilhems Denken leitet sich aus der von ihm gestellten Frage her, wie sich eine Geschichte der Rationalität des Wissens vom Leben schreiben lässt. Haraway bezieht sich nicht explizit auf Canguilhem, schließt jedoch an die von ihm gestellte Frage an.
Abseits : Nachwort
(2014)
In der Einleitung wurde bereits dargelegt, dass und warum es nicht einfach ist, philosophischer und anderer Kehrseiten so habhaft zu werden, dass sie Kehrseiten bleiben. Wendet man sich einer Kehrseite zu, erscheint das vormals Abgekehrte zugewandt. Aus der verdeckten Kehrseite ist eine Ansichtsseite geworden, die ihrerseits eine neue, abgewandte Kehrseite haben wird und haben muss. Was Luhmanns Systemtheorie 'Zwei-Seiten-Form' nennt, bei der sich jede Unterscheidung aus einer markierten Innen- und einer nicht markierten Außenseite zusammensetzt, wird für den, der sich für Kehrseiten interessiert, schnell zum Dilemma
Pseudomorphose
(2013)
Der Sprachgebrauch verleitet dazu, Pseudomorphosen als bloß täuschenden Anschein jenes Gestaltwandels zu verstehen, der sich in (echten) Metamorphosen vollzieht. Dort tut sich tatsächlich etwas, aber die Pseudomorphose tut nur so, als ob. Allerdings zeigt schon die echte Metamorphose, der das Christentum nach Blumenberg den Garaus macht, auch beim alten Heiden Goethe noch oder schon pseudomorphotische Züge. Wenn alles Blatt ist, darf man legitimerweise fragen, ob da überhaupt etwas metamorphorisiert. Als Metapher geht die Pseudomorphose auf Oswald Spengler zurück, der sie der für historische Sedimentierungs- und Verwerfungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert so ertragreichen Mineralogie entlehnt hat.
Birgit Griesecke wendet sich einem Aphorismus Georg Christoph Lichtenbergs und dessen späterem Stellenwert in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins zu. Wenn Lichtenberg die Philosophie als "Berichtigung des Sprachgebrauchs" verstanden wissen wolle, bette er diese Idee in eine Satzkonstruktion ein, die "aus einem rhetorischen Manöver ein Erkenntnisinstrument macht", indem sie performativ gerade unterschiedliche Sprachgebräuche in Szene setze. Komme der Aphorismus Lichtenbergs Sprachdenken entgegen, so kündige Wittgenstein diese Form über ein Zitationsverfahren, das nicht auf Pointierung, sondern auf Reihung ziele, unter der Hand wieder auf. In seinem "Experimentalsinn" stehe Wittgenstein Lichtenberg freilich nicht nach.
Denis Thouard geht der Frage nach, inwiefern aufklärerische Forderungen nach Verständlichkeit und Popularität auf Inhalt und Zuschnitt der Philosophie zurückwirken. Indem das moderne Systemdenken nach den Bedingungen des (eigenen) Wissens frage und es folglich nicht mehr von außen darstellbar sei, müsse das System dem Leser nunmehr im Prozess des Entstehens vorgeführt und nachvollziehbar gemacht werden. Dies habe zwar - etwa bei Kant oder Hegel - oft eine besonders esoterische Ausdrucksweise zur Konsequenz, doch könne diese ihrer Intention nach nichtsdestotrotz eminent pädagogische oder gar populäre Zwecke verfolgen.
Pirsig und die Deutschen
(2019)
Der US-Autor Robert M. Pirsig hat zwei philosophische Romane über die Qualität geschrieben: "Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten: Ein Versuch über Werte" (1974) und "Lila – Oder ein Versuch über Moral" (1991). Beide sind literarische Experimente, die mit der deutschen Literatur und Philosophie zwar subtil, aber eng verbunden sind. Der Beitrag möchte diese Verbindungen aufzeigen und charakterisieren.
Dummheit und Witz bei Kant
(2009)
In der Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik haben sich drei Formen abgezeichnet, die ihren Ort weniger im Scharfsinn der Philosophie als vielmehr im Witz der Poesie finden: die Einfalt, die zugleich den inneren Zusammenhang von Ethik und Ästhetik in Kants System verkörpert, das Monströse, das auf die Konfrontation des Menschen mit der furchterregenden Größe der Natur zurückgeht, und das Phlegma, das eine eigentümliche Leerstelle zwischen dem ästhetischen Gebrauch der Urteilskraft und den ethischen Ansprüchen der Vernunft markiert. Die drei Begriffe der Einfalt, des Monströsen und des Phlegmas verkörpern eine Ambivalenz von Natur und Vernunft, ästhetischem Spiel und moralischem Ernst, Witz und Dummheit, die Kant nur in ein philosophisches System einfangen kann, indem er ihre bedrohliche Seite suspendiert. Wie Jean Paul zeigt, ist die Literatur der Ort, an dem sie eine andere Sprache finden.
Panisch / Panik
(2018)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der letzte große Systemphilosoph des deutschen Idealismus, tat sich nicht leicht, die Ursprünge und die Anfänge der eigenen Philosophie zu erzählen. [...] In die Darstellung des griechischen Geistes flicht Hegel eine weitere Anfangserzählung seiner selbst ein, die man mit Fug und Recht "Die Geburt der Philosophie aus dem Geist der Panik" nennen könnte. Der zentrale Stellenwert dieser Geschichte wird schon daran ersichtlich, dass Hegel sie als Korrektiv oder zumindest als Komplement einer prominenten aristotelischen Gründungsfigur auszuweisen versucht. Habe Aristoteles den Anfang der Philosophie auf die "Verwunderung" verpflichtet, so könne allein die "griechische Naturanschauung" die Triftigkeit dieser Behauptung demonstrieren. In Griechenland habe der Geist nämlich zum ersten Mal gelernt, die Natur als eine Art geistig vermitteltes Phänomen zu begreifen, er bleibe im Rahmen solcher Bemühungen aber noch durch und durch ein Geist der "Mitte". [...] Es sind signifikanterweise die 'Panik' und der 'panische Schreck', in denen sich die 'Mitte' des griechischen Geistes gleichsam kondensieren. Denn für Hegel galt noch als selbstverständlich, was der spätere Begriffsgebrauch des 'Panischen' und der 'Panik' vergessen machte. 'Panik' geht auf den griechischen Gott Pan zurück, jenen Gott des Waldes und der Natur, der einen menschlichen Ober- und einen tierischen Unterkörper in Form eines Widders oder Ziegenbocks besitzt.
Interphänomenalität
(2018)
'Interphänomenalität' ist ein neuartiges Kompositum aus zwei bekannten griechisch-lateinischen Termini - aus 'Phänomenon', in dem altgriechisch ein Etwas, eine Entität als "sich Zeigendes", als ein "Erscheinendes" aufgefasst ist, und aus dem Präfix 'Inter', das lateinisch das Verhältnis des "Zwischen", des "unter- und voreinander" von mindestens zwei Entitäten anspricht. Die Pointe der Begriffsfügung und ‑findung, seit 2009 im Umlauf, ist offensichtlich die Abwendung von der vertrauten Auffassung aller 'Phänomenologie' (Kant, Hegel, Husserl), dass die 'Phänomene' sich immer für uns, für unsere (sprich: menschliche) sinnliche Wahrnehmung zeigen, also als 'Phänomene' für ein Bewusstseinssubjekt "zur Erscheinung kommen". Der neue Kunstbegriff vollzieht die Abkehr von dieser klassischen Annahme im Subjekt-Objekt-Verhältnis hin zum eventuell aufschlussreichen Verhältnis, in dem die 'Phänomene' selbst als Phänomene voreinander bzw. untereinander sich zeigen - in einer Intersphäre, im Zwischenraum zwischen ihnen -, in einer quasi-kommunikativen Relation voreinander erscheinen, ungeachtet dessen, dass sie auch für ein menschliches Bewusstsein erscheinen können.
Dialektik
(2018)
Was 'Dialektik' nun genau sei, darüber gibt es immer noch sehr verschiedene und auch einander ausschließende Auffassungen. Vor allem auch darüber, ob es eine Dialektik gebe oder geben könne, die sich noch besonders durch das Attribut 'materialistisch' empfehlen würde. Je näher wir hinsehen, desto mehr entschwindet uns der Begriff, der einmal so viele Gewissheiten trug. Vielleicht liegt das auch schon daran, dass sich im Begriff der Dialektik viele Bedeutungsdimensionen gleichsam sedimentiert haben; er trägt schwer an seiner Geschichte und kann sich gerade deshalb immer wieder von einseitigen Fixierungen zurückziehen.
Autonomie
(2018)
Bei 'Autonomie' handelt es sich um einen alten Begriff mit altgriechischen und lateinischen Wurzeln, der in der Moderne zu einem politischen Schlüsselbegriff geworden ist. Parallelausdrücke wie 'Selbstbestimmung', 'Selbständigkeit', 'Eigengesetzlichkeit', 'Mündigkeit', 'Unabhängigkeit', 'Autarkie' sowie Komplementär- und Gegenbegriffe wie 'Heteronomie', 'Fremdbestimmung', 'Abhängigkeit', 'Bevormundung' verweisen auf ein weitverzweigtes Wortfeld ('Prädestination-Willkür', 'Determinismus' bzw. 'Naturalismus-Freiheit', 'Dogmatismus-Kritizismus', 'Realismus-Idealismus', 'Transzendentismus-Immanentismus', 'Autarkie-Interdependenz' bzw. 'Globalisierung') mit langer (Verflechtungs-)Geschichte. Der Begriff zirkuliert heute als Nomaden- und Grenzgängerbegriff in verschiedensten, einander gegenseitig befruchtenden Feldern (Politik, Pädagogik, Kunst, Kultur, Ökonomie, Medizin, Ökologie, Robotik etc.). Er interagiert als interdisziplinärer oder transversaler Verbundbegriff in seinen jeweiligen Vernetzungen mit anderen (wie z. B. Identität) und fördert wechselseitige Übertragungen zwischen ethisch-politischen und anderen Semantiken.
Wie der Beitrag von Herbert Kopp-Oberstebrink zeigt, brachte tatsächlich gerade die Publikation von Immanuel Kants "Kritik der reinen Vernunft" (1781/87) - nicht zuletzt wegen Kants neuartiger Terminologie - einen regelrechten "Kommentierungsfuror" hervor, der christlicherseits interessanterweise hauptsächlich dem protestantisch-theologischen Umfeld entstammte. Anhand der Kant-Kommentare Georg Samuel Albert Mellins (1794/95), Arthur Schopenhauers (1819) und Hans Vaihingers (1881) zeigt der Beitrag, dass philosophische Kommentare selbst eigenständige Theoriearbeit leisten, deren Voraussetzungen sich aus der protestantisch geprägten (Bibel-)Hermeneutik herleiten, und in denen immer auch das Verhältnis von Philologie und Philosophie zur Debatte steht.
Über die ökonomische und soziale Bedeutung der Reformation stritten bereits die Zeitgenossen, auch wenn ihnen die Idee, dass die Reformation den Weg in den modernen Kapitalismus eröffnen würde, naheliegenderweise verschlossen blieb. Der Streit der Zeitgenossen war, das wundert nicht, zugleich eine konfessionelle Auseinandersetzung, die die Reformation und ihre Folgen entsprechend beurteilte. Das ist noch Jahrhunderte später in Johannes Janssens mehrbändiger Geschichte des deutschen Volkes im 16. Jahrhundert zu spüren, der aus katholischer Sicht den mit der Reformation sich ausbreitenden Laxismus großer Bevölkerungsteile scharf kritisierte. ...
Mediale und vor allem fiktionale Inszenierungen von Katastrophen in den Bildmedien referieren jedoch nicht nur auf eine 'Wirklichkeit', sondern prägen auch umgekehrt die Realitätswahrnehmung. Die Terroranschläge vom 11. September 2001, so zeigt Mark Schmitts Beitrag 'The Blowback of Reality', erschütterte die Wahrnehmungsgewohnheiten der Zeugen und Zuschauer dieses Ereignisses so fundamental, dass das Verhältnis von ›Fiktivem‹ und ›Realen‹ infrage steht. Schmitts Analyse stellt die sich direkt auf 9/11 beziehenden Filme, die geradezu einem Darstellungstabu unterliegen, dem Monsterfilm 'Cloverfield' gegenüber und geht dabei der Frage nach, inwiefern die 'derealisierende Übertragung' der Gefahr ins Fantastische die Konventionen der 'richtigen' Darstellung unterlaufen.
Astrologie
(2016)
Die Astrologie stellt bis heute die populärste und bekannteste Disziplin des Zukunftswissens dar, ist sie doch über Tages- und Wochenhoroskope unmittelbar mit der Prognose künftiger Ereignisse befasst und als solche im alltäglichen Mediengebrauch präsent. Und obwohl sie mit den okkulten Praktiken der Esoterik, Mantik, Alchemie oder dem Tarot assoziiert wird, erfreut sie sich im westlichen Kulturkreis wachsender Beliebtheit. Während populäre astrologische Weissagungen nicht zuletzt durch die Lehre der Tierkreiszeichen allgegenwärtig sind, ist meist unbekannt, dass die Anfänge der Astrologie weniger individualprognostischer als ökonomischer und politischer Natur waren.
Rettung
(2016)
Der griechische Begriff 'soteria', der sich mit 'Rettung', aber auch mit 'Erlösung' übersetzen lässt, steht im Zentrum eines der Masternarrative zur Produktion von Zukunft in der abendländischen Kultur. Das Narrativ verpflichtet die Gegenwart, die Vergangenheit von einem Ursprung her ereignishaft zu strukturieren und auf einen mehr oder weniger genau bestimmten Punkt der Zukunft hin zu spannen, an dem jene Pflicht sich erfüllt haben wird. Die strukturierenden Ereignisse dienen dazu, die dramatische Spannung auf den Endpunkt hin aufrechtzuerhalten und diesen sowie den Weg und die Zeit zu ihm im Licht jener Ereignisse jeweils neu zu entwerfen.
Mantik
(2016)
Die etymologischen Wurzeln der Mantik liegen im Umkreis der griechischen Orakel, in der 'manteía', der Weissagung, und im 'mántis', dem Seher. Hiervon ausgehend bezeichnet Mantik zunächst einmal ein prärationales Bewusstsein von Wirklichkeit. Es handelt sich dabei nicht zwingend um das Bewusstsein eines zukünftigen Geschehens (die mantisch wahrgenommenen Sachverhalte können ebenso gut auch in einer verborgenen Vergangenheit liegen), in jedem Fall aber um das Bewusstsein eines Geschehens, das erst noch Wissen werden muss, in jedem Fall also ein 'zukünftiges Wissen' ist.
Teleologie
(2016)
Im Begriff der Teleologie (τελος, griechisch für 'Ende', 'Grenze', 'Ziel') verbindet sich die Zukunft mit der Gegenwart auf eine eigentümliche Weise: Das, was kommen wird, bestimmt das, was ist; die Zukunft gibt der Gegenwart eine Richtung, eine Form. Aristoteles spricht mit Blick auf diese formative Wirkung der Zukunft auf die Gegenwart von einer 'causa finalis', einer Zweckursache; Christian Wolff führt dafür im Jahr 1728 den Begriff der Teleologie ein. Aristoteles konzipiert die 'causa finalis' im Rahmen seiner 'Physik'; Wolff entwirft die Teleologie als zentrales Element einer Naturphilosophie. Teleologische Konzepte beziehen sich also auf die Erscheinungen der Natur, spätestens seit Immanuel Kants 'Kritik der Urteilskraft' (1784) und der dort vorgenommenen Verknüpfung von Teleologie und Organologie noch spezifischer auf die Erscheinungen der 'belebten' Natur. Spricht man von der Teleologie, dann geht es also nicht so sehr um die Ziele, die ein Mensch gegenwärtig haben und an deren zukünftiger Verwirklichung er arbeiten kann, sondern um 'naturimmanente' Zweckursachen, um die teleologische Struktur des Lebens selbst. Die Theoriegeschichte des teleologischen Denkens ist deshalb untrennbar mit der Geschichte der Biologie verbunden, wobei die Debatten um die biotheoretische Notwendigkeit bzw. Nutzlosigkeit der Teleologie insbesondere in den letzten zweihundert Jahren kontrovers verlaufen und bis heute noch nicht entschieden sind.
Energie und Katalyse sind Schlüsselbegriffe zum Werk von Wilhelm Ostwald. Seine Naturphilosophie nannte er selber "Energetik". Für seinen Katalysebegriff erhielt er den Chemie-Nobelpreis. Nach ersten Vorlesungen in Leipzig über Naturphilosophie erschien 1908 sein Werk 'Grundriss der Naturphilosophie', in dem er ein modernes Konzept der Naturphilosophie im Rahmen der Naturwissenschaft entwirft.Im Folgenden wird dieses Programm geprüft, und Ostwalds allgemeine Gesetze sowie Prinzipien werden mit heutigen Weiterentwicklungen konfrontiert. Dabei zeigt sich, dass seine naturphilosophischen Konzepte von großer Aktualität sind.
Im ersten Teil der vorliegenden Analyse werden zwei Themen in Jungs Schrift untersucht: die Amoralität und Unbewusstheit Gottes sowie dessen Menschwerdung. Dann soll erörtert werden, wie Jung zu seiner Interpretation kommt, und schließlich wird gezeigt, welche Bedeutung Jung der Hiobschrift für das 20. Jahrhundert und danach beimisst.
Die Weltschmerzorganisation (IASP) definiert Schmerz als "ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis", das als 'drückend', 'scheußlich', 'heiß' oder als '7' auf einer Skala dargestellt werden kann. Er lässt sich als erhöhte neuronale Aktivität beschreiben und kann mittels bildgebender Verfahren in spezifischen Hirnarealen 'sichtbar' gemacht werden. Und doch bleibt der Schmerz ein rein subjektiv erlebtes Phänomen, das sich strikten Messungen entzieht. Wann also wird ein Reiz zum Schmerz? Der Vortrag spürt der Wandlungsfähigkeit des Schmerzerlebens anhand von Beispielen aus Wissenschaft, Kultur und Geschichte nach.
Vom Wünschen
(2016)
Es freut mich, dass ich bei der Gelegenheit meiner Antrittsvorlesung über ein Thema sprechen kann, das es mir schon lange angetan hat: das Wünschen. Ich werde gleich in einem einleitenden Abschnitt skizzieren, wie ich den Umfang und Inhalt des Themas bestimme und welche Fragen sich für mich daran anschließen. Hauptsächlich möchte ich mich dann auf einen Aspekt konzentrieren, der meiner Professur hier am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin besonders entspricht. Das Fachgebiet lautet "Kulturforschung mit Schwerpunkt Wissensgeschichte", und deshalb möchte ich in dieser Antrittsvorlesung vor allem über den Zusammenhang von Wünschen und Wissen sprechen, und somit auch über die Spannungen zwischen beidem. Es soll um die Frage gehen, was man vom Wünschen wissen kann, um die Frage, wie Wünschen das Wissen initiiert oder antreibt, aber auch darum, wie es das Wissen behindern oder sogar verhindern kann.
Jacob Taubes (1923-1987) und Carl Schmitt (1888-1985) zählen zu den umstrittenen, aber auch faszinierenden intellektuellen Figuren der Bundesrepublik: hier der jüdische Denker und Religionsphilosoph, ausgewiesener Kenner der apokalyptischen Strömungen in Judentum, Christentum, Gnosis samt ihren Folgen, die - nicht nur im christlichen Sinn - Filiationen innerhalb der Antike und ihres Nachlebens darstellen, dort der katholische Autor und Staatsrechtler, bekannt als Wortführer politischer Theologie, berüchtigt für seinen "aufhaltsamen Aufstieg zum 'Kronjuristen'" (Mehring) des Nationalsozialismus - ein Umstand, der sein Werk bis heute tief verschattet. Taubes und Schmitt haben polarisiert und tun es immer noch. Zu Lebzeiten provozierten sie durch ein Verhalten, das vielen als gemein, willkürlich, oft auch irritierend erschien, weil es übliche akademische Kabalen und Winkelzüge auf brüske Weise überschritt. Auch ergriffen sie rücksichtslos Partei, selbst bis zur fast völligen Isolierung: etwa wenn sich Schmitt 1933 als einziger aus der Kölner Juridischen Fakultät weigerte, für den Kollegen Hans Kelsen zu sprechen, als dieser von den Nationalsozialisten entlassen worden war (vgl. Rüthers), etwa wenn Taubes sich in erbitterte, persönliche Verletzungen bereitwillig in Kauf nehmende, akademische Kämpfe verstrickte, die er Ende der 1970er Jahre am notorischen Fachbereich 11 der Freien Universität Berlin [im Folgenden: FU] gegen nahezu alle führte. Doch verstanden es beide auch, geistig anzuziehen und intellektuell anzuregen, wenn sie Debatten begannen oder in sie eingriff en und Ideen aufnahmen, eben eine akademische Kardinaltugend aufs Beste beherrschten: das Verknüpfen von Wissen zwischen den Fächern, um persönliche oder sachliche Verbindungen für neue Fragen produktiv zu machen. Gerade durch die Missachtung gesetzter Grenzen ihrer jeweiligen Disziplin vermochten sie zu einer reicheren Erkenntnis vorzudringen. Darin sind sie Pioniere: Schmitt am Schnittpunkt von staatlichem Recht und christlicher Religion, Taubes in den Konstellationen jüdisch-christlicher Debatten jenseits aller konfessionell betriebenen Bemühungen um Dialog und Versöhnung. Weil ihr Einsatz als Denker - ungeachtet von Eskapaden und Eklats - ein geistig-existentieller war, wirken ihre Impulse weiter, in den letzten Jahren sogar zunehmend, davon zeugen die amerikanischen Übersetzungen, die viele ihrer Schriften und Texte erfahren haben, davon zeugt das Interesse, das sie gerade bei Jüngeren in Europa, Israel und den USA finden, die Philosophie, Jüdische Studien, Kultur-, Literatur-, Religionswissenschaft betreiben.
Einer der berühmtesten Sätze Nietzsches lautet: "Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken [...]". Der Satz wird immer wieder zitiert und aufgerufen, wenn es darum geht, Geltungsansprüche von Theorien in Frage zu stellen, Begriffe und normative Vorstellungen zu dekonstruieren oder den Anteil des Figurativen im Denken hervorzukehren. Dabei liegt der Akzent dann auf den dominanten Tropen Metapher und Metonymie, wenn nicht allein auf der Metapher. In jedem Fall aber ist es die Identifizierung von Wahrheit und Metapher, die in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wird, von Wahrheit und Bild oder übertragener, 'uneigentlicher', verschobener Bedeutung, von Wahrheit und nicht fixierbarer, sondern in Bewegung befindlicher Bedeutung, und die Verschiebung kommt - dem Wortsinn entsprechend - durch Tropen zustande. Denn zumindest traditionelle Rhetorik definiert Tropen als diejenigen Figuren, bei denen sich die Bedeutung vom ursprünglichen Wortinhalt wegwendet (τρέπεσϑαι). Tropen sind Wendungen des Sinns. An Nietzsches berühmtem Satz soll hier das Augenmerk kurz auf zwei andere Aspekte gerichtet werden: zum einen auf die in dem Satz selbst enthaltene Metapher, die des Heeres, und zum anderen auf die Struktur des Satzes, d. h. darauf, dass die Prädizierung der Wahrheit als "Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen" ihrerseits eine rhetorische Figur darstellt, nämlich eine Aufzählung.
Passionen der Ordnung
(2010)
In ihrer Schrift 'Über Revolution' (1963) bekennt sich Hannah Arendt zu einer politischen Passion des Mitfühlens - einer 'passion for compassion'. Die Wurzeln dieses Mitfühlens sind wesentlich dem semantischen wie begrifflichen Humus der schottischen Aufklärung entliehen. Der Text ergänzt jene von Arendt idealisierte Figur der griechischen 'polis' als Fundament einer guten, erstrebenswerten Ordnung. Die Resultante aus der Passion des Mitfühlens und der Figur der 'polis' - so will es scheinen - ist die Republik, wie sie sich idealerweise in den Institutionen der Amerikanischen Revolution niederschlägt; und dies in Kontrast zu der von Arendt wenig gelittenen Traditionslinie der Französischen Revolution, die ihrerseits von glühenden, indes wenig regulierten Passionen eines sich sozial begründenden Mitgefühls angefacht wird.
Im Wesen des Menschen liegen, vor allem Wissen, die Stimmungen. Sie schwingen uns, wenn wir vernehmen, immer schon in ein Gefühltes ein, Freude oder Trauer, Mut, Verzweiflung, Leidenschaft. Wir freuen uns zwar am meisten über das, was unsere Augen sehen, weil es an den Dingen so viele Unterschiede entbirgt. In Wahrheit aber können wir nur lernen und daher wissen, weil Menschen, anders als zum Beispiel Bienen, auch Ohren haben. Weil der Mensch das nachahmendste von allen Tieren ist und Kinder ihr erstes Wissen nur durch Nachahmung von Älteren erwerben, sind Menschen die einzigen Tiere, die den Logos oder die Sprache haben.
Das Aufkommen der Biopolitik als Dispositiv der Moderne beschreibt Michel Foucault als Effekt einer Reihe von Transformationen, verbindet es allerdings an dieser Stelle nicht explizit mit den wissenschaftlichen Entdeckungen Darwins. Die Eingliederung des Menschen in das Kontinuum der lebenden Organismen ist aber eine der bedeutsamsten Konsequenzen von Darwins Theorie von der Abstammung des Menschen. Wenn parallel zu oder auch in Abhängigkeit von dieser Transformation des biologischen Wissens der Mensch als lebendiges Wesen sich auch politisch zu verstehen beginnt, stellt sich dann freilich die Frage, als was er dies tut. Wird dann der Organismus, das Individuum als biologische Entität zugleich zum politischen Subjekt? Und bedeutet dies dann eine Erweiterung des personellen, intellektuellen und vor allem ethischen Subjektbegriffs auf lebende Wesen, die zumindest potenziell die Grenzen des Menschengeschlechts überschreiten? Oder bedeutet diese fundamentale Umwälzung der Biopolitik ganz im Gegenteil eine objektivierende, Politik, Recht und Ethik auf Wissenstechnik einschränkende Verwaltung von lebenden Einheiten, deren Subjektstatus sich auf die Teilbedeutung des Unterworfenseins einengt? Foucaults eigene Rede von der Sorge eines administrativen Apparats um die Lebensvollzüge von Bevölkerungen legt Letzteres nahe. Jedoch bleibt seine grundsätzliche Formel vom Eintritt des Lebendigen in die Sphäre des Politischen und Historischen gegenüber beiden Auslegungen offen.
Philosophieren heißt überleben lernen. Ursprünglich schien das Gegenteil der Fall. Bei den Stoikern hieß philosophieren sterben lernen. Doch auch sterben lernen hieß natürlich überleben lernen. Die stoische Einübung in den Tod war letztlich eine Entmächtigungsstrategie, mit der die überwältigenden täglichen Ängste in Bann gehalten werden sollten - eine elitäre, weil intellektuelle Strategie, denn sie setzte darauf, - vermeintliche - Fehlurteile zu entlarven. Wer sich vor dem Sterben fürchtet, erliegt, so die Logik dieser Philosophie, nur einer falschen Einschätzung dessen, was wirklich furchtbar und fürchtenswert ist. Hans Blumenberg hat das Ensemble der Mächte, die uns in Furcht schlagen, unter den Sammelbegriff eines "Absolutismus der Wirklichkeit" gebracht. Damit meinte er schon die archaische Situation, in der "der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte. Er mag sich früher oder später diesen Sachverhalt der Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet haben." Es geht dabei um die Umwandlung von Angst in Furcht, also von einem unspezifischen Ohnmachtsgefühl angesichts der Vielzahl von Bedrohungen, die oft auch nicht versteh- und erklärbar sind, in eine durchschaubare Macht, der das Übel zugeschrieben und die so auch ein Stück weit gebannt werden kann. Auch wenn der Mensch keine Waffe gegen die wirkliche Gefahr in Händen hält, so glaubt er es doch zumindest und wird durch diese Waffe handlungs- und überlebensfähig - ein, wenn man so will, narratives Placebo. Vorgeschobene imaginative Instanzen sind für Blumenberg, was der Lebensangst abhilft.
1925 ließ Ernst Troeltsch einen "modernen Theologen" sagen, dass "das eschatologische Bureau heutzutage zumeist geschlossen [sei], weil die Gedanken, die es begründeten, die Wurzel verloren haben". Zurückzuführen sei diese Entwertung der Eschatologie auf die Integration der Idee des Fortschritts in den christlichen Erlösungsgedanken. Der Frage, ob diese Diagnose für die Theologie zutraf, kann hier nicht nachgegangen werden. In unserem Zusammenhang ist sie nur deshalb interessant, weil die Dependance des eschatologischen Bureaus in der philosophischen Fakultät der Heidelberger Universität ein Jahr später in einer heiklen Angelegenheit tätig werden musste. 1926 wurde Alexander Koschewnikoff, ein junger Russe, der seit dem Sommersemester 1921 Philosophie und Orientalistik in der süddeutschen Universitätsstadt und seinem Wohnort Berlin studiert hatte, von Karl Jaspers mit einer Arbeit über 'Die religiöse Philosophie Wladimir Solowjews' promoviert. 1930 erschien ein zwanzigseitiger Auszug der Doktorarbeit in einer in Bonn erscheinend en 'internationalen Zeitschrift für russische Philosophie, Literaturwissenschaft und Kultur'. Laut Koschewnikoff war für Vladimir Solov'ev (1853-1900), den vielleicht bedeutendsten russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts "von Anfang an eine religiös-mystische Weltauffassung charakteristisch". Diesen religiösen Charakter habe seine Philosophie bis zuletzt beibehalten und auch seine Geschichtsphilosophie wesentlich geprägt: "es wird ein zu verwirklichendes Zukunftsideal [...] aufgestellt, und die 'tatsächliche' Geschichte als eine dazu mit Notwendigkeit führende Entwicklung konstruiert". Bei der Aufstellung dieser "Zukunftsideale" hat die Kenntnis der tatsächlichen Geschichte keine nennenswerte Rolle gespielt. Insofern habe Solov'ev nicht Geschichtsphilosophie im modernen Sinne des Wortes betrieben, sondern "Geschichtskonstruktion". Koschewnikoff unterscheidet in Solov'evs Geschichtsauffassung drei Perioden: eine slawophile, eine katholische Periode und den Standpunkt der letzten Schrift Solov'evs, der 'Drei Gespräche'.
In einem 1936 geschriebenen Beitrag, der in dem Band 'Ausdruckswelt' (1949) erschienen ist, bezeichnet Gottfried Benn die letzte Zeile aus Rilkes 'Requiem' als einen "Vers, den meine Generation nie vergessen wird". Das Gedicht, 1908 entstanden und ein Jahr später gedruckt, schließt mit den Worten: "Wer spricht von Siegen -, Überstehn ist alles!" Der Vers ist durch Benn zum geflügelten Wort geworden. Vorausgegangen waren allerdings zwei Weltkriege mit Millionen von Toten und Verwüstungen großer Teile Europas. Dennoch ist in Benns Bekenntnis von Trauer oder Demut nichts zu spüren. Vielmehr verweist es auf einen Gedanken von Nietzsche, in dessen Schriften das Überleben als Leistung des willensstarken Individuums aufgefasst wird. "Ein wohlgerathner Mensch", so Nietzsche in seiner 1889 verfassten Autobiografie 'Ecce homo', "erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker". Die Feststellung ist Teil von Nietzsches Idee eines 'Willens zur Macht', die den Willen zum Leben einschließt. Sie hat neben der physischen und psychischen eine intellektuelle Seite, die man als glückliche Verabschiedung der Vergangenheit bezeichnen kann. Schon Marx hat den Gedanken in der Einleitung seiner 'Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie' (1843/44) mit Blick auf die griechische Literaturgeschichte formuliert. An konkrete Erfahrung gebunden wird er in Elias Canettis Studie 'Masse und Macht' (1960). "Dieses Gefühl der Erhabenheit über die Toten", so heißt es hier, "kennt jeder, der in Kriegen war. Es mag durch Trauer um Kameraden verdeckt sein; aber dieser sind wenige, der Toten immer viele. [...] Wem dieses Überleben oft gelingt, der ist ein 'Held'. Er ist stärker. Er hat mehr Leben in sich. Die höheren Mächte sind ihm gewogen." Ernst Jünger hat das glückliche Überleben von Kriegen im Sinne Nietzsches immer wieder zum Thema seiner Tagebücher gemacht. Während Benn die nihilistische Dimension in den Mittelpunkt stellte, wie sein Rückblick 'Nietzsche nach 50 Jahren' (1950) deutlich werden lässt, nahm Jünger die optimistischen Impulse des Werkes auf. Dabei hat er, vor allem in seinen späteren Schriften, die Idee des Überlebens vom Ausnahmezustand auf den Alltag und zugleich auf die Zukunft übertragen. Wie Nietzsche wollte Jünger nicht nur glücklich in der Zeit überleben, sondern plante auch ein immaterielles Fortleben im Gedächtnis der Nachwelt. Voraussetzung dieser doppelten Überlebensidee ist ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.
Vielfältig sind die Definitionen, die das Überlebensparadigma im Sinne eines die Weltsicht prägenden Denkmusters zu erfassen versuchen, und verschieden sind die Aspekte, die der Betrachter in seiner Auffassung jeweils als die dominierenden pointiert. Nichtsdestoweniger wurzelt das moderne Verständnis vom 'Überleben' zuletzt im evolutionistischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unter dem evolutionistischen Diskurs sind nicht bloß Darwins Werke zu verstehen, sondern vielmehr die Konstellation von Autoren, Diskursen, Berichtigungen, Anregungen, Ergänzungen, die sich um Darwins Evolutionstheorie drehen und die den Namen Darwinismus tragen. Anders ausgedrückt: Unsere Auffassung des Überlebensbegriffs ist in diesem Diskurs verfangen und kann von ihm nicht restlos loskommen. Dies gewinnt an höchster Evidenz in den Reflexionen über das Überleben von kulturellen Artefakten, die in Analogie zu den Exemplaren bestehender Spezies als Resultat einer 'natürlichen' Auslese gedeutet werden. Unter den unzähligen Beispielen einer Übertragung des Auslesegesetzes von der biologischen auf die kulturelle Evolution mag hier die Reflexion von Hans Blumenberg vorgeführt werden, denn sie bietet viel mehr als eines der rein evolutionistischen Modelle, die eine Erläuterung des kulturellen Überlebens präsentieren. Kein weiterer Autor hat meines Erachtens in der Nachkriegszeit solch einen anspruchsvollen Versuch unternommen, das Darwinsche Evolutionsgesetz jenseits der Fehlschlüsse des Sozialdarwinismus wiederherzustellen und es für die kulturelle beziehungsweise ästhetische Anthropologie fruchtbar zu machen. Des Weiteren erzielte Blumenberg mit seiner theoretischen Berichtigung zuletzt die Beschreibung eines humaneren Modells der kulturellen Produktion, dessen ethische Dimension im Folgenden auszuloten ist. Das Heranziehen einiger Betrachtungen über Primo Levis narrative Erfahrung dient anschließend dazu, die ethische Grundproblematik herauszudestillieren, die das Verbleiben in diesem - obschon korrigierten - Überlebensparadigma in Hinblick auf das historische Gedächtnis impliziert.
Vom Überleben des Wunsches als Todestrieb : Nachträglichkeit, Subjekt und Geschichte bei Freud
(2011)
Es ist nahe liegend, sich zum Thema 'Überleben' mit Freuds Schrift 'Jenseits des Lustprinzips' von 1920 zu beschäftigen, mit der traumatischen Neurose und mit Freuds Diktum, dass das Ziel des Lebens der Tod sei. Beginnt Freud doch damit, dass er gerade durch das Leiden derer, die den Krieg (oder einen schweren Unfall) überlebt haben, dazu kommt, ein Jenseits des Lustprinzips zu postulieren, einen Todestrieb einzuführen, da der traumatische Wiederholungszwang dem Lustprinzip so sehr zu widersprechen scheint, geht es doch um die Perpetuierung des Leidens, um die Wiederholung von etwas Schrecklichem. Ich möchte jedoch im Folgenden einen Umweg beschreiten und mit einer Konstellation aus den Anfängen der Psychoanalyse beginnen, von der sich ebenfalls sagen lässt, dass sie das Überleben behandelt, allerdings in einem gänzlich anderen Kontext, dem der Konstitution des Psychischen. Die Rede ist vom Befriedigungserlebnis und dem unbewussten Wunsch - zwei Konzepte, die für Freuds Denken um 1900 zentral sind.
Im Folgenden werde ich in vier Schritten die Möglichkeit einer historischen Neuschöpfung des freien Raumes nach der Katastrophe des sowjetischen Totalitarismus aus der Bewusstseinsphilosophie Merab Mamardašvilis ableiten. Im ersten Schritt stelle ich Merab Mamardašvili und den Kontext seiner Bewusstseinsphilosophie vor. Im zweiten Schritt werde ich auf sein Verständnis des freien Raumes eingehen. Der freie Raum entsteht, wenn der biologische Mensch zum kulturellen Menschen wird, d. h. wenn er kraft seiner persönlichen Anstrengung einen "Denk-Akt" bzw. "philosophischen Akt" vollzieht und dadurch aus dem Bereich des Individuellen in den Bereich des Universellen übertritt. Mamardašvilis Versuch, dieses Modell auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu übertragen, kann als Kommentar zum Spätwerk Kants gelesen werden, auf den ich in einer Art Exkurs im dritten Schritt eingehe. Im vierten und letzten Schritt wird gezeigt, dass Mamardašvili, anders als Kant, nicht von der Begründung bzw. Begründbarkeit des ständigen und unausbleiblichen Fortschritts der Menschheit zum Besseren ausgeht, sondern umgekehrt von der ständigen Bedrohung des Kulturzustands durch einen Rückfall in die Anomie und Amorphie. Deswegen reichen, anders als bei Kant, allein die empirischen "rechtlichen" Gesetze nicht aus, um einen Fortschritt zum Besseren zu garantieren. Für Mamardašvili müssen vielmehr die Gesetze des Bewusstseins ständig zur Geltung kommen. Sie sind einerseits Bedingung endlicher kultureller Formen (z. B. empirischer Gesetze oder des Nationalstaats), die Mamardašvili als Träger des Unendlichen bzw. des Universellen versteht. Andererseits müssen die Gesetze des Bewusstseins ständig durch die Anstrengung der Menschen zur Geltung gebracht werden, damit man nicht in den Zustand der Anomie und Amorphie zurückfällt. Gerade daran, ob die Gesetze des Bewusstseins zum Ausdruck kommen oder nicht, knüpft Mamardašvili die Möglichkeit einer historischen Schöpfung an.
Ziel meines Beitrages ist es, einige Grundgedanken über politische Philosophie vorauszuschicken und dann zwei Standpunkte zum politischen Denken vorzustellen, die wesentlich mit den Persönlichkeiten des sefardischen Staatsmannes und Philosophen Isaak Abravanel und des venezianischen Rabbiners und Philosophen Simone Luzzatto zu identifizieren sind.
"Wir haben kein Wort, um Geist-Körper – beides im wechselseitigen Vollzug vereint – zu benennen." Diese Behauptung John Deweys über das fehlende Einheitswort klingt nach wie vor wahr, trotz der vielen Jahrzehnte, die seit ihrer Äußerung vergangen sind. Der Gelehrtengemeinschaft fehlt es an der Möglichkeit, den Körper so zu diskutieren, dass vermöge ein und derselben Konzeption dessen qualiagesättigte phänomenale Eigenschaften (d.h. die lebendige Erfahrung) und dessen kausalitätsrelevante physikalische Eigenschaften (d.h. der stofflich zusammengesetzte Körper) gemeinsam anerkannt würden. Natürlich sind sich viele Forscher dieser Situation bewusst und appellieren an die fragliche Einheit mittels Zwei-Wort-Wendungen wie etwa Deweys "Geist-Körper". In diesem Sinne spricht auch Richard Shusterman vom "empfindsamen Soma" ("sentient soma") und fügt folgenden Vorbehalt hinzu: "Soma" sei so zu verstehen, dass es "bereits Leben und ein bestimmtes Maß an zielorientiertem Empfindungsvermögen beinhaltet, womit Soma vom bloßen Körper (der sich in einem leb- und empfindungslosen Zustand befinden kann) unterscheidbar ist".
Die Universalität des Ausdrucks : zur empirischen Grundlage eines anthropologischen Phänomens
(2013)
Die These von der Universalität bestimmter grundlegender Emotionen und ihrer mimischen Ausdrucksformen ist eine Position, die in vielen Lehrbüchern der Emotionspsychologie vertreten wird. Sie ist allerdings nicht unumstritten. Ich gehe nun so vor, dass ich zunächst einige sehr grundlegende Annahmen der Emotionspsychologie skizziere, um dann die empirischen Untersuchungen von Ekman und anderen darzustellen. Ein letzter Teil wird sich mit ausgewählten emotionspsychologischen Modellen hinsichtlich der Natur-Kultur-Differenz beschäftigen. Neuere ökologische Ansätze kritisieren die theoretischen Modelle, die von Ekman und anderen aus den empirischen Untersuchungen zur Universalitätsthese gezogen werden, als Rückfall in stratigraphische Konzeptionen der menschlichen Existenz.
In der Moderne wird das Menschengesicht, das lange Zeit Sinnbild für die Ebenbildlichkeit Gottes und somit für menschliche Ganzheitlichkeit war, radikalen Auflösungsprozessen unterzogen. Zugleich scheinen immer wieder Erlösungsutopien durch, die eine neue Suche nach dem verlorenen oder erst noch zu schauenden Gesicht initiieren. Dieser Doppelstrebigkeit wird im Folgenden unter dem Leitbegriff des Rätsels nachgegangen. Letzterer lässt sich hierbei auf seinen zweifachen altgriechischen Ursprung zurückführen, auf 'griphos' ('Fischernetz, Schlinge': Ratespiel) und 'ainigma' ('dunkle Andeutung': das Rätselhafte). Das Rätsel wird in der Theologie seit jeher - in der Philosophie vermehrt in der Moderne – mit dem Gesicht (in seiner Doppeldeutigkeit von gesehenem und sehendem Gesicht) assoziiert, dessen Les- und Lösbarkeit es einer hermeneutischen Bewährungsprobe unterzieht. An zwei philosophischen Werken soll in einem ersten Schritt dieses Junktim von Rätsel und Gesicht(e) im Diagramm der beiden Lösungsbewegungen von Auflösung und Erlösung nachgezeichnet werden: an Friedrich Nietzsches 'Also sprach Zarathustra' (1883–1885) und Franz Rosenzweigs 'Stern der Erlösung' (1921) sowie seinen "nachträgliche[n] Bemerkungen" hierzu in "Das neue Denken" (1925).
Inhalt I. Ein- nur leicht narzistischer - Rückblick I.1 Philosophische Anthropologie als Zcentrum 1.2 Existcnzphilosophisch-ethischc Anningc und (lI.a. marxistische) korrektive Erweiterungen 1.3 Notwendigkeit einer systematischen Entwicklung der Ciesamlllwrnatik II. Zur Systematik einer theoretisch und praktisch grundlegenden philosophischen Anthropoogie II.I Ein regulativer Begrirr (b Philosophie - im Anschlu/.l an Kilnt II.1.1 Voraussetzungen II.1.2 Grundbestimmungen II.1,3 Kants 'Weltbegrift' der Philosophie heute II.2 Status, Thematik und Problemlage philosophischer Anthropologie II.2.1 Der transzendental-philosophische Status und die existentiell praktische Sinnbestimmung philosophischer Anthropologie II.2.2 Thematik und Methode philosophischer Anthropologie II.2,3 Konstellationen und Konsequenzen philosophischer Anthropologie (und Existenzphilosophie) im 20. Jahrhundert II.3 Grundlegende anthropologische Strukturbestimmungen II.3.1 Die Basisstruktur: Verstehend tätiges Sich-Verhalten in und zu Welt- und Selbst-Verhältnissen II.3.2 Differenzierung von Verhaltens-Dimensionen, -Arten, -Situationen II.3.3 Konstitutionsverhältnisse zwischen Sich-Verhalten, Handeln. Praxis III. Verweisungszusammenhänge zwischen philosophischer Anthropologie, Normativität/Ethik und kritischer Gesellschaftstheorie III.1 Philosophische Anthropologie und Ethik III.2 Philosophische Anthropologie, kritische Gesellschaftstheorie und Normativität/Ethik III.3 Neue globale Akzente: Weltbilrger, Weltethos, Weltgesellschaft und die Notwendigkeit interkulturell kommunikativer Vernunft - ohne Verdrängung der existentiellen Sinnfragen
Ökonomie, politische
(1984)
Wert/Preis
(2005)