800 Literatur und Rhetorik
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Die 1920 publizierte Schrift 'Jenseits des Lustprinzips', die Sigmund Freud selbst als metapsychologische Darstellung charakterisiert hat, entwickelt ein Lebenskonzept, das über die damals wie heute bestehenden Gegensätze zwischen den Begriffen der Natur- und Geisteswissenschaften hinausweist. Wenn ich diese Schrift im Folgenden als Baustein eines nach wie vor brisanten Lebenswissens jenseits der 'zwei Kulturen' lese, dann wird dabei von manchen Umwegen zu sprechen sein, von Umwegen des 'Lebens' wie von Umwegen der Methode im buchstäblichen Sinne.
1896, kurz nach dem Tod Paul Verlaines, veröffentlicht der tschechische Künstler Karel Hlaváček seinen Gedichtband 'Pozdě k ránu' ('Spät, gegen Morgen'). Hlaváček wirkt im Kreis Arnošt Procházkas und Jiři Karásek ze Lvovices, Begründer und Herausgeber der Literaturzeitschrift 'Moderní Revue', die mit ihrer dezidiert europäischen Ausrichtung ein Gegengewicht zum nationalistisch-patriotischen Literaturbetrieb in Prag um 1900 bildet. Durch seine Verbindungen zum eher national konservativ orientierten Sokol ist das Verhältnis zu Arnošt Procházka zeitweilig angespannt, wenngleich die Missstimmung weniger konträren politischen Überzeugungen der beiden Männer als den divergierenden Attitüden von 'Moderní Revue' und Sokol geschuldet ist. Seit der Gründung der Zeitschrift 1894 entwirft der junge Hlaváček mehrere Cover für die 'Revue' und ist vorrangig an der Illustration des Blattes beteiligt. Das Oeuvre des mit 23 Jahren früh an Tuberkulose verstorbenen Tschechen ist überschaubar: neben Literaturkritiken und kürzeren Essays und den genannten Gedichtbänden sind 'Mstíva kantiléna' ('Die Rache der Kantilene') und die posthum veröffentlichen 'Žalmy' ('Psalme') seine einzigen Werke. In 'Pozdě k ránu' findet sich das Prosagedicht 'Subtilnost smutku', das nicht nur in einzigartiger Weise eine Auseinandersetzung der in Westeuropa beliebten Topoi und Schreibverfahren der Décadence darstellt, sondern darüber hinaus als kritischer Kommentar zum intellektuellen Milieu im Prag des ausgehenden 19. Jahrhunderts betrachtet werden kann. Der Wahnsinn fungiert in diesem Text im gleichen Maße als komplexe Metapher wie als strukturierendes Leitmotiv und stellt einen Knotenpunkt der verschiedenen Disziplinen, in denen der Begriff "Décadence" im Fin de siècle ungeheure Popularität erlangt, dar. Wenn der Kritiker Herben mit seiner polemischen Kritik versucht, Hlaváček als geisteskrank zu diskreditieren, so verfehlt er seine Absicht dergestalt, dass er nicht nur die Antihaltung des Künstlers befeuert, sondern er identifiziert darüberhinaus das Element, welches sich als Schlüssel zur Dechiffrierung der Stellung von 'Subtilnost smutku' in einem europäischen Rahmen erweisen soll.
Im alltäglichen Gespräch lässt sich beobachten, dass bei vielen in der Bundesrepublik aufgewachsenen Personen die Kinderbücher Astrid Lindgrens einen hohen Stellenwert und einen starken Einfluss auf Lebensvorstellungen und Werte des zwischenmenschlichen Miteinanders haben. Wenn die eigene Lebenswelt - wie etwa bestimmte Situationen, Lebensumstände, zwischenmenschliche Beziehungen, die äußere Umwelt, das Lebensgefühl - als besonders beglückend, ja geradezu als ideal empfunden werden, ziehen viele Menschen Parallelen zu den in den Texten Astrid Lindgrens modellierten Lebenswelten. Umgekehrt wird auch versucht, die eigene Lebenswelt nach dem Muster dieser Textwelten zu gestalten, um das Leben so schön, harmonisch und beglückend zu gestalten, wie es die Figuren in den Texten vorleben. Da Texte, die einen solch prägenden Eindruck auf uns ausüben und einen so hohen Stellenwert für die eigenen Lebensvorstellungen und die Lebensgestaltung haben, in der Regel auch an die Nachkommen weitergegeben werden, werden die in den Büchern modellierten Lebensvorstellungen und Werte häufig über mehrere Generationen hinweg tradiert und erhalten einen wichtigen identitätsstabilisierenden Platz im kollektiven Gedächtnis. So können bestimmte Welt-, Lebens- und Wertkonstrukte innerhalb einer Gesellschaft über einen längeren Zeitraum Bestand haben und ein fester Teil des gesellschaftlichen Diskurses werden. Ausgehend von diesen Beobachtungen und Hypothesen scheint es lohnend zu sein, folgende Fragen zu stellen: 1. Lässt sich die eingangs formulierte Alltagsbeobachtung von der Wichtigkeit der Bücher Astrid Lindgrens für die Lebensvorstellungen vieler Deutscher auch durch eine umfassende Untersuchung, also durch konkretes Zahlenmaterial, bestätigen? Oder allgemeiner gefragt: Gibt es Bücher, in denen viele Menschen eine ideale Lebenswelt wiederfinden? 2. Falls es wirklich eines oder mehrere solcher Bücher gibt: Wie genau sieht eine solche ideale Lebenswelt für uns aus? Um diese Fragen zu beantworten, wende ich eine Untersuchungsmethode an, die aus drei Schritten besteht: erstens einer quantitativen Befragung zur Ermittlung eines Textkorpus; zweitens einer literaturwissenschaftlichen Analyse der so ermittelten Texte zur Untersuchung der Rezeptionsangebote dieser Texte; drittens Leitfadeninterviews, um herauszuarbeiten, welche der Textangebote tatsächlich von den Rezipienten aktualisiert werden.
Chanel - metaphysisch
(2015)
Monologic dialogues and dialogue structures in Wedekind's 'Frühlings Erwachen' A drama presents a plot which is constituted through dialogues between the characters. This article therefore attempts to explore several instances of dialogue from Wedekind's 'Frühlings Erwachen' by conversationalanalytical means; such an approach facilitates a clear description of the characters' failures in their interactions. This in turn reveals the specific features of literary dialogues from this period, which are constituted in writing and thus precisely planned; an author not only imitates acts and actors via a play's dialogues, but fundamentally creates and moulds the characters through dialogue.
Musik und Dichtung sind spätestens seit dem Hohelied Salomos und den bacchantischen Hymnen an Dionysos engstens verbunden. Der gregorianische Gesang des Mittelalters benutzte die lateinischen Texte der Liturgie, Liedkomponisten seit Schubert nehmen ihre Libretti von literarischen Texten her, und Debussys Prélude à l'après-midi d'un faune setzt eine Bekanntschaft mit Mallarmés Gedicht voraus. Die Form der Sonate unterliegt Thomas Manns 'Tonio Kröger' (1903) sowie auch Hermann Hesses 'Der Steppenwolf' (1927), und andere musikalische Formen werden häufig mit raffinierter Bewusstheit angewendet, wie etwa in Robert Pingets 'Passacaille' (1969), Herbert Rosendorfers 'Deutsche Suite' (1972) oder Anthony Burgess' 'Napoleon Symphony' (1974). Thomas Bernhard in 'Der Untergeher' (1983) sowie französische, englische, und amerikanische Schriftsteller derselben Jahre nahmen Bachs Goldberg Variationen als Grundlage für Thema und/oder Struktur ihrer Romane. Und mehrere Komponisten haben versucht, die Musikstücke, die in Thomas Manns 'Doktor Faustus' (1947) so ausführlich beschrieben werden, zu realisieren. So verwundert es kaum, wenn gewisse Motive, die mit der Musik eng verwoben sind auch in Dichtungen auftauchen.
Drei Wellen der Bach-Begeisterung lassen sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich unterscheiden. In der dritten Welle der Bachbegeisterung, erschienen im Jahr 2000 neben der maßgeblichen Biographie des Musikwissenschaftlers Christoph Wolff auch solche popularisierenden Lebensdarstellungen wie Malte Korffs 'Johann Sebastian Bach' in der Reihe DTVPortraits oder RuthAnn Ridleys Roman 'Bach's Passion' (1999), in der Bachs 'Leidenschaften' - vor allem sexuell und religiös - die Hauptrolle spielen. In 'Evening in the Palace of Reason' (2005) präsentiert James R. Gaines eine faszinierende und gut informierte Doppelbiographie von Bach und Friedrich II., die in der Begegnung der beiden Aufklärungs-Genies 1747 in Potsdam und der Komposition von Bachs Musikalischem Opfer kulminiert. (Bereits 2003 wurde im Schweizer Film 'Mein Name ist Bach' [Regie von Dominique de Rivaz] dieselbe Begegnung unter Betonung des sexuellen Lebens beider Männer dargestellt.) Der große Dirigent John Eliot Gardiner lokalisierte seinen Bach (2013) im Kontext der Familie Bach, seiner Altersgenossen Scarlatti und Händel, sowie der gesellschaftlichen und musikalischen Kultur des Jahrhunderts und diskutierte vor allem seine Vokalwerke mit einer Einsicht, die sich nur nach Jahren der persönlichen Praxis und Erfahrung ergibt.
Die literarischen Werke dieser dritten Welle, die nun genauer betrachtet werden sollen, lassen sich wiederum in drei Gruppen unterteilen, von denen die erste und dritte eine theologische Dimension aufweisen, die sich von der rein strukturellen Verwendung von Bachs Goldberg Variationen wie sie sich in der zweiten Welle finden ließ, differenziert.
The biography and cultural activities of Count Albert Josef Hodic has become a central theme of a whole series of publications on the history and cultural history, in which this nobleman is approached from the biographical as well as cultural and historical perspective. Although in the specialized literature Albert Joseph Hoditz is associated with the attributes oscillating between creativity, versatility, pacifist and cosmopolitan attitude, the pursuit of literary history to illuminate his numerous representations in European literature is rather marginal. The article aims to contribute to the approximation of the image of Count Hoditz in German literature.