800 Literatur und Rhetorik
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"Calderón als religiöser Dichter" ist einer von Krauss' interessantesten Aufsätzen der frühen Jahre, von denen "einige zur Zeit ihres Erscheinens wissenschaftlich bahnbrechend waren", wie Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Porträt von Werner Krauss in "Das Leben und Sterben der großen Romanisten" konstatiert. [...] Erwartbar wäre gewesen, in Calderón das Ende des mittelalterlich geprägten Kosmos zu sehen, des imperialen 'Goldenen Zeitalters' Spaniens (ca. 1550 bis 1680), in dem es im barocken Schauspiel zu Exzessen der illusionistischen Überwältigung und Massenspektakeln des Glaubens kam. Doch für Krauss ist Calderón vielmehr ein Weg, der direkt in die Dialektik der Aufklärung führt. Das Rettbare, das auf die Praxis des konkreten Handelns Beziehbare muss bei Calderón das Widerständige sein, das auch Carlo Barck an Krauss' Studie faszinierte. [...] Zwei Gedanken lassen sich aus seinem Artikel filtern, die sich an aktuell stark diskutierte Probleme anschließen lassen. Zum einen geht es um Materialität, zum anderen um humanistische Anliegen, die sich in den Kulturtechniken einer Religionskultur wie der des spanischen Katholizismus des 17. Jahrhunderts auffinden und aktualisieren lassen, etwa im Bilderhandeln oder im Umgang mit Schuldempfinden. Es spricht für Krauss' weitreichendes Verständnis religiöser Phänomene, dass er an ihnen Dinge wie Präsenz, Immersion und Liminalität auf den Punkt bringen konnte.
In Jacques Derridas späteren Schriften gibt es eine interessante, bisher unbeachtet gebliebene Denkfigur, die an den Begriff und die Gattung des 'epitáphios', der Grabrede und deren Nähe zum Epitaph, der Grabinschrift, gekoppelt und am Übergang zwischen lebendigem Gesprächszusammenhang und nachträglicher Schriftlichkeit angesiedelt ist. [...] Mit dem 'epitáphios', so die These, die ich in den nachfolgenden Ausführungen entfalten möchte, liegt eine Denkfigur vor, an die sich eine Neubestimmung des poststrukturalistischen Subjekt-Begriffs anschließen lässt. Wenn im Zuge des Strukturalismus der 1960er Jahre der "Tod des Autors" proklamiert wurde, so schließt sich in Derridas Denken seit den 1990er Jahren an diese metaphorische Formel ein Nachdenken über den realen Tod des Autors an, das in einer neuen Relevanz des Subjekts im Text mündet. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht zugleich eine Neukonzeption des Traditionsbegriffs. [...] Derrida, so die These, die ich im Folgenden anhand einiger Lektüren seiner späteren Schriften entfalten möchte, sucht gewissermaßen die etymologischen Wurzeln des Traditionsbegriffs auf, wonach die persönliche Interaktion und das Moment der Verpflichtung wesentlich sind, schreibt seinem Modell der Überlieferung dabei aber zugleich die stetige Umkehr, die revolutio mit ein. Die Frage lautet angesichts dieser Beobachtung nicht, inwiefern die Dekonstruktion als Reflex eines postmodernen Traditionsverlusts zu begreifen ist, sondern es soll vielmehr aufgezeigt werden, dass sie angesichts beschleunigter postmoderner Prozesse sozialen Wandels einen Traditionsbegriff entwirft, der tragfähig bleibt und ein neues Denken des Subjekts integriert.
Die Position, die Mallarmé in "Crise de vers" entwickelt, will ich im Folgenden
in ihren Umrissen nachzeichnen, indem ich eine Lektüre dieses Textes vornehme, dabei aber auch auf andere poetologische und poetische Schriften Mallarmés zurückgreife. Ich versuche zunächst, Antworten auf drei Fragen zu geben: 1) Worin besteht die von Mallarmé konstatierte "Krise des Verses" und was ist ihr Grund? 2) Welche Folgen hat diese Krise für das dichtende Subjekt? 3) Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Dichtung überhaupt? Daran schließe ich dann weitergehende Überlegungen zu Mallarmés Poetik und Poesie an.
Autofiktion ist en vogue. Karl Ove Knausgårds sechsbändiges Werk "Mein Kampf", Annie Ernaux' "Die Jahre" oder "Der Platz", Rachel Cusks Trilogie "Outline", "Transit" und "Kudos", Ben Lerners "Die Topeka-Schule" - all das sind Werke, die der "Autofiktion" zugerechnet werden. Autobiographie, das war seit Augustinus' "Confessiones" und Rousseaus "Confessions" die Schilderung eines Lebens mit Bekenntnischarakter und einem Anspruch auf Wahrheit, also dem Ziel, "Dichtung und Wahrheit" so weit als möglich zur Deckung zu bringen und so größtmögliche Authentizität zu erzielen. Im Gegensatz dazu ist "Autofiktion" eine Erzähltechnik, in der sowohl die Grenzen zwischen Autobiographie, Essay und Roman als auch zwischen Fakt und Fiktion aufgehoben und autobiographische Elemente mit fiktionalen Handlungselementen verwoben werden. Daraus ergibt sich eine Art "Versteckspiel", das Lesepublikum, Autoren und Kritiker fasziniert: Autofiktion hat die traditionelle Autobiographie (scheinbar) abgelöst und beherrscht derzeit Buchmarkt und Feuilletons, Literatur, Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft gleichermaßen. Worauf gründet diese Faszination? Und wie lässt sie sich erklären?
Dieser Beitrag möchte auf einen gegen seinen Willen (und trotz seines Anschreibens dagegen) in Vergessenheit geratenen Warschauer Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrationslager aufmerksam machen, Edmund Polak (1915-1980). Sein Einsatz besteht darin, Polak in eine Linie zu stellen mit den nobilitierten Granden der KZ-Erinnerungsliteratur, also solchen, die sich wie er authentisch, weil selber in den Lagern gewesen und diese überlebend, mit einem der großen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt haben. Geschehen soll das durch die Parallelsetzung der generisch vielfältigen Erfahrungs- und Verarbeitungszeugnisse Polaks - vor allem seiner reflexiv-autobiographischen Arbeiten - mit den Erinnerungen des ungleich prominenteren italienisch-jüdischen Auschwitzüberlebenden Primo Levi (1919-1987). Außerdem soll Polaks Rehabilitierung erfolgen durch eine Einpassung in die Denkgebäude des mit seinen Ausführungen zum "Homo sacer" (1995) akademische und memorialpolitische Diskurse anleitenden venezianischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben.
Die internationale Tagung "H.C. Artmann in seinen Sprachen und die Kunst der Übersetzung", veranstaltet vom Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst und vom Literaturforum Leselampe in Salzburg, feierte von 10.–12. Juni 2021 den hundertsten Geburtstag des Dichters und löste ein zentrales Desiderat der Forschung ein.
What are called 'natural languages' are artificial, often politically instituted and regulated, phenomena; a more accurate picture of speech practices around the globe is of a multidimensional continuum. This essay asks what the implications of this understanding of language are for translation, and focuses on the variety of Afrikaans known as Kaaps, which has traditionally been treated as a dialect rather than a language in its own right. An analysis of a poem in Kaaps by Nathan Trantraal reveals the challenges such a use of language constitutes for translation. A revised understanding of translation is proposed, relying less on the notion of transfer of meaning from one language to another and more on an active engagement with the experience of the reader.
Acht Pistolenkugeln werden aus nächster Nähe abgefeuert, aber keine trifft ihr Ziel. Denn der Superheld Quicksilver kann sich im Film "X-Men: Days Of Future Past" (2014) mit einer Geschwindigkeit bewegen, die es ihm erlaubt, die Flugbahn der Kugeln mit kleinen kinetischen Impulsen zu manipulieren. Antizipiert wurde diese Figur der legendären Marvel-Autoren Stan Lee und Jack Kirby bereits im Jahr 1860, als der Naturforscher Karl Ernst von Baer ein Gedankenexperiment anstellte. Baer spekulierte darüber, wie sich die Welt für einen Menschen darstellt, der zwar ebenso viele Sinneseindrücke pro Pulsschlag hat wie ein normaler Mensch, dessen Puls aber 1.000 Mal schneller schlägt. Ein solcher Mensch würde einer vorbeifliegenden Kugel sehr leicht folgen können, schreibt Baer, hätte allerdings aufgrund seines anderen Metabolismus auch eine deutlich geringere Lebensdauer von nur einem Monat.
Nachdem Gabriele Tergit in den 1930er Jahren als Autorin von Reportagen und einem ersten Roman in der Weimarer Republik sehr erfolgreich gewesen war, wurden ihre Texte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange Zeit wenig oder gar nicht rezipiert. In den späten 1970er Jahren gab es eine erste kleine 'Wiederentdeckung', aber erst seitdem ihre Werke seit 2016 im Schöffling Verlag unter der Herausgeberschaft von Nicole Henneberg neu aufgelegt bzw. zum Teil überhaupt erstmals veröffentlicht werden, erfährt Tergit eine späte Anerkennung und Rezeption als eine große Autorin der Weimarer Republik und des Exils.
Der Titel von Volker Wehdekings 1971 publizierter Studie zur deutschsprachigen Nachkriegsliteratur verdichtet eine bedenkenswerte Herkunftsfiktion: "Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945–1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern". Zusammengesetzt aus einer der Metaphern historischer Rede nach 1945 und einem den Gegenstand bestimmenden Untertitel gibt er der Monografie die Abbreviatur einer komplexen literarhistorischen Narration als Leitthese vor. Die so entworfene Gründungserzählung einer Selbst(er)findung und Selbstgründung in den Lagern der Kriegsgefangenschaft verbindet sich in der Nachkriegskultur mit einer Erhebung des Lagers zu "einem allgemeinen Paradigma der Moderne". Die Gleichsetzung unvergleichlicher Lagererfahrungen aus prononciert deutscher Perspektive läuft so auf eine existentialistisch getönte Rede vom Lager als allgemeinem Symbol der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu, in der die Erfahrung des einen Lagers die Erfahrung aller anderen vertreten kann. Diese Traditionslinie literarischen Erinnerns, die der rezenten Vergangenheit des Weltkrieges und der Shoah mit den Denkfiguren der Überblendung, Wiederholung und Verschiebung begegnet, diskutiert der folgende Aufsatz. Im Mittelpunkt stehen die erzählten Lager in Hans Werner Richters Romanen "Die Geschlagenen" und "Sie fielen aus Gottes Hand".
In diesem Text werden zwei Film- bzw. Mediennetzwerke aus Kanada betrachtet, in denen prekäre Lebensbedingungen nicht nur thematisiert werden, sondern durch die Partizipation und Kollaboration von Filmschaffenden und Bürger*innen Handlungsmacht generiert werden soll. "Challenge for Change" setzte sich ab den 1960er Jahren u. a. gegen Armut ein, "Wapikoni Mobile" ist ein zeitgenössisches indigenes Vlog- und Filmnetzwerk. Beide Projekte werden als handlungsbasierte Dokumentarphilosophien verstanden. Sie werden mit Gilbert Simondon als mögliche Milieus für kollektive Individuationen konzeptualisiert. "Challenge for Change" und "Wapikoni Mobile" werden als technisch-sozial-ästhetische Milieus verstanden, in denen aktivistische und kulturelle Interventionen und Individuationen keinen Gegensatz bilden. "Wapikoni Mobile" wird zudem hinsichtlich seines Potentials für eine Filmkultur des Anthropozäns diskutiert, in der es um die Beziehung von Welt und Mensch geht, die in dokumentarischen Filmen verhandelt wird und die nicht nur abbildet, sondern ebenfalls - mit Gilles Deleuze - ein Band zur Welt knüpft.
Une lecture détaillée des récits de Carl Spitteler, "Xaver Z'Gilgen", "Die Mädchenfeinde" et "Der Salutist", tout en ayant "Conrad der Leutnant" et "Das Bombardement von Åbo" à l'esprit, révèle la manière dont Spitteler écrit autour des années 1890. Un style narratif objectif (appelé "Darstellung" par l'auteur) remplace l'esprit partisan pour les victimes de la domination. Le narrateur auctorial est abandonné et un récit scénique se développe à sa place. En essayant de suivre la recommandation de l'école d'écriture moderniste "show, don't tell!", Spitteler laisse ses lecteurs sans surveillance. Ils doivent se faire leur propre opinion, ce qui donne à ses récits une pérennité durable.
Der Beitrag plädiert dafür, den 'digital turn', der weite Teile der germanistischen Lehre spätestens im 'digitalen' Sommersemester 2020 erreicht hat, als Chance zu verstehen, das Fach in der Verbindung von Forschung und Lehre unter den Bedingungen des Digitalen neu zu denken und zukunftsorientiert zu profilieren. Digitalisierung formatiert (auch) in der Germanistik sowohl Forschungsgegenstände und Methoden als auch die Möglichkeiten ihrer Vermittlung in der Hochschullehre als einem Teil der Wissenschaftskommunikation. Doch Digitalisierung bewirkt weniger eine technische Ausstattung als vielmehr eine Kultur der Digitalität.
Virtuelle statt realer Präsenz : Begriffe und Konzepte für die digitale Lehre in der Germanistik
(2021)
Angesichts der Neuheit und Vielfalt digitaler Lehr-Lernformate im Sommersemester 2020, dem sog. Corona-Semester, zielt der Beitrag auf einen Überblick über Begriffe, Konzepte und Formate von digitaler Lehre, der sowohl aktuelle Erfahrungen als auch frühere Entwicklungen des E-Learnings berücksichtigt und abschließend digitale Gestaltungsoptionen für virtuelle Präsenzphasen empfiehlt.
Rezension zu Alexandre Gefen (éd.), Territoires de la non-fiction. Cartographie d'un genre émergent, Leiden/Boston, Brill/Rodopi, coll. Chiasma, 2020, 377 pages.
In seinem Praxisbericht zeigt Sebastian Bernhardt in einem ersten Schritt, welche Konsequenzen die pandemiebedingten Veränderungen kurzfristig auf seine akademische Lehre hatten. Die Erfahrungen in der notgedrungen rein digitalen Lehre münden aber in einem zweiten Schritt in nachhaltige Perspektiven für die akademische Lehre, die sich nicht auf das Gegensatzpaar digital vs. präsent reduzieren lassen. Zentral ist, dass die Erfahrungen mit digitalen Flipped Classroom-Modellen sich auch in die Zeit nach Corona übertragen lassen, sofern digitale und präsente Vermittlungsanteilen langfristig und kompetenzorientiert miteinander verknüpft werden. Dabei soll weder das eine gegen das andere ausgespielt werden noch eine Digitalisierung um ihrer selbst willen, sondern eine Passung von Vermittlungsziel und Medium, hergestellt werden. Wie er im Folgenden zeigt, konnte er aus der Not der Situation geboren Erfahrungen sammeln, bei denen deutlich wurde, dass einige digitale und asynchron angelegte Flipped Classroom-Formate in Kombination mit synchronen Zoom-Sitzungen, die langfristig durch Präsenzphasen ersetzt werden, einen nachhaltigen Kompetenzerwerb erzielten und zu einer Individualisierung von Lernwegen bei den Studierenden führten.
Marion Biet denkt in ihrem Beitrag die kuratorische Anteilnahme mit dem Dispositiv des Langzeitdokumentarischen zusammen, das sie als ein komplexes Netz aus multiplen Akteur_innen begreift, dessen Potential sie in einer Neuperspektivierung des Filmischen als intermediale Anordnung sieht. In ihren Ausführungen bezieht sie sich auf die filmische Arbeit sowie methodische Überlegungen der preisgekrönten tschechischen Langzeitdokumentaristin, Helena Treštíková und zeigt, wie "das Zuviel an Leben" und der "Exzess des aufgezeichneten Materials" (Biet) einer kuratorischen Geste gegenübersteht, die geradezu medienarchäologisches Potenzial aufweist
Rezensionen [2021]
(2021)
Verzeichnis
Einzelrezensionen
146 Benner, Julia/Schneider-Kempf, Barbara/Putjenter, Sigrun (Hg.): Schauplatz der Künste – Bild und Text im Kinderbuch. Festgabe
für Carola Pohlmann zum 60. Geburtstag (Claudia Blei-Hoch)
147 Conrad, Maren (Hg.): Moderne Märchen. Populäre Variationen in jugendkulturellen Literatur- und Medienformaten der Gegenwart (Ernst Seibert)
149 Dettmar, Ute/Roeder, Caroline/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven (Nicola König)
151 Dettmar, Ute/Pecher, Claudia Maria/Anker, Martin (Hg.): Bilder zu»Klassikern« (Annette Kliewer)
152 Ewers, Hans-Heino (Hg.): Michael Ende. Zur Aktualität eines Klassikers von internationalem Rang (Thomas Boyken)
154 Frickel, Daniela A. /Kagelmann, Andre/Seidler, Andreas /Glasenapp, Gabriele von (Hg.): Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven (Susanne Blumesberger)
156 Gansel, Carsten/Ächtler, Norman/KümmerlingMeibauer, Bettina (Hg.): Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur (Nadine Bieker)
158 Giuriato, Davide: Grenzenlose Bestimmbarkeit. Kindheiten in der Literatur der Moderne (Julia Boog-Kaminski)
160 Hodkinson, Owen/ Lovatt, Helen (Hg.): Classical Reception and Children’s Literature. Greece, Rome and Childhood Transformation
(Ludger Scherer)
162 Jantzen, Christoph/Ritter, Alexandra/Ritter, Michel (Hg.): Faszination Zauberwelt. Neue Perspektiven auf die Fantastik in Kinder- und Jugendmedien (Ernst Seibert)
164 Josting, Petra/Kruse, Iris (Hg.): Karen-Susan Fessel. Bielefelder Poet in Residence 2018 (Kirsten Kumschlies)
165 Kalbermatten, Manuela: »The match that lights the fire«. Gesellschaft und Geschlecht in Future-Fiction für Jugendliche (Sabine Planka)
167 Kurwinkel, Tobias /Norrick-Rühl, Corinna/ Schmerheim, Philipp (Hg.): Die Welt im Bild erfassen. Multidisziplinäre Perspektiven auf
das Bilderbuch (Sonja Müller-Carstens)
169 Kurwinkel, Tobias /Schmerheim, Philipp (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Unter Mitarbeit von Stefanie Jakobi
(Thomas Boyken)
171 Lexe, Heidi (Hg.): Time Warp und Taschenuhr. Zeit in der Kinder- und Jugendliteratur (Inger Lison)
173 Lötscher, Christine: Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populärkultur (Astrid Henning-Mohr)
175 Marciniak, Katarzyna (Hg.): Chasing Mythical Beasts. The Reception of Ancient Monsters in Children’s and Young Adults’ Culture (Thomas Kullmann)
177 Oetken, Mareile/Vach, Karin/Weinkauff, Gina (Hg.): Klaus Ensikat, Stefanie Harjes, Susanne Janssen. Heidelberger Kinderliteraturgespräche 2017/18 (Heinz-Jürgen und Ursula Kliewer)
179 Schäfer, Iris (Hg.): Zur Ästhetik psychischer Krankheiten in kinder- und jugendliterarischen Medien. Psychoanalytische und tiefenpsychologische Analysen – transdisziplinär erweitert (Kirsten Kumschlies)
180 Stemmann, Anna: Räume der Adoleszenz. Deutschsprachige Jugendliteratur der Gegenwart in topographischer Perspektive (Sabine Planka)
Sammelrezensionen
182 Pugh, Tison: Harry Potter and Beyond. On J. K. Rowling’s Fantasies and Other Fictions Jarazo-Álvarez, Rubén/Alderete-Diez, Pilar (Hg.): Cultural Politics in Harry Potter. Life, Death and the Politics of Fear (Thomas Hardtke)
185 Clermont, Philippe/Henky, Danièle (Hg.):Transmédialités du conte Freeman, Matthew/Rampazzo Gambarato, Renira (Hg.): The Routledge Companion to Transmedia Studies (Ludger Scherer)
Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862) foi um dos dramaturgos mais importantes da história do teatro da Áustria. Ator e autor aclamado durante seu tempo, é também nome de referência e enorme influência para muitos escritores austríacos canônicos do século XX e do começo do XXI, que até hoje se definem como devedores de sua poética dramatúrgica (por exemplo, Karl Kraus ou Elfriede Jelinek). Este artigo, além de destacar o papel do dramaturgo com "ancestral" para uma parte da literatura austríaca, lança um olhar sobre a única tradução de uma peça de Nestroy disponível no Brasil ("Cacique Vento-da-Tarde ou O festim do horror", publicada em 1990), com o intuito de colocar em questão a visão recorrente da obra de Nestroy como "intraduzível".
Hak ve adalet, bunların aksamasından kaynaklı sıkıntılar ve hak arayışı evrenselliğini daima koruyacak gerçeklerdir. Tarih boyunca toplumlar ve onların kurdukları devletler düzeni sağlamak adına kanun ve yasalara başvurmuşlar, ancak kimi zaman bu mekanizma çatlaklara, aksamalara ve yok sayılmalara maruz kalmıştır. Bu çalışmada Türk ve Alman edebiyatından seçilen eserlerde adaletsizliğin sebep olduğu problemler isyan ve eşkıyalık kavramı bağlamında mercek altına alınacaktır. Eşkıyalık, olumlu ve olumsuz etki ve işlevleri olması bakımından farklı şekillerde değerlendirilmiştir. Bunlardan olumlu olan görüş, yani eşkıyalığın mevcut düzensizliğe düzen getirme girişimi olarak değerlendirilmesi, incelenen romanlarda ağır basmaktadır. Birbirinden farklı zamanlarda ve toplumlarda yaşamış yazarların eserlerinde kahramanların maruz kaldıkları adaletsizlik karşısında isyana başvurarak gidişatı değiştirme çabaları, hak arayışının her çağda ve toplumda gerekli olduğunu gösterir. Bu çalışmada Sabahattin Ali'nin "Kuyucaklı Yusuf" adlı eseri ile Heinrich von Kleist'ın "Michael Kohlhaas" adlı eserinde işlenen adaletsizliğin doğurduğu isyan eylemi, benzer ve farklı yönleri karşılaştırılarak metne odaklı yorumsayıcı bir yöntem ile değerlendirilecektir.
In ihrem Text stellt Andrea B. Braidt die grundlegende Frage nach dem epistemologischen Wert des 'Kuratorischen' für eine komparatistisch angelegte Medienkulturwissenschaft. Dafür zeichnet sie zunächst die etymologische, kunst- und wissenschaftshistorische Entwicklung des Begriffs des 'Kuratierens' nach und fokussiert insbesondere den Wechsel von der auktorialen Instanz ('Kurator') über das Adjektiv ('das Kuratorische/Kuratoriale') zum Substantiv ('Kuratorialität'), mit dem die Formel 'Kurator X kuratiert eine Ausstellung Y für Publikum Z' eine Dynamisierung erfährt und die Kunsterfahrung als prozesshaftes und relationales "rhizomatisch-organisches Ganzes" (Braidt) beschreibbar wird. In einem zweiten Schritt konfrontiert sie verschiedene Auffassungen des Kuratorischen (Maria Lind und Jean-Paul Martinon) mit Theoriepositionen von Chantal Mouffe zum 'Politischen', von Michel Foucault zum 'Spiegel' und von Jacques Derrida zur 'Différance', um schließlich mit Bezug auf Beatrice von Bismarck zu dem Schluss zu kommen, dass Definitionen von Kuratorialität und Medialität insofern Analogien aufweisen, als sie beide von der Prämisse aus zu denken sind, dass sie in einem performativen Akt das herstellen, was sie jeweils konstituiert. Vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegung und mit Bezug auf den 'antisocial turn' innerhalb der queer theory fasst sie Queeratorialität als "sperrige und etwas absurde, jedweder Art von 'mastery' widerstehende Nominalwerdung", die auf eine "groß angelegte, multidimensionale Kritik zeitgenössischer Medialität" abzielt.
The Italian Renaissance has long been studied as a point of origin for "modern" ideas about art. This approach, which can be traced back to figures like Giorgio Vasari and Jacob Burckhardt, remains central in scholarship on Renaissance art to this day. For example, on the first page of a recent textbook on Italian Renaissance art, Stephen Campbell and Michael Cole begin by laying out two contrary views of the period. To Renaissance writers like Lorenzo Ghiberti, they explain, the Renaissance meant the rebirth of classical antiquity; "to others, however, it has seemed that the importance of Italian art after about 1400 lay not in its return to origins but in the emergence of something entirely new and characteristically modern - the idea of art itself." [...] While this outlook has certainly made a lasting contribution to Renaissance art history, it has also given rise to certain blind spots and misconceptions in the field. For example, it is often assumed that the word "art" underwent a radical change of meaning in the Renaissance, anticipating the later, post-Enlightenment notion of the "fine arts" as an autonomous field of creative activity. However, close readings of period texts often suggest the opposite.
"Liebe Deinen Nächsten" von Remarque war als Fortsetzungstext für das US-Magazin "Collier's Weekly" gedacht und wurde 1941 zuerst in der englischen Übersetzung von Denver Lindley aufgelegt. Der Roman, dessen deutsche Fassung im selben Jahr in einem Stockholmer Verlagshaus erschien, nimmt sich eines Themenfeldes an, das auch heutzutage hochaktuell ist: des Problems der Emigration, des Heimatverlustes, der Heimatsuche und der (abhanden gekommenen) Humanität in Zeiten einer moral-menschlichen Krise, in denen Hass und Hetze gegen den Nachbarn hoch auf der Agenda stehen und toleriert werden. Remarque, der nach 1933 vor den Nationalsozialisten ins Ausland fliehen musste, brachte seinen Roman zunächst im österreichischen, später auch im französischen und Schweizer Exil zu Papier, nachdem ihm die Geschichte von einem deutschen politisch verfolgten Flüchtling zu Ohren gekommen war, der, um seine in Berlin gebliebene und im Sterbebett liegende Ehefrau zum letzten Mal zu sehen, in die Hauptstadt fährt und von seinem Widersacher verhaftet wird. Das Ziel der folgenden sich an Film und Literatur orientierenden Untersuchung besteht darin, Remarques Roman "Liebe Deinen Nächsten" aus dem Blickwinkel eines räumlichen Filmerzählens zu beleuchten, um somit auf die metamedialen Korrespondenzen aufmerksam zu machen. Ausgearbeitet werden einige narrative Aspekte, anhand deren man den literarischen Text auf sein Filmpotential hin abfragen kann.
Im digitalen Sommersemester 2020 hat der Fachschaftsrat des Fachbereichs 02 der Universität Kassel zwei Umfragen unter den Studierenden des Fachbereichs durchgeführt. Während die erste Umfrage vor Beginn des eigentlichen Lehrbetriebs an die Studierenden herangetragen wurde und dabei das Ziel verfolgte, die Erwartungen, Lernvoraussetzungen und Bedenken dieser Gruppe zu erfassen, lag der Fokus der zweiten Befragung, die ca. fünf Wochen nach Semesterbeginn verschickt wurde, mehr auf der Evaluierung der Arbeitsbelastung und der Zufriedenheit mit den digitalen Lehrangeboten am Fachbereich. Aus dem Institut für Germanistik nahmen 318 Studierende an der Umfrage teil, diese bilden damit die größte Gruppe unter den insgesamt 521 Teilnehmer*innen.
Anna Gmeyner, 1901–1991
(2021)
Anna Gmeyner (1901–1991) zählte um 1930 zur literarischen Avantgarde. Bekannt wurde sie vor 1933 mit Theaterstücken, in dieser Zeit übersetzte sie zwei Romane aus dem Amerikanischen. Im Exil schrieb sie Drehbücher und Romane. Sie geriet in Vergessenheit, bis sie und ihr Werk in den 1980er Jahren wiederentdeckt wurde.
This essay identifies in the materialist strand of world literature theory, especially Pascale Casanova and the Warwick Research Collective, a reliance upon a priori structures (the worldsystem) and prioritisation of the literary registration of inequality. By contrast, I contend, world-literary critics who wish to maintain the dissident spirit of postcolonialism ought to demonstrate a shared equality. By reference to the philosophies of Bruno Latour, Gilles Deleuze and Jacques Rancière, this essay sets out the case for an alternative to world-systems critique: one that maintains literature's potential for creating new forms of resistance, dissent, and, crucially, equality.
A trio of themes recur across prominent Western theories of laughter: violence, the human/nonhuman, and error. The paper traces this trio through a series of frequently cited paradigms for understanding laughter, including superiority, incongruity and relief theories, Henri Bergson's theory of laughter and V. S. Ramachandran's false alarm theory; and argues that it reflects a shared, if partially submerged concern with the instability and demise of a particular figure of the human, one that is circumscribed by the culturally specific (if globally influential) values of Eurocentric/Western thought, largely corresponding to Sylvia Wynter's 'Man'. This suggests that laughter has an ambiguous immanent potential for both undermining and/or reasserting, de- and/or restabilising the illusion of Man's universalizing drive to identify itself with the human per se.
Niklas Luhmann hat die europäische Moderne als einen Ausdifferenzierungsprozess beschrieben, der am Ausgang des sogenannten Mittelalters begann und alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste. Das betrifft auch und insbesondere 'die Technik'. Deren herausragende Vertreter sind die Ingenieure, die man als Gewinner des Modernisierungsprozesses bezeichnen kann, erlebte dieser Berufsstand doch vor allem seit der Aufklärung eine Erfolgsgeschichte, die nicht mehr nur die Erweiterung und Ausdifferenzierung des eigenen Berufsbilds umfasste, sondern auch in die Gesellschaft hineinwirkte und diese wesentlich veränderte. [...] Insbesondere die Sozial- sowie die Technikgeschichtsforschung haben jedoch herausarbeiten können, dass sich eine Kluft auftat zwischen der Selbstwahrnehmung 'der Ingenieure' als "Intellektuelle[] der Technik" und der aus ihrer Sicht noch immer nicht angemessenen Fremdwahrnehmung durch eine doch maßgeblich durch Technik bestimmte und von ihr profitierenden Gesellschaft. Dieser häufig beklagten Verteilungsungerechtigkeit symbolischen Kapitals in Form von Sozialprestige liegen allerdings realgesellschaftliche Defizite zugrunde, insbesondere die Unterrepräsentation in politischen Gremien oder, wie der Hochofentechniker Joseph Schlink schon 1879 aufzählte, in Sachen "Besitz, Macht und Einfluss, Mitgliedschaft von parlamentarischen, kommunalen und sonstigen Körperschaften, Titel und Orden, Hoffähigkeit und Adel u. dergl.". Auf beide Problembereiche reagierten 'die Ingenieure' mit diskursiven, pragmatischen und institutionsorientierten Strategien. Aus 'der Technik' als dem schlechthin Anderen der Kultur wurde eine technische Kultur als harmonische Verbindung, sie wurde also als Anpassung beider Sphären konzeptualisiert. Den Autobiographien deutscher Ingenieure kommt insofern eine herausragende Rolle in diesem Prozess zu, als sie die persönlichen Erfahrungen der Autoren mit einem gruppenbezogenen Anspruch an die Gesamtgesellschaft verknüpfen. In diesem Sinne nutzten die Ingenieure gezielt die nach Peter Sloterdijk zentrale Gattungsfunktion für ihre Zwecke: "Lebensgeschichtliches Erzählen ist eine Form sozialen Handelns - eine Praxis, in der individuelle Geschichten mit kollektiven Interessen, Werten, Phantasien und Leidenschaften zusammengewoben werden". Das Ziel dieses sozialen Handelns war die Sichtbarmachung, Anerkennung und Etablierung des auf technischem Gebiet genial-tatkräftigen Individuums, des 'großen Mannes'. So konnten 'die Ingenieure' ihren Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe erheben und sich selbst aus der als demütigend empfundenen Anonymität herausführen. Mittels ihrer oft mit Vorbild- und Appellfunktionen versehenen Autobiographien gelang es ihnen, aktiv eine neue, technische Kultur zu gestalten.
Der Ansatz der Dekonstruktion von Jacques Derrida (1967) stellt sich gegen die Universalität sprachlicher Bedeutungskonstrukte, während sie Wörtern einen historischen Charakter zuordnet und auf die Relevanz von Subjekt, Zeit und Ort, insbesondere im Rahmen der schriftlichen Kommunikation hinweist. Die Terminologieforschung jedoch fordert eine möglichst genaue konzeptionelle Definition von Termini, damit Fachkommunikation tunlichst eindeutig verlaufen kann. In der Übersetzungswissenschaft hingegen besteht insbesondere im Rahmen theoretischer Forschungsarbeiten neben der Anforderung an eine standardisierte Terminusdefinition auch die Kritik an der Varietät der Definitionen eines Terminus. Die vorliegende Arbeit fokussiert sich auf die Darstellung einer neuen Perspektive für die Herangehensweise an Definitionen übersetzungswissenschaftlicher Terminologie. Mit Bezug auf Paradigmenwechsel innerhalb der Übersetzungswissenschaft wird in diesem Zusammenhang die historische Entwicklung der konzeptionellen Inhalte der Termini Äquivalenz, Übersetzung und Übersetzer(in) unter dem theoretischen Blickwinkel der Dekonstruktion betrachtet. Diese Arbeit soll dabei den Beleg dafür erbringen, dass Definitionen bestimmter Termini der Übersetzungswissenschaft nicht als konkret begrenzt und universal aufgefasst werden sollten.
A temática da decadência em "Os Buddenbrook: decadência duma família" é explícita: materializa-se enquanto subtítulo da obra literária. Em "Os Maias", repete-se a estrutura essencial do título anterior, focalizando-se um nome de família. Sabe-se, entretanto, de antemão, que o enredo contemplado pelo romance de Thomas Mann perpassará por episódios cujo desfecho está no desnodar decadente das gerações da família Buddenbrook, o que, ainda que não explícito, repete-se na obra de Eça de Queirós. Para concretizar de forma estética a temática pretendida, ambos os autores focalizam cada geração das famílias ficcionais, desnudando dialeticamente pensamentos e papeis sociais. Desse desnudamento, um traço se mostra compartilhado por quase todas as personalidades: a preocupação para com a perpetuação do nome da família; fardo que pressagia a total extinção de ambos os antropônimos. A fim de demonstrar a relação da nomeação com a temática da decadência familiar, este artigo propõe um diálogo entre a Literatura Comparada e a Antroponomástica Ficcional - estudo dos nomes ficcionais - e situa o processo da despersonalização subjetiva do nome de família para a concretização do ápice da decadência: o desparto social do nome.
Im Folgenden werde ich dem Konnex zwischen Blogging und Blogger (als Machtausübung bzw. als Machtinstanz) und den von der Staatsmacht unterstützten Narrativen und Deutungsmodellen anhand jener Weblogs nachgehen, die sich mit dem im Frühjahr 2014 begonnenen Krieg im Donbass befassen. Die Verschiebung des Fokus auf die Nachmaidan-Ukraine ist durch zwei Überlegungen bedingt. [...] Aus dem (eigentlich recht übersichtlichen) Korpus einschlägiger "creative workers' blogs" habe ich zwei Weblogs zur Analyse gewählt, die 2014 entstanden. Wie viele andere dieser Art wurden auch sie in Buchform veröffentlicht, was insofern günstig ist, als die für die Printveröffentlichung unerlässlichen Transformationen des Onlineoriginals die Einmischung des Machtdiskurses, insbesondere in Form der (Selbst-)Zensur, sichtbar machen. Konkret geht es um Olena Stepovas Weblog und Buch "Alles wird die Ukraine sein oder Die Geschichten aus der ATO-Zone" ("Vse budet Ukraina! Ili Istorii iz zony ATO", 2014) sowie um das Weblog Boris Chersonskijs und dessen Buchversion "Das offene Tagebuch" ("Otkrytyj dnevnik", 2015). [...] Durch den Vergleich dieser zwei so unterschiedlichen Blogkonvolute werde ich in zwei nachfolgenden Kapiteln die Darstellungen des Donbass bzw. der Südukraine als eines innerukrainischen 'Orients' und die damit verbundenen identifikatorischen Selbstverortungen der jeweiligen Blogger:innen vergleichend analysieren. Fokussieren werde ich mich einerseits auf die Abweichungen von den Mainstreamnarrativen, die eine mögliche subversive Dimension des Kriegsbloggings abstecken, andererseits auf die normativen Interpretationsmuster, die sich beide Blogger:innen im Zuge des Krieges zu eigen machen und die die anfängliche'Abweichung' eliminieren oder relativieren. Diese Anpassung an die vorgegebenen Deutungsmodelle werde ich dann im letzten Abschnitt als eine ambivalente Haltung untersuchen, die eine Wahrnehmung des Krieges als einer inneren Kolonisierung impliziert und diese mit Verhaltensweisen der Selbstkolonisierung zu neutralisieren versucht. Anschließend werde ich auf die innere Verbindung dieser doppelten Subalternität mit dem veränderten Status des Bloggings in der Ukraine nach 2013/14 eingehen. Es wird hierbei die These aufgestellt, dass die Selbstwahrnehmung des Landes als einer Postkolonie in der Krisensituation tendenziell eine innere Polarisierung hervorruft und dadurch die Blogger entweder zu einer defensiven oder zu einer offensiven Haltung zwingt, die jeden grundsätzlichen Dissens ausschließt.
Lisa Cronjäger untersucht entlang einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden forstwissenschaftlichen Taxationskarte von Claës Wilhelm Gyldén, auf welche Weise Zukunft als kartografische Projektion entworfen wird. Das Ziel von Gyldén, den Holzertrag eines Waldes prognostisch zu regulieren, wird hierbei über diagrammatische und kalkulatorische Berechnungs- und Darstellungsverfahren erst möglich gemacht. Die Imagination einer genauen Planbarkeit von Ressourcennutzung, kartografische Genauigkeit und die Unterdrückung von (subalternen) Waldnutzungspraktiken bedingen sich in dieser Konstellation gegenseitig.
Die Berücksichtigung in Literaturgeschichten gilt als notwendige Bedingung, dass Au-tor*inn*en postum Aufmerksamkeit zuteilwerden kann. Gesellschaftliche Prozesse der Kanonisierung werden von Literaturgeschichten nicht nur beobachtet und dargestellt, vielmehr wirken diese selbst als einflussreiche Kanoninstanz. Bislang wurden Aussagen über "Kanon und Kanonisierung als Problem der Literaturgeschichtsschreibung" meist nur durch Hypothesenbildung oder anhand von Fallbeispielen gemacht. Eine breite empirische Untersuchung literaturgeschichtlicher Kanonisierungsprozesse steht aus.
Her geçen gün yabancı ve yabancılık gibi kavramların önem kazanması ve filoloji alanlarında xenolojik ve fenomenolojik çalışmaların artması nedeniyle çeviribilimsel bir yaklaşımın da sergilenmesi zaruri olmuştur. Çeviribilim çerçevesinden bakıldığında, çevirmenler her kaynak metinde yabancıyla karşı karşıya gelmektedir. Çevirmen hem kaynak metni anlamak ve ardından da çeviride karşılaştığı yabancı fenomenleri erek metne aktarmakla yüklümdür. Bu bağlamda hem xenoloji hem de fenomenolojiden yararlanmakta fayda vardır çünkü xenolojinin temel amacı yabancı sorunu ortaya çıkarmaktır; fenomenoloji ise yabancı fenomeni görünür kılar. Waldenfels yabancı fenomenoloji kuramında yabancı deneyimini ve yabancıyı anlamayı esas alarak yabancıyı derecelendirmektedir. Waldenfels'in yaklaşımı çeviri alanına uyarlandığında, kaynak metinde geçen yabancı fenomenleri derecelerine göre ayrıştırmak çevirmenlere kolaylık sağlamaktadır. Bu nedenle bu çalışmada Katharina Reiss'ın metin tipleri modeli, Bernhard Waldenfels'in yabancılık dereceleri üzerine olan çalışmasıyla ilişkilendirilerek, Reiss'ın yaklaşımına yeni bir bakış açısı sağlanacaktır. Çevirmenler, çeviri eyleminin başlangıç safhasında, metin tipini belirlerken, hangi tür yabancılık ile karşılaşabileceklerini saptayabilir ve çevirmen kararlarını gözden geçirebilirler. Her bir saptama yabancıyı görünür kıldığından, bu görünürlüğün çeviri sürecinde de etkili olabileceği söylenebilir zira yabancının erek metinde ne kadar görünür olacağı metin tipine göre ve çevirmenin Skopos'una göre değişiklik gösterecektir.
Neben dem hervorgehobenen Profil einer Epoche, das nicht zuletzt anhand öffentlicher Gedenkfiguren und regelmäßig gefeierter Geistesheroen entsteht, gibt es so etwas wie einen Negativabdruck: All dasjenige, was ein Zeitalter nicht bereit ist, im Gedächtnis zu behalten, was es an sich selbst vergisst. Als mir vor einiger Zeit der Begriff Krausismus begegnete, in einer Zeitschrift mit kleiner Auflage, hatte ich sofort das Gefühl, eine solche verlorene Spur berührt zu haben. Nicht nur war mir der Begriff ungeläufig, noch mehr überraschte mich meine Ignoranz, nachdem mir durch Nachforschen zunehmend klar wurde, was mir bis zu diesem Tag entgangen war. Ich fragte mich, wie das jemandem passieren konnte, der sich, neben Literatur und Medien, seit Jahrzehnten intensiv mit Philosophen und ihren verschiedenartigen Denkweisen beschäftigte? Was war Krausismus? Eine philosophische Schule wie der Hegelianismus, eine ideologische Richtung ähnlich dem Marxismus, eine politische Bewegung wie der Leninismus? Karl Christian Friedrich Krause, auf ihn ging die Bezeichnung Krausismus zurück, und offenbar war er Teil einer Nicht-Erinnerung geworden, die vermutlich nicht bloß bis zu mir reichte.
"BRIDGIT" ist der Titel des iPhone-Videos, mit dem Charlotte Prodger 2018 den Turner Prize gewann. Der Beitrag zeigt, dass Prodger einerseits an bereits etablierte Ästhetiken des experimentellen queeren Kinos anknüpft, andererseits aber auch über diese hinausgeht. Die ästhetische Verschränkung von Körpern, Begehren, Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, Landschaft, Zeit und Queerness ist - auch im Medium des digitalen Filmes - skulptural und setzt darin eine virtuelle Kraft frei, die sich den neoliberalen Normalisierungsprozessen und der Nicht-Intelligibilität von queeren Begehrensformen in subtiler Weise widersetzt.
Wenn queeres Kino und queere Ästhetiken das Prekäre dokumentieren, dann intendiert dies auch eine Revolution im Symbolischen. Oder anders formuliert: ihr ästhetisches Unterfangen, Rahmungen zum Vorschein zu bringen, ohne sie zu wiederholen, erweist sich, wie die hier versammelten Beiträge namhafter Film-, Medien- und Queertheoretiker*innen zeigen, als prekäre Form der Dokumentation. Die Beiträge bieten dabei zugleich einen Einblick in den gegenwärtigen Stand des queeren Kinos - seiner Filme, Videos und visuellen Installationen.
Die gemeinsam geschriebene Doppelpublikation "ONE + ONE" und "I – I" des Philosophen Armen Avanessian und der Literaturwissenschaftlerin Anke Hennig bildet den Abschluss ihrer Arbeit am Spekulativen, die 2012 an der FU Berlin begonnen wurde und maßgeblich zum Import des spekulativen Realismus in Deutschland beitrug. [...] Das Spannende an den Büchern ist jedoch nicht ihre kultur-, literatur- und sprachtheoretische Beschäftigung mit der Gegenwart, sondern die textperformative Ebene, auf der die Autor*innen unentwegt den Prozess des "Zu-zweit-Schreibens" mitthematisieren, um so dem Kreativitätsdispositiv und dem solipsistischen Schreiben an der Universität eine 'echte' kooperative Schreibweise entgegenzusetzen. Ihr Vorhaben amalgamiert auf diese Weise Theorie, Biographie und Fiktion, wobei das kooperative Schreiben nicht nur als Beiwerk für den Transport der Inhalte fungiert, sondern auch zu einem stilistisch-performativen Leitprinzip wird.
Grundlegend und vereinfacht gefasst sind zwei Prinzipien in der Tradierung literaturhistorischen Wissens zu unterscheiden, das umfassende lexikalische Sammeln zum einen und das auswählende Herausheben zum anderen. Literaturhistorisches Wissen in einem doppelten Sinn (in einem allgemeinen und in einem engeren Verständnis) wird seit der Antike in Form umfassender Verzeichnisse und Kataloge zusammengestellt, vor allem als Wissen über konkrete Werke und Autoren.
Mit der Darstellbarkeit des Malprozesses an sich beschäftigt sich der Maler Fernand Léger. Denn durch die Materialisierung dieser Prozesse, d. h. durch den Versuch der exakten Dokumentation, werden sie analysierbar und ihr Potential allererst begreifbar. Technische Genauigkeit wird hierbei zum methodischen Ideal.Fernand Léger strebt mit dem Gemälde "Les éléments mécaniques" nach einer auf ihre Grundbedingungen spezialisierten Malerei, um mit den maschinellen Produkten der industriellen Moderne in Konkurrenz zu treten. Larissa Dätwyler verdeutlicht, dass er sich hierfür neben dem geometrischen Formenschatz insbesondere die disziplinierte Arbeitshaltung der Zeitgenossen zu eigen macht. Durch die kontrollierte Ordnung seiner eigenen Imaginationsleistung reflektiert Léger in mehrjähriger, präzisierender Überarbeitung den eigentlichen malerischen Prozess der Bildgenese. Zudem leitet die resultierende bildimmanente Mechanik idealerweise die kombinatorische Fähigkeit der Rezipient*innen, um die Bildherstellung nachzuvollziehen. So veranschaulicht Légers Malerei die Entstehung eines Bildraums und somit die Voraussetzung für neue Möglichkeitsformen.
An den Begriff der Genauigkeit ist ein Gemenge von Medien, Techniken, Fähigkeiten und Parametern gekoppelt, die der vorliegende Sammelband zusammenführen möchte, um Genauigkeit als vielfältige, instabile Kategorie vorzustellen. Ihr scheinbares Gegenstück, die Imagination, wird zweifellos mitgedacht, aber anstatt einer dichotomen Gegenüberstellung soll im Sinne von Musils "phantastischer Genauigkeit" gerade auf die Verwobenheit und gegenseitige Abhängigkeit von Imagination und Genauigkeit aufmerksam gemacht werden - freilich im Wissen um die Unabschließbarkeit, die sich mit der Öffnung auf ein immer schon disparates und heterogenes Problemfeld aufdrängt.
Viele der rezenten Studien zur Ästhetik des Monströsen nehmen auf Michel Foucaults Vorlesungsreihe Les anormaux Bezug, in der er u. a. der diskursiven Transformation des Monsters von einem somatischen hin zu einem moralischen Abweichungsphänomen nachgeht. Dass Foucaults Ausführungen mitunter nur unzureichend differenziert sind, soll der vorliegende Beitrag nachweisen. Auch wenn die Literatur in Les anormaux eine untergeordnete Rolle spielt, eher als peripheres Beleg- oder Anschauungsmaterial dient denn als Gegenstand einer eigenen Untersuchung, ist gerade sie es, die Foucaults genealogische Analyse der notwendigen Komplexitätssteigerung zuführen und ihre Leerstellen ausfüllen kann. Zu diesem Zweck werden exemplarisch Ovids Lykaon-Mythos aus dem ersten Buch der Metamorphosen sowie Mary Shelleys Roman Frankenstein, or, The Modern Prometheus herangezogen. Neben der gebotenen Korrektur von Les anormaux vermögen beide Texte Foucaults Befund von der diskursiven Produktivität des Monströsen zu bestätigen und anzureichern: Sowohl Ovid als auch Shelley dokumentieren eine Wertschätzung und Wertschöpfung des Monströsen und stehen damit quer zu konventionellen Narrativen, die das Monster als etwas rein Destruktives und Dämonisches oder als das radikal Andere des Menschen in Szene setzen, ohne auf die kulturellen Profite und anthropologischen Einsichten zu reflektieren, die sich aus jenem gewinnen lassen.
While Freud regularly discusses the Oedipus complex in the context of the Sophoclean tragedy, the founding document of the psychoanalytic theory of narcissism lacks any trace of the mythological substrate. Both Narcissus, who contributed no less than his name to the psychic phenomenon of narcissism, and Ovid, in whose Metamorphoses the most elaborate and effective elaboration of the myth of Narcissus is laid down, form a conspicuous blank space in Freud's 'Introduction to Narcissism'. This article will attempt to explain this lack of tradition and, in addition, discuss the figure of Pygmalion as a productive form of narcissism that can supplement Freud's theory.
First as a student of comparative literature with a focus on German and then as a professor of German Studies, I’ve been traveling back and forth to Germany for three decades, almost exactly the age of the reunified German state. I have stayed for weeks, for months, or for more than a year at a time. I have lived in Leipzig, in Cologne, and in Munich, but I have spent by far the most time in Berlin, a place that I have come to consider a second home. Throughout that time, Germany has changed enormously, both demographically and attitudinally. In relation to diversity in general and in its relationship to Jews.
İkinci Dünya Savaşı süresince maddi ve nesnel olarak büyük kayıplar ve yıkımlar gerçekleşmiştir. Edebiyat alanında da bu savaşın, insan dünyası üzerinde yıkıcı etkisi konu edilmiştir. Makalenin amacı, dönemin etkilerinin Türk ve Alman edebiyatçıları tarafından benzer imgeler üzerinden nasıl yorumlandığını karşılaştırmalı edebiyat bilimi düzleminde incelemektir. Bu bağlamda Wolfgang Borchert, Attila İlhan ve Nazım Hikmet'in metinlerinde "duvar" imgesinin kullanımları üzerinden savaşın ve dönemin etkileri konusundaki yaklaşımları incelenmiştir. Wolfgang Borchert'in öyküsünde ve Attila İlhan'ın şiirinde "duvar"ın, "toplumsal vicdan"ı temsil eden bir imge olarak kullanıldığı ve kişileştirme yoluyla karakter olarak işlendiği sonucuna varılmıştır. Nazım Hikmet'in şiirinde ise; "ideolojik" bir temsil üstlendiği görülmüştür.
Die Arbeitsbedingungen und fachlichen Strukturen der Germanistiken jenseits von Deutschland, Österreich und der Schweiz sind anders - diese verschiedenen Voraussetzungen bringen sowohl andere Probleme als auch andere Potenziale mit sich. Mein Beitrag soll daher sowohl die Debatte über die digitale Lehre in der Germanistik in den DACH-Ländern um eine belgische sowie niederländische Außenperspektive befruchten als auch den Austausch mit anderen Germanistiken ermöglichen, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten. Vor diesen Hintergründen möchte der Beitrag zunächst darstellen, 1) wie sich die germanistische Lehre an der Universiteit van Amsterdam bereits vor der Covid-19-Pandemie gestaltete und inwiefern asynchrone und digitale Verfahren dabei eine wichtige Rolle spielten, sowie 2), welche positiven wie auch problematischen Effekte die spontan notwendige Umstellung vom Campus- auf den Online-Unterricht im März 2020 an der Universiteit Antwerpen mit sich brachte. Schließlich sollen daraus 3) Empfehlungen zu einem Blended Learning in der germanistischen Lehre nach der Covid-19-Pandemie sowie 4) Implikationen für die Bildungspolitik und für die Germanistik abgeleitet werden.
Zentrale Voraussetzung einer differenzierten Bewertung der germanistischen Online-Lehre wäre, zunächst die Rolle der Germanistik in der digitalen Gesellschaft sowie den Wert digitaler Bildung zu bestimmen. Dazu wiederum wäre es wichtig, das Wissen, die Methoden, die Begriffe und Fragestellungen der Germanistik in ein Verhältnis zu den Potenzialen und Problemen der digitalen Gesellschaft zu setzen. Zwar adressieren Arbeitsgruppen in den Fachverbänden diese Aufgabe, die germanistischen Teildisziplinen gehen damit aber unterschiedlich um. Als Teildisziplin hat somit auch eine medienkulturwissenschaftlich ausgerichtete (Gegenwarts-)Literaturwissenschaft die Pflicht, nach den Folgen des Medienwandels und der vernetzten Kommunikation im World Wide Web für die Literatur, ihren Betrieb und für die literaturwissenschaftliche Forschung und Lehre zu fragen. Auf einer Konferenz zum Thema "Während und nach Corona: Digitale Lehre in der Germanistik" erscheinen vor diesem Hintergrund zwei Fragen besonders relevant: 1. Welche digitalen Standards und Erkenntnisse müsste die Germanistik etablieren, um gelungene Lehre in der digitalen Kultur überhaupt bewerten zu können? 2. Wie wäre ein Teilbereich der germanistischen Literaturwissenschaft als Netzliteraturwissenschaft zu konzipieren, der das notwendige Wissen über die vernetzte Kommunikation in der digitalen Gesellschaft bereithält und zur Etablierung von Standards des digitalen germanistischen Lernens beitragen könnte?
Handkes Zeichnungen erschienen 2019 bei Schirmer/Mosel. Der Band versammelt 104 grafische Blätter aus seinen Notizbüchern (die Faksimiles aus dem Novum Testamentum Graece eingerechnet, sind es 106 Farbtafeln); die Mehrzahl der Zeichnungen war bereits in "Vor der Baumschattenwand nachts" (2016) enthalten. Diese bislang letzte publizierte Sammlung mit einer Auswahl an Notaten trägt den Untertitel "Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007–2015". Handke kam dem Vorschlag des Galeristen Klaus Gerrit Friese nach, seine grafisch festgehaltenen "Zeichen und Anflüge" in dessen Berliner Galerie zu zeigen und entnahm seinen Notizbüchern die unverkäuflichen Blätter. Nachdem sie 2017 in Berlin zu sehen waren, sind sie inzwischen möglicherweise in den Bestand des Deutschen Literaturarchivs Marbach übergegangen, das im selben Jahr 154 der hemdtaschengroßen Journale angekauft hat. Als Katalog zur Ausstellung ist 2019 der schön gestaltete Zeichnungen-Band mit einem Essay des italienischen Philosophen Giorgio Agamben verlegt worden.
In seinen während des Ersten Weltkriegs entstandenen "Betrachtungen eines Unpolitischen" widmet sich Thomas Mann im letzten Kapitel der Ironie, die er als dem Radikalismus diametral entgegengesetzte Haltung versteht (seltsamerweise erwähnt er die soeben stattgefundene Oktoberrevolution kein einziges Mal). Diese Ausführungen, die keine klare Definition des Phänomens bieten, sowie spätere Äußerungen, in denen er sich als Erzähler zur Ironie bekennt, haben erheblich darauf gewirkt, dass der sechs Jahre nach den Betrachtungen veröffentlichte, aber schon vor diesen erstmals konzipierte "Zauberberg" in der Rezeption als stark ironiehaltiges Werk betrachtet wurde und wird. Auch Musils "Mann ohne Eigenschaften" wird häufig mit Ironie in Verbindung gebracht, und eine vorurteilslose Lektüre des Romans kann diese Verbindung nur bestätigen, auch wenn Musil in seinen Schriften den Begriff selten erwähnt. Sind die beiden Spitzenromane der Zwischenkriegszeit durch ihren Ironiegehalt vereint - oder eher, weil dieser sich unterschiedlich darbietet, getrennt?
Gegen das tödliche Schweigen und die Einsamkeit setzt Robin Campillo in seinem Film "120 BPM" das gemeinsame Sprechen, die Versammlung. Basierend auf Campillos Erinnerungen an die politische Arbeit mit ACT UP Paris in den frühen 1990er Jahren rückt der Film die wöchentlichen Versammlungen der Gruppe in den Fokus. Ausgehend von diesen werden die queeren Zeitpolitiken des Films herausgearbeitet und gezeigt, dass der Film die Kämpfe nicht einfach als vergangene zeigt; vielmehr etabliert er eine Ästhetik des Präsentischen, die die Verbindungen von Gegenwart und Vergangenheit als performative Vergegenwärtigungen und potentielle Aktivierungen betont.
Ingeborg Bachmanns Text "Undine geht" wird mitunter als Verhandlung einer existentiellen "Sprach- und Wahrnehmungskrise" verstanden. Hier verabschiedet sich die mythisch-märchenhafte Protagonistin aus der Kommunikation mit ihrem menschlichen Gegenüber Hans. Die Sprache, so die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen, ist jedoch noch auf einer weiteren Ebene von Relevanz: Undine geht wurde zuerst im Radio gesendet und steht somit in der Nähe des Hörspiels. Auch wenn Undine geht nicht als Hörspielfassung publiziert ist, wurde der Text 1961 doch zunächst als solche mit Bachmann als Sprecherin produziert und gesendet. Erst im Anschluss erfolgte die Publikation in einer Zeitung und in Prosaform. Um dieser Textgenese gerecht zu werden, bedarf es in der Analyse einer nicht rein literaturwissenschaftlichen Perspektive, sondern auch der Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen. Für Undine geht sind Stimmlichkeit und Sprachvollzug wesentlich. In der durch Mündlichkeit und Performanz geprägten Ersterscheinung ist die Sprache nicht nur literarisch, sondern auch als Klangkörper von Gewicht. In der Auseinandersetzung mit diesen formalen Momenten des Textes, die in einem transmedialen Verständnis als theatral gelten können, soll deutlich werden, wie Undines Rede durch und für eine mündliche Darbietung generiert wurde. Dabei besteht Bachmanns Text keineswegs nur aus Undines Ansprache an Hans, sondern aus einer mindestens dreistelligen Konstellation [...] In einem ersten Schritt soll Bachmanns Zugriff auf das Märchen im Vergleich mit früheren Bearbeitungen des Stoffes betrachtet werden. Insbesondere in der Gegenüberstellung mit der Bühnenfassung lassen sich Veränderungen und Zuspitzungen feststellen, die den Hörspiel-Charakter des Textes hervortreten lassen. In einem zweiten Schritt stehen die einander sehr ähnlichen Fassungen des Hörspielmanuskripts, der Radio-Aufnahme und des Buchabdrucks von Undine geht im Vordergrund. Hierbei werden die verschiedenen medialen Erscheinungsformen und die Bedeutung des originär Akustischen von Bachmanns Textversionen verhandelt.
Детская литература как одно из средств пропаганды сталинизма способствовала господству номенклатуры, относительно длительному сохранению тех форм общества и государства, которые сложились после »термидора« 1929 года.
[Die Kinderliteratur als eines der Propagandamittel des Stalinismus trug zur Herrschaft der Nomenklatura und zur relativ langen Erhaltung derjenigen Gesellschafts und Staatsformen bei, die nach dem »Thermidor« von 1929 entstanden waren.]
(Fateev 2007, S. 300)
Wie Andrej Fateev in dieser Aussage als eines der Ergebnisse seiner Studie zu Kinderliteratur und Stalinismus konstatiert, hatte die Literatur für Kinder und Jugendliche in der Sowjetunion ein besonderes Gewicht als Propagandainstrument. Nachvollziehbar wird dies nicht nur an dem Aufkommen neuer Themen und Inhalte in der Jugendliteratur, sondern vor allem auch an der breiten Diskussion und der Gründung neuer Institutionen...
Rezension zu Sara Buekens, Émergence d’une littérature environnementale. Gary, Gascar, Gracq, Le Clézio, Trassard à la lumière de l’écopoétique, Genève, Droz, 2020, 536 pages.
Im Beitrag werden zwei filmische Positionen zusammengeführt. In beiden finden sich Inszenierungen von Gemeinschaft und Prekarisierungen als ästhetische Aushandlungen einer Politisierung der Filmform. Während der schwedische Film "Folkbildningsterror" (2014) politische Zustände im Musical zur Disposition stellt, untersucht der US-amerikanische Thriller "The Owls" (2010) die Konsequenzen homophober Entwürfe lesbischer Figuren im Film, die bis in die aktuelle Filmgeschichte reichen.
J.R.R. Tolkien's "enigmatic and unfinished" book "The Silmarillion" - posthumously published by Christopher Tolkien in 1977 - is often referred to as being a mythic work, or a collection of mythopoeic tales, but what exactly does that description entail? Logically, Tolkien's writings, by virtue of being labeled 'mythic' alongside of mythologies such as "The Iliad", "Metamorphoses", and "The Odyssey", must possess qualities which warrant the description. While Tolkien's mythology is in a different category since his mythology is specifically designed for Middle-earth, there are still important overlaps through which inspiration and influences may be traced.
J.R.R. Tolkien's "enigmatic and unfinished" book "The Silmarillion" - posthumously published by Christopher Tolkien in 1977 - is often referred to as being a mythic work, or a collection of mythopoeic tales, but what exactly does that description entail? Logically, Tolkien's writings, by virtue of being labeled 'mythic' alongside of mythologies such as "The Iliad", "Metamorphoses", and "The Odyssey", must possess qualities which warrant the description. While Tolkien's mythology is in a different category since his mythology is specifically designed for Middle-earth, there are still important overlaps through which inspiration and influences may be traced.
The following review presents an anthology about literary presentations of space or field as a concept described by Pierre Bourdieu in Central Europe. The an-thology is conceived as a case study on the plurilingual Transylvanian town of Brașov in the first half of the 20th century and is the result of a six-year-project at the Institute for Culture and History of Southeastern Europe in Munich. The editors are Enikö Dácz and Réka Jakabházi.
Adalbert Stifters im Jahr 1857 publizierter Roman "Der Nachsommer" ist oft als Bildungs- und Erziehungsroman, als humanistische Bildungsutopie oder als restaurative Sozialutopie gelesen worden. Im Gefolge dieser Gattungszuordnungen wurden vor allem Fragen der Bildung und Ästhetik, der Sozialgeschichte und Politik zu Deutungszugängen des Texts. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, den Roman aus einer ganz anders gerichteten Perspektive wahrzunehmen: in seiner Bezogenheit auf das Thema des Todes und der Endlichkeit. Bereits das Titelwort "Nachsommer" deutet auf Vergänglichkeit hin. Gelesen als Metapher für Lebensphasen verweist es sowohl auf eine erneut intensivierte Vitalität als auch auf den näher rückenden Tod. Die Jahreszeiten Herbst und Winter fungieren traditionell als Todesallegorien. Unter dem Vorzeichen dieser Allegorik entfalten viele der im Roman dargestellten Zeitphänomene auch eine eschatologische Bedeutungsdimension. [...] Eschatologische Aussagen können als Aussagen über ein Endschicksal der Welt, der Menschheit und / oder eines einzelnen Menschen aufgefasst werden. In der Epoche des österreichischen Spätbiedermeier, das heißt in den mentalitätsgeschichtlichen Milieus Stifters und seiner Leserschaft, steht angesichts dieses Aussagekomplexes nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit einer in der Dogmatik der christlichen Religion und des katholischen Lehramts verankerten Glaubenshoffnung zur Diskussion. Können die Menschen auf ein zukünftiges Leben in der himmlischen Gemeinschaft mit Gott hoffen oder sind entsprechende Hoffnungen skeptisch zu verabschieden? Auch wenn konkrete kirchlich-theologische Positionen zum Themenkreis der 'letzten Dinge' in ihrer Komplexität hier nicht differenziert zu entfalten sind, so können sie dennoch als Bezugspunkt für ein Nachdenken über Stifters Pessimismus dienen. Werden die Glaubensinhalte der christlichen Eschatologie skeptisch verneint, so soll diese Negation als zentraler Aspekt des dem Stifter'schen Werk von Sebald attestierten Pessimismus verstanden werden. Sicherlich handelt es sich bei dieser Begriffsbestimmung um eine Hilfskonstruktion mit vorläufigem Charakter. Zumindest gibt sie aber eine erste Definition und vermeidet ein Sprechen in vagen Polysemen. Wie unscharf und wie wenig aussagekräftig die Termini Optimismus / Pessimismus zur Beschreibung des Romans von 1857 letztendlich sind, wird im weiteren Verlauf des Beitrags zu zeigen sein. Im Anschluss an die Lektüre zweier Textpassagen aus dem "Nachsommer" möchte ich hierzu den Blick auf ideengeschichtliche Kontexte des Romans richten. Dabei soll vor allem auf zwei Texte ausführlicher eingegangen werden: auf Bernard Bolzanos "Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" und Johann Gottfried Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit".
Sinnvoller als eine kategorische Scheidung beider Begriffe, zu der Kant neigt, wäre ein differenzierendes Konzept, demzufolge das Schöne als ein Sonderfall des Angenehmen zu bestimmen wäre, genauer als das Angenehme, sofern es ohne sinnliche Bestimmtheit betrachtet wird. Das Angenehme und das Schöne wären dementsprechend gar nicht als Gegensätze zu erfassen, sondern als komplementäre Bestandteile des ästhetischen Wohlgefallens. Gegen Kants in gewisser Weise kontraproduktiven Versuch, das ästhetische Urteil von allen sinnlichen Bestimmungen frei zu halten - denn was anders als sinnliche Wahrnehmung bedeutet der griechische Ausdruck 'aisthesis', der am Ursprung der Ästhetik steht? - wäre das Schöne als ein bloßer Teilbereich des Angenehmen zu fassen. Kants Purismus des Schönen, der Versuch, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und dem von allen Sinnen freien ästhetischen Urteil zu unterscheiden, läuft so letztlich ins Leere. Wo Kant gute Gründe hat, zwischen dem Schönen und dem Guten zu unterscheiden, da gibt es ebenso gute Gründe, das Schöne und das Angenehme einander anzunähern. Was damit in Frage steht, ist eine Ästhetik des Angenehmen, die die Theorie des Schönen als einen Teilbereich in sich einschließen würde, zugleich aber andere Begriffe wie den des Lieblichen, Reizenden, Rührenden, Exquisiten u. a. einbeziehen würde, um der ausschließlichen Betrachtung des Schönen und des Erhabenen entgegenzuwirken, wie sie Kant im Anschluss an Burke für die Ästhetik etabliert hat. Eine neue, an den Sinnen ausgerichtete Ästhetik könnte so unter dem Titel des Angenehmen firmieren.
Die Redaktion von "leibniz" hat für die Ausgabe ihres Magazins zum Thema "Anfänge" (Heft 3, 2020) dreizehn Menschen aus der Leibniz-Gemeinschaft gebeten, ihre liebsten ersten Sätze kurz zu kommentieren. Eva Geulen, Direktorin des ZfL, hat hierfür einen Satz aus Heimito von Doderers Roman "Ein Mord den jeder begeht" ausgewählt. Wir veröffentlichen auf unserem Blog die Langfassung ihres Textes.
Archivieren in die Zukunft
(2021)
Eva Geulens Text dokumentiert ihren Beitrag zu der vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am 24. März 2021 virtuell veranstalteten Tagung "#LiteraturarchivDerZukunft". Er wurde ursprünglich als Replik auf die dort diskutierte These 3 entworfen: "Literaturarchive schaffen den literarischen und intellektuellen Kanon mit: Das Archivieren in die Zukunft setzt die stetige Diskussion der Entwicklungen in Literatur und den öffentlich wirksamen Bereichen von Wissenschaft und ein Diskutieren der Kriterien dessen voraus, was es zu archivieren gilt - und was nicht."
What if one thinks not in terms of shared meanings or contents, but rather in terms of iterable gestures available for reenactment in different times and places in order to conceive of a cross-cultural world of literature? This essay sets out to explore, within the discursive mode of the lyric, whether the notion of gesture could be more helpful than meaning-based translation to account for the transferability of literary texts and for envisioning a form of community based on the shareability of certain gestures. To do so, it will look at how the act-event of reading described by Derek Attridge is processed in two cases in which poems are transferred from an earlier authoritative tradition into a new one.
The contentious discourse around world literature tends to stress the 'world' in the phrase. This volume, in contrast, asks what it means to approach world literature by inflecting the question of the literary. Debates for, against, and around 'world literature' have brought renewed attention to the worldly aspects of the literary enterprise. Literature is studied with regard to its sociopolitical and cultural references, contexts and conditions of production, circulation, distribution, and translation. But what becomes of the literary when one speaks of world literature? Responding to Derek Attridge's theory of how literature 'works', the contributions in this volume explore in diverse ways and with attention to a variety of literary practices what it might mean to speak of 'the work of world literature'. The volume shows how attention to literariness complicates the ethical and political conundrums at the centre of debates about world literature.
Editorial [2021, deutsch]
(2021)
Editorial [2021, english]
(2021)
Treue Bilder, quantifizierte Prozesse : fotografische Exaktheit zwischen Hochschule und Industrie
(2021)
In Stephan Grafs Beitrag, der sich mit den Vorgängen im Photographischen Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich befasst, nimmt die Imagination eine bloß marginale Rolle ein. Wie Stephan Graf zeigt, gewinnt nach 1945 John Eggerts auf die 1920er Jahre zurückgehende Erforschung der physikalisch-chemischen Grundlagen der Fotografie an Bedeutung, d. h. das Streben nach Quantifizierbarkeit des fotografischen Prozesses. Der deutsche Physikochemiker verspricht sich schließlich Mitte der 1950er Jahre von der exakten Messung und Analyse abstrakter, in Graustufen gehaltener Bildresultate eine Systematisierung der experimentellen Variationen und letztlich eine gezielte Reproduzierbarkeit des Belichtungsverfahrens. In diesem Sinne werden die Voraussetzungen für die Entstehung und Sichtbarwerdung eines bloß latenten Bildes geklärt und grafisch veranschaulicht.
Paul Gilroy verweist in seinem "The Black Atlantic" auf Walter Benjamin, dessen Konzept der "Urgeschichte" der Moderne ihm insbesondere wegen aus der jüdischen Mystik übernommener Elemente für die Konstruktion einer Alternative zur Siegergeschichte geeignet erscheint. [...] Wie lässt sich ein notwendig diskretes mystisches Eingedenken gegen das unausweichlich dröhnende Triumphgeschrei der Sieger diskursiv umsetzen? So klar auch sein mag, dass die konstitutive Voraussetzung für die Konstruktion und das Schreiben der Geschichte der Unterdrückten nur darin liegen kann, den Namenlosen zuzuhören, bleibt gleichwohl die Frage nach der Möglichkeit der Darstellung einer Geschichte der Namenlosen. Lässt sich Geschichte überhaupt jenseits einer vermeintlich unentrinnbaren Dialektik von Siegern und Verlierern, mithin anders darstellen als in der Sprache und aus der Warte der Sieger? Um Missverständnissen vorzubeugen: Im Folgenden soll nicht Walter Benjamin zum Vordenker des Post-Kolonialismus stilisiert oder in aktuelle de-kolonialistische Debatten hineingezwängt werden. Stattdessen dient Gilroys intuitive Hinwendung zu Benjamin als Ausgangspunkt für die Suche nach einer Alternative zu der in Europa bis heute bestimmenden Geschichtsschreibung aus der Warte der Sieger.
'Haben Sie heute schon über das Wetter geredet? Gestern oder vorgestern vielleicht? Und was wollten Sie damit sagen?' - Würden wir so auf der Straße angesprochen, wären wir vermutlich einigermaßen irritiert. Nicht nur wüssten wir das nicht so genau anzugeben, sondern wären auch von der Frage überrumpelt. Ein unbehagliches Schweigen weckte den Wunsch, eine Bemerkung über das Wetter zu machen, aber das ginge in dem Fall ja nicht. Und dann ist da noch der Trivialitätsverdacht: der Verdacht, im fraglichen Moment nichts anderes zu sagen gehabt zu haben; der Verdacht, eine Person zu sein, die redet, obwohl sie nichts zu sagen hat. Ernstlich fürchten muss man solche Fragen natürlich nicht. Aber interessant sind sie doch. Was und wie wir kommunizieren, wenn wir über das Wetter sprechen, scheint ebenso offen, wie die Frage, was dieser Kommunikationsakt über uns aussagt. Um dem Sprachspiel namens Wettergespräch nachzugehen, lohnt der Blick in den Fundus der Literatur- und Geistesgeschichte. Dort sind unterschiedliche Antwortmöglichkeiten eingelagert, oft in Gestalt von Aperçus, die es zugleich charakterisieren und konterkarieren.
Die europäischen Reisenden des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wählten oft die Überfahrt durch die Meerenge von Messina, um nach Sizilien zu gelangen. So avancierte die Schiffsreise durch den so genannten 'Faro di Messina' (auch: 'Pharo' oder 'Pharus') zum Auftakt und ersten Höhepunkt vieler Sizilienreisen. Neben der räumlichen Erschließung sowie zunehmend auch genießenden Wahrnehmung der beiden einander gegenüberliegenden Küstenlandschaften Kalabriens und Siziliens faszinierte viele Autoren der Reiseberichte bei der Passage der Meerenge insbesondere die Begegnung mit den Naturkräften des Meeres. [...] Im Hinblick auf die stark zunehmende Ausdifferenzierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisbereiche in dieser Zeit erfolgte außerdem eine Kritik an den überlieferten Wahrnehmungsmustern, da die Reisenden um 1800 die klassischen Vorstellungsbilder nicht nur reaktivieren, sondern mit Hilfe 'neuer' naturkundlich-fundierter Argumente ebenso relativieren oder sogar negieren konnten. Reisende Geologen und Philologen begegneten der unheimlichen Natur nun zunehmend mit kritischer Überprüfung und Analyse. Neben sich neu entwickelnden Erklärungsmodellen für Naturphänomene und -katastrophen, lebte die Erinnerung an die antiken Dichtungen zwar weiter, aber die eigene Erfahrung und Wahrnehmung des Meeres blieben nicht mehr auf die literarischen Vorlagen und den unmittelbaren Vergleich mit den antiken Textstellen beschränkt. [...] Neben diesen wissenschaftshistorischen Entwicklungen seit der zweiten Jahrhunderthälfte, die hier nur kurz skizziert werden können, rückte die Meerenge von Messina mit den neuerlichen Sizilienerkundungen seit Riedesel auch gerade deswegen ins Blickfeld der Reisenden, da sie mit der Mythosrezeption und der aufkommenden bevorzugten Homerlektüre der klassizistischen Ästhetik korrelierte.
Dieser Beitrag fokussiert die Arbeiten von Charlotte Prodger als ein Beispiel für gegenwärtige künstlerische Strategien, die sich bewusst einer Vereinnahmung bzw. einer Kommodifizierung queerer Ästhetiken verweigern und stattdessen die Notwendigkeit einer queeren Selbstbestimmung und damit einer queeren Bewegungsgeschichte (erneut) in den Vordergrund rücken. Insbesondere der 2019 bei der Biennale in Venedig gezeigte Film "SaF05" wird dabei im Zentrum der Überlegungen stehen - eine Arbeit, die in gewisser Weise an experimentelle Prozesse des New Queer Cinema anknüpft und die Betrachtenden in und durch queere (Erinnerungs-)Landschaften führt.
Der Stil erlebt derzeit eine neue Konjunktur bis in die Essayistik und das Feuilleton hinein. Dies zeigt allein das umfangreiche und viel beachtete Buch Michael Maars, das sich über weite Strecken in Stiluntersuchungen deutschsprachiger Autor*innen ergeht (Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur, Hamburg: Rowohlt, 2020). Während Maar den Bonvivant gibt, der anhand stilistischer Eigenschaften opulente und kennerische Werturteile über die moderne Literatur fällt, hat sich in der Literaturwissenschaft mit der sogenannten Stilometrie demgegenüber eine prosperierende Forschungsrichtung etabliert, die als korpusbasiertes quantitatives Verfahren zu den asketischsten geisteswissenschaftlichen Spielarten überhaupt zählen dürfte. Die stilistischen Usancen, die Maar und die Stilometrie ihrerseits an den Tag legen, wenn sie über Stil schreiben, verraten neben ungenannten Animositäten dabei auch manch geheime Komplizenschaft.
Lilian Haberer versteht die kuratorische Praxis als eine "kollektive Praxis des Undoing und Verlernens", die ermöglichen soll "offene Räume" (Haberer) des Austausches und der Kontroverse zu schaffen. Anhand der Analyse zweier im Kollektiv kuratierter Ausstellungsprojekte, der 10. Berlin Biennale, "We don't Need Another Hero", und der Ausstellung der Akademie der Künste der Welt in Köln, "Geister, Spuren, Echos: Arbeiten in Schichten", legt Haberer das Potenzial des 'Post-Kuratorischen' offen, das sich durch eine Distanzierung von der Kunstproduktion zugunsten langfristiger, oft intermedialer und -disziplinärer Projekte kennzeichnet, in denen Methodologien und Forschungsansätze im Kollektiv reflektiert werden. Dabei beschreibt Haberer das kuratorische Dispositiv als ein kollektives 'Agencement' im Sinne Deleuze und Guattaris und als eine Praxis, "die Bewegung zwischen Dingen adressiert und dabei eine Koexistenz sowie Strukturveränderungen berücksichtigt" (Haberer) und die den Blick für non-humane beteiligte Instanzen öffnet.
Wenn augenblicklich Kunst, so die These, vom ehemals hehren Podest im Idealfall origineller, zumindest aber per Gesetz unter der Vorstellung der Urheberschaft verankerter und daher sakrosankter individueller Eigenleistung zum jederzeit und von jedermann bearbeitbaren Allgemeingut wird, passiert etwas, was es so wohl noch nicht gab, und auf das wiederum Kunst selbst reagiert oder nämlich allein schon aus Gründen der Selbsterhaltung zu reagieren hat. Kunst ist, wenn man so will, gleichsam demokratisiertes Allgemeingut, wird also nicht mehr als autark vorliegendes Artefakt erkannt, welches kompromisslos für sich steht und notwendigerweise, um Kunst zu sein, für sich stehen muss. Daran gekoppelt ist eine neue Selbstverständlichkeit, mit welcher gewisse, noch zu diskutierende Ansprüche an kulturelle Erzeugnisse gestellt, gar rigoros gefordert und diese Forderungen zudem von Seiten des vormals schweigenden Publikums selbst durchgesetzt werden. Beides, die Aktionen des vordem nur rezipierenden Publikums und jetzigen (Teil-)Akteurs einerseits, die Reaktion der Kunstschaffenden andererseits, wird an dieser Stelle nachvollzogen, analysiert und eingeordnet.
Während alle vom Klima sprechen, scheint mit dem Anbruch des Anthropozäns die Zeit der Natur passé. Doch ohne den Begriff der Natur wäre ein Großteil der modernen Philosophie nicht zu denken. Hanna Hamel vermittelt in ihrer Studie zwischen historischen Positionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und ökologischen Theorien der Gegenwart. Ihre Lektüre ausgewählter Texte von Kant, Herder und Goethe entwickelt Grundzüge eines historisch-theoretischen Selbstverständnisses, das über die bloße Abgrenzung von "modernen" Naturkonzepten hinausführt. In der Konfrontation mit aktuellen Reflexionen von Bruno Latour, Timothy Morton und David Lynch wird ein Anliegen erkennbar, das alle Positionen verbindet. Mit Goethe lässt es sich als Darstellung und Theoretisierung "übergänglicher" Natur bezeichnen. Die historischen Texte werden zu einer kritischen Ressource für die Gegenwart.
Sensibel auf Abstand
(2021)
Abstand kann schwer zu ertragen sein, vor allem dann, wenn er unfreiwillig eingehalten werden muss. Sollten Abstandsregeln und Masken in näherer Zukunft fallen, gibt es trotzdem gute Gründe, immer wieder auf Distanz zu seinen Nächsten zu gehen. Das lässt sich zum Beispiel nachlesen bei Nietzsche. Unter dem Titel "Von der Nächstenliebe" fällt Zarathustra ein wenig schmeichelhaftes Urteil über jene Motive, die die Menschen zueinander treiben.
In den Filmen "Old Joy", "Wendy and Lucy" und "Certain Women" werden die zentralen Themen der US-amerikanischen Regisseurin Kelly Reichardt um Armut und Prekarität als Beschäftigung mit Zeitlichkeit deutlich. Der Artikel interessiert sich weiterführend dafür, wie diese Fragen in ihren Filmen auch als queer gelesen werden können. Hierfür werden verschiedene Bewegungen untersucht, die chrononormativen Zuschreibungen entgegenstehen und potentielle Öffnungen und Gefüge zeitigen. Es handelt sich um filmische Unterbrechungen und kleine Brüche, die eine Unklarheit, Abweichung oder Übertretung und die Neuformulierung von Zeit(ver)läufen und Räumen erlauben. Damit offenbart sich ein filmisches Denken, das sich im Bild selbst, in der Kameraführung oder durch Verbindungen in der Montage äußert.
Einleitung [Leseprobe]
(2021)
Können literarische Texte Verbindlichkeit stiften? Diese Frage untersucht Joachim Harst anhand von Ehe- und Ehebruchsgeschichten, indem er leidenschaftliche Liebe auf ihre Bedeutung für soziale Bindung hin untersucht. Liebe ist unabdingbares Element gesellschaftlicher Verbindlichkeit, kann diese durch die ihre Exzessivität aber auch bedrohen. Während literarische Ehebruchsgeschichten häufig die Sprengkraft dieser Dialektik bewusst in den Vordergrund stellen, streben Religion und Recht an, sie einzuschränken und zu regulieren. Doch produziert nicht bereits das Reden über Liebe Affekte, sodass jeder Versuch der Einschränkung im Grunde unfreiwillig seiner Subversion zuarbeitet? Auch von Seiten der Literatur wird diese Gegenseitigkeit immer wieder betont: Romane wie Gottfrieds "Tristan" oder Goethes "Werther" wiederholen unermüdlich, dass Liebe durch Lesen entsteht - und fordern umgekehrt ein liebendes Lesen ein. Sie wollen "Philo-Logie" hervorrufen - literarisch geweckte "Liebe zum Logos". Der Frage, in welchem Verhältnis diese Liebe wiederum zur Literaturwissenschaft stehen kann, wird hier auf den Grund gegangen.
Am 14. und 15. Februar 2020 fand an der Universität Bern der Workshop "Vergleich - Übersetzung - Weltliteratur. Komparatistische Praktiken in der Diskussion" statt. Die Veranstaltung war zugleich Auftaktveranstaltung für das geplante DFG-Netzwerk "Undiszipliniert? Komparatistische Praktiken und ihre gesellschaftliche Bedeutung" und wurde organisiert von Melanie Rohner, Netzwerkmitglied an der Universität Bern, und den Antragstellern des Netzwerks, Joachim Harst und Alena Heinritz. Das Programm des Workshops setzte sich aus netzwerkinternen Besprechungen und drei öffentlichen Impulsvorträgen zusammen, an die jeweils eine Diskussion eines ausgewählten Textes anschloss.
Ambiguitäten der futuristischen Wortkunst zielen im Kern selbst auf die Aporien der avantgardistischen Programmatik, die durch die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben einmal mehr ihre Bezugsgrößen verunklart. Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen die rhetorischen Voraussetzungen, die ein derartiges entdifferenzierendes Kommunikationspostulat des Futurismus überhaupt erst ermöglichen. Dem revolutionären Sprachkonzept der 'parole in libertà' ('befreiten Worte) geht die Idee einer verkürzten und intensivierten Sprache voraus, die es auf ihre Kürze-Verfahren zu untersuchen gilt. Die 'römische Kraftform', für die insbesondere Sallust als stilprägend gelten kann, eröffnet einen subtilen Bezugspunkt für ein Paradigma viriler Performanz, deren Wirkungsästhetik sich aus der kurzen, prägnanten, aber auch obskuren Form speist. Ausgehend von den antiken Figurationen der 'brevitas' sowie deren verstärkter Rezeption im späten 19. Jahrhundert befasst sich der vorliegende Beitrag mit den futuristischen Dynamisierungsutopien. Dabei wird die These vertreten, dass die frühen Manifeste des Futurismus vor dem Hintergrund der beschleunigten Zeiterfahrung als dynamische Kraftformen konzipiert sind. Eine detaillierte Lektüre soll hierbei eine spezifische Produktionsästhetik der Kürze freilegen. Sie zeigt sich am Analogiestil, der eine Verschmelzung differenter Gegenstände zum Ziel hat und vermittels seiner vitalisierten Komprimierungen, so zumindest lautet das häufig formulierte Anliegen der Manifeste, zum 'Wesen' der technischen Materie vorzudringen vermag. Die rasche Zirkulation der sprachlichen Ausdrücke wiederum orientiert sich konzeptuell an einer telegrammatischen Codierung der verkürzten Kraftformen. Abschließend gilt es die Möglichkeit dunkler Kürze ('obscura brevitas'), welche die semantischen Nuancierungen des Textes im hermeneutischen "Dämmerlicht" belässt, in Bezug auf den Adressatenkreis von Marinettis Lebenskunst zu betrachten. Durch die Dekontextualisierung der Analogien läuft die vitalisierte Sprache nämlich selbst ständig Gefahr, unverständlich zu sein. Es wird sich zeigen, dass der futuristische Dichter auf seine symbolistische Herkunft verwiesen bleibt, aus der heraus die Unverständlichkeit für das Publikum gerade als Indiz für das Gelingen einer hermetischen Literaturkonzeption gewertet wird. Im Sinne dieser asymmetrischen Kommunikationssituation ist schließlich auch der performative Handlungsimpuls des Künstler-'Souveräns' zu bedenken, der die kurzen Formen ins Zentrum einer Taten-Rhetorik rückt, deren eigenlogische Chiffrierung nur dem futuristischen Genius verständlich ist.
Felix Hempe beschreibt eine dritte, zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung vermittelnde Position der 'disziplinierten Subjektivität', die Siegfried Kracauer im Kontext des Methodendiskurses im US-amerikanischen Bureau of Applied Social Research in den 1950er Jahren entwickelte. Mit der Zuordnung von Genauigkeit zu statistischen Methoden und Präzision zur Beschreibung sozialer Verhältnisse, besteht Kracauer darauf, dass Genauigkeit im Sinne einer Exaktheit der Naturwissenschaften die sozialen Ereignisse und Bedingungen der Lebenswelt als eigentlicher Gegenstand der Sozialforschung nicht "präzise" genug bestimmen kann. Umgekehrt kann qualitative Forschung, die nicht zu einem gewissen Grad kodiert und operationalisierbar gemacht wird, keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Entscheidend wird in dieser Konstellation nun das, was Kracauer eine "disziplinierte Subjektivität" nennt. Methodisch kann sie erst dann gelingen, wenn beispielsweise kritisch reflektiert wird, wie die Imagination des Forschersubjekts vom zu untersuchenden Material angeregt wird. Hempe deutet dieses Verfahren deswegen auch als Vermittlung zwischen Genauigkeit und Imagination.