500 Naturwissenschaften und Mathematik
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Natur und Naturwissenschaft
(1942)
Feuer, Wasser, Erde und Luft in der modernen Kunst : Strategien der Darstellung des Elementaren
(2005)
Zu Ende ihrer Kulturgeschichte von Feuer, Wasser, Erde und Luft diagnostizieren die Brüder Gernot und Hartmut Böhme eine "Wiederkehr der Elemente" in der gegenwärtigen Alltagswelt. In kaum einem Bereich jedoch ist diese "Wiederkehr" so deutlich zu erkennen wie in der modernen Kunst seit Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Im Zuge der Emanzipation des Stoffs von der Form und den damit einhergehenden Materialuntersuchungen der Avantgarde und vor dem Hintergrund von Umweltzerstörung und Naturentfremdung wurden Feuer, Wasser, Erde und Luft zu bedeutenden Themen der Kunst. Von der Earth-Art bis zur Air-Art, von den Wasserarbeiten Klaus Rinkes, der Lichtkunst James Turells, den Feuerzeichnungen von Jannis Kounellis bis zu den Steinskulpturen von Ulrich Rückriem, um nur einige Beispiele zu nennen, erweitern die vier Elemente das Repertoire der Kunst und werden in eigenen Ausstellungen thematisiert. Wenn hierbei von einer "Wiederkehr" gesprochen wird, so darf nicht übersehen werden, daß die Elemente in der späten Moderne gewissermaßen nackt und vollkommen entsemantisiert präsentiert werden, während sie in der frühen Neuzeit, etwa in den Kupferstichen von Antonius Wierinx (um 1552-1624) oder Jan van de Velde (1593-1641) über den Umweg einer allegorischen und ikonologiegeschichtlich zu deutenden Weise dargestellt wurden.
Die "Wiederkehr der Elemente" in der Kunst ist daher nicht unbedingt als Fortführung einer zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Tradition zu verstehen, sondern vielmehr als Wiederaufnahme eines alten Motivs auf vollkommen neue Weise. Die Frage, der im folgenden nachgegangen werden soll, ist die, ob bzw. wann die Thematisierung von Feuer, Wasser, Erde und Luft in der modernen Kunst in einer Weise erfolgt, in der diese Phänomene zugleich als Elemente präsentiert und erfahren werden.
Nur frühwarnsystembastelnde Optimisten glauben, daß die Auswirkungen der jüngsten Flutwelle auf materielle Schäden begrenzt bleiben könnten. Mit jeder neuen Nachrichtensendung, mit jedem neuen Tsunamiexperten erwischte uns ebenso flutartig und begleitet von zahlreichen wissenschaftlichen Erklärungsmustern eine Welle religiöser Deutungsmuster der Katastrophe. Naturfürchtig rollt sich jede Aufklärung in sich zusammen in Angst und Schrecken vor der Strafe Gottes. Mit anderen Worten: Wie bei jeder Katastrophe hat man es mit einem Wettlauf zwischen verschiedenen konkurrierenden Deutungsmodellen zu tun. Was bei dem Dezember-Tsunami überrascht - und von allen Medien fleißig kommentiert wurde -, war die Tatsache, daß biblische Deutungsmuster erstmals die Nase vorn hatten. Die jüngsten Tsunamis spülten eine Welle von biblischen Bildern und sintflutartigen Metaphern in die Wohnzimmer der nichtüberschwemmten Welt: Die erste globale Naturkatastrophe des neuen Jahrtausends war auch eine Rückkehr in ein wenn nicht biblisches, so doch religiös konnotiertes Weltbeschreibungssystem.
Diese Beschreibungen werfen die Zivilisation weiter zurück als die materiellen Schäden - exakt ins Jahr 1755. Am 1. November erreichte jene legendäre 22 Fuß hohe Welle Lissabon; nur zwei Stunden später war sie schon in Irland. Die schwerste Naturkatastrophe in der Geschichte Europas erschütterte die Iberische Halbinsel und Nordafrika mit drei Erdstößen. Sie zerstörte Lissabon und löste einen Tsunami aus, der zehntausende Menschen tötete und selbst in Deutschland noch zu spüren war. Die erste in London eintreffende Nachricht berichtete folgendes: "Das Handelshaus und der Königspalast sind vollständig zerstört, die Warenhäuser der Überseehändler verloren, und, um die Zerstörung der Stadt zu vervollständigen, wurde sie von schwefligen Eruptionen aus den Gedärmen der Erde in Brand gesetzt. Mehr als die Hälfte der Gebäude sind zerstört und ungefähr 100000 Menschen haben ihr Leben verloren. Der König und seine Familie entkamen halbnackt aus dem Palast."
Die in Deutschland seit etwa den 80er Jahren andauernde Konjunktur der Kulturwissenschaften, die nicht mit den aus Konzepten der Birmingham-School hervorgegangenen Cultural Studies zu verwechseln sind, führt als ihr theoriegeschichtliches Apriori den Diskurs über Differenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mit sich, dessen Konstellation im 19. Jahrhundert Wilhelm Dilthey 1910 in Gestalt eines Standardwerkes beschrieben hat. Die vor fast fünfzig Jahren von dem englischen Physiker und Romancier Percy Charles Snow getroffene Diagnose zweier sich entfremdet und kommunikationslos gegenüberstehender Kulturen, einer traditionalistisch literarischen und einer naturwissenschaftlichen, deren Trennung Snow als ein Problem analysierte und als ein Dilemma beklagte, wurde entgegen der Absicht ihres Erfinders zu einem ebenso bequemen wie die aufgerufenen Probleme verwirrenden Schema kanonisiert. Verwirrend war (und bleibt) der Dualismus eines Modells, das von Befürwortern wie Gegnern als Voraussetzung angenommen wurde und schließlich sogar durch Anbauten einer dritten (soziologischen) Kultur erweitert und ergänzt wurde, der Wolf Lepenies im Vergleich zwischen Frankreich, England und Deutschland eine wissenschaftsgeschichtliche Begründung zu geben versuchte. "Seit der Auseinandersetzung zwischen P. C. Snow und F. R. Leavis ist der Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften zum Schlagwort von den zwei Kulturen geworden. Ich bin der Auffassung, dass man die Sozialwissenschaften als eine dritte Kultur bezeichnen kann, in der seit ihrem Entstehen szientifische und literarische Orientierungen einander gegenüberstehen."
Text und Experiment : die Experimentalszene als mediale Konfiguration im Werk E. T. A. Hoffmanns
(2014)
Im literarischen Werk E.T.A. Hoffmanns nimmt das Experiment eine besondere Stellung ein. Wissenschaftliche oder parawissenschaftliche - auch alchemistische - Experimente kommen in seinem OEuvre an vielen Stellen explizit zur Sprache. In der zweiten Vigilie des bekannten 'Goldenen Topf', beispielsweise stellt der Registrator Heerbrand den geheimen Archivarius Lindhorst zunächst als einen "experimentierenden Chemiker" vor. In dem Märchen 'Klein Zaches genannt Zinnober' unternimmt der Professor Mosch Terpin so manch "physikalisches Experiment". In den Gesprächen der Serapions-Brüder ist unter anderem vom "Experiment" des Magnetismus die Rede, und in der späten Erzählung 'Der Elementargeist' kommt es noch zu einem sehr ausgiebig beschriebenen "Experiment". Dies sind lediglich vereinzelte Beispiele, die einen ersten Einblick bieten. Das "Experiment" an sich stellt ein rekurrentes Motiv des Gesamtwerks Hoffmanns dar. Wie lässt sich diese Präsenz und Prägnanz des Experimentalmoments kontextualisieren? Wie lässt sie sich begründen? Und zunächst auch: Welche Verbindungen ergeben sich genereller aus dem Zusammenhang von Literatur und Experiment?
Mit der Konstellation "Text und Experiment" ist ein Themenfeld bezeichnet, das als Schnittfläche zwischen wissenschaftsgeschichtlichen und literaturhistorischen Fragestellungen heute kein unerforschtes Gebiet darstellt. Zu den Verbindungen zwischen Experiment und literarischer Konfiguration liegt mit dem von Michael Gamper herausgegebenen Band 'Experiment und Literatur' sowie der grundlegenden, dreibändigen literaturgeschichtlichen Buchfolge zu dem Thema inzwischen eine imposante Reihe wissenschaftlicher Werke vor. Die genannten Bände stecken Grundlagen ab, liefern Einzelanalysen und geben darüber hinaus Impulse und Anregungen für die weitere Beschäftigung mit dem Gegenstand.
Im Folgenden wird Herders wechselseitiger Entwurf von Mensch und Natur in ein Verhältnis zur Klimakonzeption Kants gesetzt, wie dieser sie im Kontext seiner naturphilosophischen Überlegungen entwickelt. Dabei wird es nicht darum gehen, eine der beiden Positionen gegen die andere auszuspielen, sondern darum, die Denk- und Darstellbarkeit klimatischer Natur – noch vor ihrer Repräsentation in Diagrammen oder dem Versuch der Klimaprognose - auf den Grundlagen von zwei verschiedenen theoretischen Positionen zu rekonstruieren. Ein Hauptaugenmerk gilt der Frage, ob und inwiefern bei der Darstellung klimatischer Natur für beide Autoren Modelle eine Rolle spielen, und zwar in zwei Hinsichten: Erstens gilt die Aufmerksamkeit der Verwendung von Modellen, die rückwirkend als solche identifiziert werden können, von den Autoren aber nicht unbedingt als "Modell" bezeichnet wurden; zweitens der Verbindung zwischen den Darstellungsweisen klimatischer Natur in den Texten und ihrer Reflexion auf den Einsatz von Modellen, die sowohl bei Kant als auch bei Herder in der expliziten Beschäftigung mit der Funktion der Analogie zu finden ist.
"Wellenformen" : die Leistung mathematischer Modellbildung für Akustik, Physiologie und Musiktheorie
(2016)
Im Jahr 1857 hält Hermann von Helmholtz einen Vortrag 'Ueber die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonien', in dem er erstmals Ergebnisse seiner akustischen und hörphysiologischen Forschungen einer akademischen Öffentlichkeit vorstellt. Dabei bilden die Untersuchungen und Experimente, die Helmholtz im Rahmen seiner Tätigkeit als Professor für Anatomie und Physiologie an der Universität Bonn durchgeführt hat, Grundlage und Ausgangspunkt einer umfassenden Neukonstitution von Wissenszusammenhängen, in deren Zuge ältere Wissensbestände arrondiert, im Lichte neuer Erkenntnisse bewertet, erweitert, neu gefasst und in ausgearbeiteter Form sechs Jahre später unter dem Titel 'Die Lehre von den Tonempfindungen' veröffentlicht werden. In den einleitenden Worten seines Vortrages aus dem Jahr 1857 verweist Helmholtz in diesem Kontext auf einen Aspekt, der ihm offenkundig von großer Signifikanz zu sein scheint:
"Es hat mich immer als ein wunderbares und besonders interessantes Geheimnis angezogen, dass gerade in der Lehre von den Tönen, in den physikalischen und technischen Fundamenten der Musik, die unter allen Künsten in ihrer Wirkung auf das Gemüth als die stoffloseste, flüchtigste und zarteste Urheberin unberechenbarer und unbeschreiblicher Stimmungen erscheint, die Wissenschaft des reinsten und consequentesten Denkens, die Mathematik, sich so fruchtbar erwies."
Bemerkenswert an dieser Aussage ist nicht, dass Musik und Mathematik in eine enge Beziehung zueinander gesetzt werden - hier kann Helmholtz auf eine über zweitausendjährige Tradition der wechselseitigen Elaboration beider Bereiche verweisen -, sondern dass Darlegungen, die auf die systematische Durchdringung der Zusammenhänge zwischen akustischen, physiologischen, psychischen, musiktheoretischen und ästhetischen Phänomenbereichen zielen, ihren Ausgangspunkt in der Mathematik nehmen. Diesen Leistungen, die mathematisches Denken für die Untersuchung und Explikation dieser Zusammenhänge erbringt, möchte der folgende Beitrag nachgehen. Es wird sich zeigen, dass eine spezifische mathematische Operation für das Verständnis von akustischen und physiologischen Prozessen modellbildend wirkt und über verschiedene Applikationswege hinweg neue Impulse der Systematisierung von Wissensbeständen setzt.
Im Folgenden wird Herders wechselseitiger Entwurf von Mensch und Natur in ein Verhältnis zur Klimakonzeption Kants gesetzt, wie dieser sie im Kontext seiner naturphilosophischen Überlegungen entwickelt. Dabei wird es nicht darum gehen, eine der beiden Positionen gegen die andere auszuspielen, sondern darum, die Denk- und Darstellbarkeit klimatischer Natur – noch vor ihrer Repräsentation in Diagrammen oder dem Versuch der Klimaprognose - auf den Grundlagen von zwei verschiedenen theoretischen Positionen zu rekonstruieren. Ein Hauptaugenmerk gilt der Frage, ob und inwiefern bei der Darstellung klimatischer Natur für beide Autoren Modelle eine Rolle spielen, und zwar in zwei Hinsichten: Erstens gilt die Aufmerksamkeit der Verwendung von Modellen, die rückwirkend als solche identifiziert werden können, von den Autoren aber nicht unbedingt als "Modell" bezeichnet wurden; zweitens der Verbindung zwischen den Darstellungsweisen klimatischer Natur in den Texten und ihrer Reflexion auf den Einsatz von Modellen, die sowohl bei Kant als auch bei Herder in der expliziten Beschäftigung mit der Funktion der Analogie zu finden ist.
Simulationsmodelle
(2016)
Mit der Entwicklung elektronischer Computer in den 1940er Jahren und höheren Programmiersprachen in den 1950er Jahren hält ein neuer Modelltyp Einzug in die Wissenschaften: Simulationsmodelle. Bekannteste Vertreter sind wohl Klima- und Wettermodelle, die mittlerweile Teil der Alltagskultur geworden sind. Kaum eine Natur- oder Technikwissenschaft kommt heute noch ohne Simulationsmodelle aus und neben der traditionellen Einteilung in Theorie und Empirie fügt sich die Simulation als 'dritte Methode' im Rahmen von 'Computational Departments' in die Wissenschaftslandschaft ein. Dabei ist der Begriff des Simulierens durchaus nicht eindeutig definiert. In einem weiten Sinne kann er im wissenschaftlichen Kontext für jegliche Form des Nachahmens und Imitierens verwendet werden: ein Crashtest im Labor simuliert einen Autounfall, ein Schiffsmodell im Strömungskanal bildet maßstabsgerecht ein Containerschiff nach und ein Ball-Stick-Model imitiert ein Molekül. Dennoch hat sich im wissenschaftlichen Kontext der Begriff des Simulierens auf die Computersimulation zentriert und in unterschiedliche Subkategorien ausdifferenziert:
– deterministische Simulationen basierend auf Differentialgleichungen
– stochastische Simulationen basierend auf stochastischen Differentialgleichungen oder
Zufallsläufeerzeugungsmethoden wie der Monte-Carlo-Simulation
– ereignisbasierte Simulationen, in denen bestimmte Ereignisse andere Ereignisse auslösen
– sogenannte 'Soft Computing'-Methoden wie Agentenbasierte Simulationen, Genetische
Programmierung, Evolutionäre Algorithmen oder Neuronale Netze.
Im vorliegenden Zusammenhang soll der Begriff des Simulierens jedoch einzig auf deterministische Simulationen bezogen werden. Diese Simulationsart ist nicht nur die weitest verbreitete in den Natur- oder Technikwissenschaften, sie ist auch die älteste und damit klassische Form der Simulation.
"Nichts ist variabler als die Bedeutung des Wortes Variabilität", meint Hugo de Vries 1901; und kaum etwas so mutabel wie die des Wortes 'Mutation'. Aber was heißt das schon? Weil wir, so Ludwik Fleck, "fortwährend Zeugen sind, wie 'Mutationen' des Denkstils eintreten"? Fleck führt 1935 die Mutationen ein, als er beschreibt, wie aus "Urideen" moderne Begrifflichkeit entsteht, indem etwa "[m]it einem Mal [...] unklar [wurde], was Art, was Individuum sein soll [...]." Sein wissensgeschichtlicher Bezug auf den seinerzeit bereits biologisch ausgewiesenen Begriff konzediert jedoch selbst einen Denkstil, demnach Erkenntnisse der Wissenschaften vom Leben, namentlich der Mutationstheorie, dazu taugen, kulturelle Entwicklungen zu kennzeichnen. Damit steht er freilich seinerzeit nicht allein. Soziologen, Historiker, Anthropologen, Literaturwissenschaftler und eben auch historische Epistemologen hatten sich dem Begriff der Mutation bereits massiv zugewandt. Maßgeblich nach Hugo de Vries' 'Die Mutationstheorie' (1901/1903) kehren plötzliche Wandlungen in der Konzeption von längeren Entwicklungsverläufen vermehrt in die Natur- und Geisteswissenschaften ein und stellen die Kontinuität von Arten, Ideen, Begriffen zur Disposition. Doch besieht man die Machart des Begriffs in diesem für die Mutationsforschung konstitutiven Buch, so zeigen sich statt einer sprunghaften begrifflichen Neubildung tatsächlich imposante historische Allianzen und intentionale, performative Umwertungen, die eben nicht jählings auf kollektiver Ebene, sondern auch durch einzelne Begriffsautoren einigermaßen aufwändig in einen 'neuen' Begriff überführt werden.