830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Editorial
(2018)
»Under the pavement lies the beach« or »Power to the imagination« – these slogans characterise the movement of ’68, which publicised its social and political demands in a creative and programmatic fashion. The year 1968 not only marks a significant upheaval in what was then West Germany, it also has strong East and West European as well as international dimensions. ’68 can be understood as a cipher for protest movements which re-evaluated and challenged institutional structures, revolutionised gender and intergenerational relations and radiated into daily life, family life as well as individual lifestyles. Literature and the media, too, were subjected to critical revision, new formats and writing styles established, traditions either abandoned or continued within new paradigms.
Children’s literature and media were significantly shaped by these developments. Their contents were influenced by the anti-authoritarian discourse in education and by the demands of emancipation movements, their themes and aesthetics by politicised concerns and a new orientation towards sociopolitical reality. Children’s literature scholars have studied and identified ’68 as a paradigm shift. Recent studies, however, have also looked at developments in the late 1950s and early 1960s, pointing out that changes on the literary-aesthetic and content levels actually started much earlier.
Fifty years after this ›paradigmatic‹ caesura, the second volume of the Yearbook of the German Children’s Literature Research Society brings the cipher »’68« into focus to discuss historical and contemporary dimensions of this junction. Articles from a variety of European perspectives examine the manifold implications of this topic from theoretical and subject-oriented angles and in its different medial forms, and discuss these in the context of their significance for today’s children’s and young adult culture.
Beyond this focus theme, and in line with the concept of the Yearbook, two fundamental theoretical and historical articles on questions of children’s literature and media present current avenues and perspectives. And the ten articles are followed by book reviews. Thanks to the involvement of the members of the German Children’s Literature Research Society (GKJF), over 30 relevant publications from the past year are discussed in individual and collective book reviews.
Editorial
(2017)
Editorial
(2017)
»Erinnerungen aus der Kindheit kann man doch nur haben, wenn man selbst kein Kind ist« (de Velasco 2013, S. 10) – so kommentiert die 13-jährige homodiegetische Erzählerin Nini im Roman Tigermilch das Auftauchen einer ersten bewussten »richtige[n] Kindheitserinnerung« (ebd.). Angesprochen ist damit der zunächst paradox anmutende Zusammenhang von Kindsein und Erinnern. Sich selbst im umfassenderen Sinn daran zu erinnern, wie es ist, ein Kind zu sein, gehört zu den Fähigkeiten, die Kindern nicht zugesprochen werden. Die Kindheit gilt als das Lebensalter, in dem man ganz bei sich ist, in dem alles gegenwärtig und vieles möglich ist. Pläne und Perspektiven richten sich in die offene Zukunft, im Rückblick über Erinnerungen zu verfügen und sie als Teil der eigenen Biografie zu begreifen, wird selbst zum Zeichen der Differenz: ein Indiz dafür, dass die Kindheit bereits an ihr Ende gekommen ist....
"Henrik Ibsen", notiert Friedrich Nietzsche in einem Fragment der späten achtziger Jahre, ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem "Willen zur Wahrheit" hat er sich nicht von dem Moral-lllusionismus frei zu machen gewagt, welcher "Freiheit" sagt und nicht sich eingestehen will was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des "Willens zur Macht" seitens derer, denen sie fehlt. [ ... ] Auf der dritten sagt man "gleiche Rechte" d.h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.
In "Ecce homo" wird der Spott beiläufiger und schärfer: Im Grunde sind die Emancipirten die Anarchisten in der Welt des "Ewig Weiblichen ", die Schlechtweggekommenen, deren unterster Instinkt Rache ist. Eine ganze Gattung des bösartigsten "Idealismus" - der übrigens auch bei Männern vorkommt, zum Beispiel bei Henrik Ibsen, dieser typischen alten Jungfrau - hat das Ziel das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu vergiften ...
Die Rede ist natürlich von "Ein Puppenheim" alias "Nora", dem Drama der Doppelmoral und Geschlechterrollen, der Gleichberechtigung und Emanzipation. Das allerdings gibt hier nur ein Anschauungsbeispiel ab für ein sehr viel grundsätzlicheres Problem der Nietzscheschen Spätphilosophie: des "Willens zur Wahrheit" und zur "Freiheit" als heimlichen Erscheinungsformen des "Willens zur Macht".
In Georg Büchners 'Lenz' wird keine Befreiungstat geschildert, keine Heilung präsentiert, wohl aber der Wahnsinn als Forderung nach einer dringend notwendigen Veränderung der bestehenden Situation. Die Erzählung 'Lenz' gibt bis in die jüngste Forschung hinein Anlaß zu kontroversen Diskussionen um die literarische Darstellung von Depression, Melancholie und Schizophrenie. Grundlage dafür ist die grundsätzliche Übereinstimmung darüber, dass 'Lenz' als kritische Psychopathographie eingeschätzt wird: "In dem Fragment 'Lenz' führt Georg Büchner eben diese psychisch-geistige Krankheit vor, deutet die Syndrome an, entwirft ein vielseitiges Psychogramm dieses Martyriums, von der Deutungsmethode her durchaus objektiv-sachlich, aber eindeutig mit humaner Tendenz und Parteilichkeit."
'Lenz' wird gleichermaßen als "definierbares psychopathographisches Krankheitsbild, als pathologisches Phänomen der Selbst-Entfremdung des Menschen mit den Effekten Angst und Wahnsinn, als eindrucksvolle Psychiatriekritik und als Kritik am "patriarchalische[n] Gefüge von Familie, Religion und Priesteramt" gelesen. Die Vielfalt der Forschungsansätze artikuliert zwei grundsätzliche Annahmen. Einerseits steht das subjektive Empfinden des psychisch Schwerkranken im Zentrum des Interesses, andererseits wird das bewusste Leiden Lenzens an seiner sozialen Umgebung und an der mangelhaften psychiatrischen Sensibilität betont, ein Leiden, das die Titelfigur in den Wahnsinn treibt.
Musils Drama "Die Schwärmer" ist in der Forschung bisher vergleichsweise stiefmütterlich behandelt worden. Diese Tatsache ist erstaunlich, da Musil es selbst als sein "Hauptwerk" bezeichnet hat. Für das Drama wurde ihm außerdem auf Vorschlag von Alfred Döblin der Kleist-Preis zuerkannt und anspruchsvolle Literaturkritiker besprachen es lobend nach seiner Erstaufführung im Berliner "Theater der Stadt". Freilich düpiert das Drama zunächst die Erwartung an die gattungstypische Handlungsorientierung.
Statt dessen finden sich ausgedehnte philosophische Diskussionen über die Bedingungen von Erkenntnis, über Partnerschaften und über Fragen der Lebensführung. Bianca Cetti Marinoni hat gezeigt, wie wichtig die gedanklich-konzeptionelle Arbeit auch für die Entstehung des Stückes war und es deshalb als "essayistisch" bezeichnet. Erschwerend kommt hinzu, daß die Verhandlungen zwischen den Figuren in einer äußerst dichten Sprache gestaltet sind, in die zahlreiche Metaphern und Vergleiche eingeflochten sind.
Wenn das Begehren liest...
(2012)
Das queere Lesen entdeckt anscheinend vor allem solche Bedeutungen und Zusammenhänge, die nicht primär zu sehen sind und unter der Text/Bild-Oberfläche verborgen liegen. Epistemologisch gesehen rechnet es also mit der Kategorie des Verstecks, wie sie von Eve Kosofsky Sedgwick beschrieben ist. Als ob es um das Sehen des Versteckten, des Nicht-Sehbaren gehen würde, also im Prinzip um eine Vorstellung, eine Imagination, das Sehen dessen, was man sehen möchte.
Am Anfang der folgenden Auseinandersetzung mit der Queer-Theorie wäre sicherlich die einschlägige Definition von queer zu erwarten und dennoch könnte hier solche Erwartung enttäuscht werden, da sich um den genannten Begriff teilweise die Aura des Undefinierbaren, Wandelbaren und Uneindeutigen gebildet hat, die ihn zugleich als fließendes Feld von vielen Möglichkeiten erscheinen lässt. Es widerstrebt sogar manchen Theoretikerinnen und Theoretikern, diesen Begriff in eine Zwangsjacke von terminologischer Einengung zu bringen und ihn somit erstarren zu lassen. Auf der einen Seite birgt diese Einstellung Gefahr, dass infolge der Absenz einer exakten Definition die Queer-Theorie nur als intuitive und unzulänglich ausgearbeitete Theorie angesehen wird, und dass sie um so mehr um Akzeptanz ringen muss (vgl. Jagose 2005: 124). Auf der anderen Seite ist es eben die Unbestimmtheit, die den "vielbeschworenen Charme" von queer ausmacht.
Neben dem hervorgehobenen Profil einer Epoche, das nicht zuletzt anhand öffentlicher Gedenkfiguren und regelmäßig gefeierter Geistesheroen entsteht, gibt es so etwas wie einen Negativabdruck: All dasjenige, was ein Zeitalter nicht bereit ist, im Gedächtnis zu behalten, was es an sich selbst vergisst. Als mir vor einiger Zeit der Begriff Krausismus begegnete, in einer Zeitschrift mit kleiner Auflage, hatte ich sofort das Gefühl, eine solche verlorene Spur berührt zu haben. Nicht nur war mir der Begriff ungeläufig, noch mehr überraschte mich meine Ignoranz, nachdem mir durch Nachforschen zunehmend klar wurde, was mir bis zu diesem Tag entgangen war. Ich fragte mich, wie das jemandem passieren konnte, der sich, neben Literatur und Medien, seit Jahrzehnten intensiv mit Philosophen und ihren verschiedenartigen Denkweisen beschäftigte? Was war Krausismus? Eine philosophische Schule wie der Hegelianismus, eine ideologische Richtung ähnlich dem Marxismus, eine politische Bewegung wie der Leninismus? Karl Christian Friedrich Krause, auf ihn ging die Bezeichnung Krausismus zurück, und offenbar war er Teil einer Nicht-Erinnerung geworden, die vermutlich nicht bloß bis zu mir reichte.