390 Bräuche, Etikette, Folklore
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Stumme Diener, menschliche wie nichtmenschliche, sind entgegen ihrer Bezeichnung "things that talk", Stumme Diener können gar nicht anders, als doch zu reden. Ihre abgewandten, verstellten Stimmen, ihr Flüstern und Murmeln bei halbgeöffnetem Mund gilt es zu vernehmen. Nicht nur der Subalterne spricht, auch die Dinge. Sie können gar nicht anders als im Modus des Stummgeschaltet-Seins dennoch mitzureden mit Hilfe der um sie herumgelagerten Geschichten. Stumme Diener sind Medien, die Sprechen machen.
Die Schuluniform ist bis heute umstritten. Befürworter betonen, sie überbrücke soziale Unterschiede, nivelliere den Konkurrenzdruck durch die Fixierung auf teure Markenartikel und fördere so den Zusammenhalt der Kinder untereinander. Kritiker hingegen sehen in der Schuluniform ein Instrument der Disziplinierung und folglich das Bestreben, Kindern ihre Individualität zu nehmen. Im Russischen Imperium wurde die einheitliche Schuluniform für Gymnasiasten - russisch: 'mundir' (von 'Montur' bzw. Uniformrock) - 1834 eingeführt, im Zuge der Kodifizierung von Ziviluniformen für Staatsbeamte. Eine entsprechende Verfügung für Mädchen folgte erst Ende des 19. Jahrhunderts.
"Wer trägt heute noch Trainingsanzüge in der Öffentlichkeit?", titelt die "Stilkritik" der Süddeutschen Zeitung im Mai 2010. Sportler jedenfalls nicht. Der aktuelle Bundestrainer der deutschen Fußballnationalmannschaft kleidet sich - "modisch top", "Stilikone" - selbst im Stadion in Designer-Anzüge. Dabei waren Sportler ursprünglich die einzige Zielgruppe des Ende der 1920er Jahre in den USA erfundenen 'tracksuit'. Die Kombination aus locker sitzender Hose mit Gummizug und Beinbündchen sowie Blouson mit Reißverschluss oder Sweatshirt sollte sie vor und nach ihren Aktivitäten wärmen. Ein Einsatz von Trainingsanzügen außerhalb des Sports war lange Zeit undenkbar. Die Modifizierung des Trainingsanzugs begann erst fünf Jahrzehnte nach seiner Erfindung.
Der Pelz des Hermelins ist im Sommer braun und im Winter weiß. Das ist ein schönes Phänomen für sich, zumal das Weiß von einer Reinheit ist, die sich im Tierreich selten findet. Die Reinheit ihres weißen Fells wurde vielen Hermelinen zum Verhängnis: Sie endeten als Stück in einem adligen Mantel, ihr Weiß noch unterstrichen durch die schwarze Schwanzspitze, die mitverarbeitet wurde. Das reine Weiß des Winterpelzes machte das Hermelin auch zu einer brauchbaren Projektionsfläche des Volksglaubens. Als Symbol der Keuschheit und Reinheit erscheint es schon im antiken Aberglauben: Um sein Fell nicht zu beflecken, empfange das Hermelin durchs Ohr und gebäre durch den Mund - oder umgekehrt, wie der 'Physiologus' behauptete. Auch galt es als ein besonders kultiviertes Tier, weil es sich eher von einem Jäger fangen lasse, als durch den Kot zu gehen, sein reines Weiß also höher schätze als Freiheit und Leben. Sein Fellwechsel machte das Tier darüber hinaus zu einem beliebten Objekt für Zauber und Gegenzauber, Wetterorakel und Verwandlungssagen.
Das Leder des Schuhs
(2015)
Schuhe - schwere, wetterfeste Stiefel ebenso wie luftige, filigrane Sandalen - wurden lange Zeit aus Leder gefertigt. Robuster und langlebiger als Leinen, Seide oder Bast, aber wesentlich anschmiegsamer als das Holz rustikaler Pantinen, war Leder ein geradezu ideales Material für den Schutz der Füße vor den Widrigkeiten der Straße, vor Steinen, Schmutz, Staub, Kälte und sogar Nässe. Seine Eigenschaften lassen das Leder des Schuhs zugleich zu einem unheimlichen Material werden, speichert es doch Informationen über seinen Gebrauch und kommuniziert damit Gewohnheiten und Präferenzen seiner TrägerInnen.
Der Mantel des Propheten
(2015)
In der Bibel, auf die sich die westlichen Religionen Judentum, Christentum und Islam auf jeweils unterschiedliche Weise beziehen, erscheint besonders eine Figur als mit besonderer Kleidermacht begabt: der Prophet Elijahu, der einen sprechenden Namen trägt, 'Mein Gott ist Jahu', wobei der Gottesname hier eine andere Form für das Tetragrammaton ist. Auf Hebräisch heißt dieser Prophet 'Elija', auf Arabisch 'Ilias', Christen ist er als 'Elia(s)' bekannt. Unter diesem Namen soll im Folgenden von ihm die Rede sein. Die Theophanie ist in den biblischen Erzählungen des Propheten der erste von insgesamt vier Fällen, in denen sein Mantel eine wichtige Rolle spielt.
Es sind weit mehr als jene sprichwörtlichen Siebensachen, die ein ghanaischer Oberschüler beim Eintritt in eines der zahlreichen Internate des Landes mitzubringen hat. Ein zuvor ausgehändigter "prospectus" verzeichnet so nützliche und notwendige Dinge wie Bügeleisen, Wassereimer, Buschmesser, Scheuerbürste, Schaumstoffmatratze und einiges andere mehr. Was die Bekleidung betrifft, so findet sich auf dieser Liste neben "white trousers for church service" und "khaki trousers" auch ein ausdrücklich mit dem Zusatz "school supply" versehenes "pair of khaki shorts": Bis heute identifizieren sich "school boys" in Ghana durch sowohl den klimatischen Bedingungen als auch einer impliziten sozialen Hierarchie genügende kurze Hosen, für die sich im informellen Idiom die Bezeichnung 'school knickers' durchgesetzt hat.
Während einer Recherchereise nach Moskau im Sommer 2014 fiel mir auf, dass in den Transferbereichen der U-Bahn-Stationen unverblümt und in riesigen Mengen Damenunterwäsche ausgestellt und verkauft wurde. Wer in aller Welt kauft zwischendurch und im öffentlichen Gedränge Unterwäsche? Und warum wird Unterwäsche gerade in einer solchen Umgebung gehandelt, im kalten Neonlicht des Moskauer Untergrunds? Auch meine russischen Kollegen wussten keine Antwort auf diese Fragen. Vielleicht hilft ein Blick in die russische Geschichte, um das Rätsel der Unterwäsche zu lösen.
Aus dem Leben der Knöpfe
(2015)
Der Knopf ist ein diskretes und zugleich unabdingbares Teilstück textiler Verschlüsse und steht als solches im Zentrum erbitterter Kämpfe und subtiler Gunstbezeigungen: In seiner 'Rede an einen Knopf' aus dem Jahr 1915 gesteht Robert Walser einem schon ziemlich abgewetzten Hemdknopf seine Liebe; er dankt ihm für die in der "unauffälligsten Unauffälligkeit" zugebrachten Dienstjahre und seine weitgehend unbeachtete Leistung. In Louis Pergauds Roman 'La Guerre des boutons' (1912) hingegen wird eine Fehde zwischen den Heranwachsenden zweier südfranzösischer Dörfer als ein Kampf um Knöpfe ausgetragen, bei dem sich die Protagonisten der befeindeten Lager zwar nicht die Kehlen, wohl aber die Knopflöcher aufschlitzen und die Metallhaken und Knöpfe von Hemd und Hose schneiden.
"A really well-made Buttonhole is the only link between Art and Nature", war eine der dekadenten, subversiven und paradoxen Weisheiten, die der Schriftsteller und Dandy Oscar Wilde (1854–1900), der selbst das Haus nie ohne Knopflochblume verließ, 1894 der Jugend auf den Weg gab, als er seine 'Phrases and Philosophy for the Use of the Young' für die Zeitschrift 'Chameleon' verfasste. Die Belle Époque war die Hochzeit der Boutonnière. Heute lamentieren die Männermodezeitschriften, sie werde nur noch bei der eigenen Hochzeit getragen. Die kulturelle Bedeutung der zum Accessoire verkommenen Blume im Knopfloch des Herrenanzuges geht sehr weit über die Kostümgeschichte hinaus. Sie ist der einzige Link zwischen Kleidung und Philosophie.
Im Jahr 1926 landete Coco Chanel ihre vielleicht folgenreichste Kreation. Nach den Verwüstungen und radikalen politischen Umwälzungen des Ersten Weltkrieges feierte man in den 'Roaring Twenties' emphatisch das eigene Überleben. Frauen kleideten sich beim Besuch von Variété-Theatern, Lichtspielen und Bars, lasziv Zigarettenspitzen haltend, jetzt bevorzugt in Schwarz - in Klein und Schwarz. Auch wenn Coco als geniale Erfinderin dieses Outfits gilt, wäre der Erfolg ihrer Innovation ohne die historisch-politischen Umstände vermutlich undenkbar geblieben.
Schleppen und Schleifen
(2015)
Schleppen und Schleifen sind einander etymologisch verwandt. Seit dem 13. Jahrhundert soll die Ähnlichkeit von Schleppen und Schleifen bereits in der Deutschordensdichtung belegt sein; das Grimm'sche 'Wörterbuch' notiert, dass "die identität von schleppen und schleifen" um 1430 erkannt und erstmals in Wörterbüchern erfasst wurde. Nun sind Schleppen und Schleifen nicht nur Verben für den mehr oder weniger identischen Vorgang, etwas unter Mühe langsam, schwerfällig und mit großem Kraftaufwand am Boden entlang zu ziehen, sondern auch Pluralformen von Substantiven. Die Schleppe und die Schleife bezeichnen dabei geradezu das Gegenteil der verbalen Bedeutung: Anders als die Verben 'schleppen' und 'schleifen' sind sie nicht mit Mühe, Last und Erschöpfung konnotiert, sondern stehen vielmehr für Luxus und Verschwendung - für die unendliche Leichtigkeit des Seins.
Dass gerade das 16. und 17. Jahrhundert in der abendländischen Trinkkultur eine Zeit außerordentlich hohen Alkoholkonsums waren, ist hinlänglich bekannt. Die Berichte über große, oft tagelange Trinkgelage sind Legion und die „Tischzuchten“ des 15. und 16. Jahrhunderts wissen vom Zutrinken, vom Bescheid Geben, vom Weiterreichen des Bechers detaillierte Einzelheiten der Trinksitten zu berichten. Das Trinken mit einer Hand galt lange noch als verpönt, aber die Regularien waren oft recht kompliziert – Festgelage waren vom Willkommensgruß über die zahlreichen auszusprechenden Toasts an adeligen Tafeln ebenso wie in Zunftstuben häufig strengen Normen unterworfen, während die ländliche Kirmes ebenfalls den exzessiven Alkoholgenuss, aber weniger strenge Regeln kannte. Auch häusliche Feste und Wirtshausbesuche endeten nicht selten im Vollrausch der Beteiligten. Und der Verlauf derartiger Szenarien nahm bei dem hohen Alkoholkonsum oft bizarre Formen an – das Trinken bis
zur Trunkenheit, ja Bewusstlosigkeit war in allen sozialen Schichten und auch bei beiden Geschlechtern zu finden. Doch die Stimmen zur Mäßigung waren nicht erst seit Erasmus von
Rotterdam und mit den Reformatoren immer lauter geworden. Der Siegeszug der großen Ernüchterer Kaffee, Tee und Schokolade, der die Trinkkultur revolutionieren sollte, hatte aber erst zaghaft begonnen. Dass im 17. Jahrhundert, einer Zeit des noch immer sehr hohen Alkoholkonsums, eine so elegante und hohe Konzentration erfordernde Handgeste wie die hier in Frage stehende verbreitet gewesen sein soll, überrascht denn doch und ist einer näheren Betrachtung wert. Da nur dieser spezielle Aspekt interessiert, werden keine ausführlichen Bildbeschreibungen und Gesamtinterpretationen geboten. Die Erforschung der Gesten und Gebärden und der Körpersprache in der Frühen Neuzeit hat in den letzten zwei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. War schon mit Norbert Elias der Übergang vom „unordentlichen Leib“ zum zivilisierten und disziplinierten „geordneten Körper“ in zahlreichen Einzelheiten zu beobachten und mit Mary Douglas der Körper und die Körpersprache als Symbol für soziale Beziehungen zu interpretieren, so ist das Feld der nonverbalen Kommunikation inzwischen reich bestellt.