830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Friedrich Wilhelm Carové wurde am 20. Juni 1789 als Sohn eines kurtrierischen Hofrates in Koblenz geboren. Er besuchte das Koblenzer Gymnasium, an dem damals Joseph Görres lehrte, und absolvierte in Koblenz ein Studium an der von den Franzosen eingerichteten Rechtsfakultät. 1809 wurde er zum Lizentiaten des Rechts promoviert und als Advokat am Trierer Appellationsgerichtshof zugelassen. Um privaten Studien nachgehen zu können, nahm er 1811-1816 verschiedene Verwaltungstellen in Zütphen, Leer, Aachen, Gernsheim und Andernach an. In Andernach war er von Februar bis August 1816 Einnehmer der Rheinschiffahrtsgebühren. Begeistert von Kunst und Literatur des deutschen Altertums gab er gemeinsam mit dem Kölner Eberhard von Groote ein "Taschenbuch für Freunde altdeutscher Zeit und Kunst auf das Jahr 1816" heraus, eine "Gemeinschaftsleistung der rheinischen Romantik" (Faber, S. 11). Sein darin enthaltener großer Aufsatz zur mittelalterlichen deutschen Kunst wurde von Görres im "Rheinischen Merkur" sehr gelobt.
Wir alle wissen: Mittelalterliche Autoren haben schamlos abgeschrieben. Sie haben sich fremdes Geistesgut bedenkenlos zu Eigen gemacht und meistens auf korrekte Quellenangaben verzichtet. Heute bestimmt § 63 Absatz 1 deutsches Urheberrechtsgesetz: "Wenn ein Werk oder ein Teil eines Werkes in den Fällen des § 45 Abs. 1 [und weiterer Paragraphen] vervielfältigt wird, ist stets die Quelle deutlich anzugeben". Man sollte es kaum glauben: Die Werke Wolframs von Eschenbach und anderer höfischer Klassiker enthalten in ihren frühesten Handschriften keinerlei Fußnoten! "Mittelalterliche Intertextualität", schreibt Elisabeth Lienert, "auch die höfischer Romane, ist kaum exaktes Zitieren, sondern lockere Bezugnahme auf Texte, Texttraditionen, Gattungen, literarisches Hintergrundwissen". Merkwürdigerweise hat es trotzdem im Mittelalter keine Urheberrechtsprozesse gegeben.
Als Hintergrund der Übersetzungen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken wird in der Forschungsliteratur unseres Jahrhunderts wiederholt eine kulturelle Bewegung namhaft gemacht, die man mit den Begriffen ,Ritterrenaissance' oder "Ritterromantik" belegt. So spricht beispielsweise Wolfgang Haubrichs von der "aufkomrnenden Ritterrenaissance Frankreichs und Burgunds [ ... ], wo man Motive aus ,Perceval' in prunkvolle, als Palastschmuck gedachte Teppiche webte". Einen Versuch, die Werke Elisabeths in einen grösseren europäischen Zusammenhang einzuordnen, hat Josef Strelka in seiner ungedruckt gebliebenen Wiener Dissertation von 1950 unternommen: "Feudalromantische Strömungen in der Renaissancedichtung und ihre Entwicklung".
Kann gutes Latein in einem Bewerbungsgespräch von Vorteil sein? Folgt man der Argumentation eines im Herbst 1501 vor der Tübinger Universitätsöffentlichkeit aufgeführten Dialogs, so wird man diese Frage ohne weiteres bejahen müssen. Im vierten Akt tritt ein Hofbeamter des Königs - gemeint ist Maximilian I. - auf, der als Antwort eine kleine Geschichte erzählt. In Innsbruck wandte sich ein ansonsten durchaus gebildeter Mann an Kardinal Peraudi, Botschafter des Papstes im Reich, um sich um eine geistliche Stelle, eine Pfründe, zu bewerben. Er hatte kaum die Anrede in holprigem Latein gestottert, als ihm der Angesprochene auch schon bedeutete, er solle wegtreten. Der Bittsteller lief rot an und wurde fortan am Hof nicht mehr gesehen.
Aus der Überlieferung der Werke des Mönchs Thomas Finck ergeben sich die Jahre 1489 und 1507 als Eckdaten seiner derzeit bekannten Lebenszeugnisse. Nach Ausweis des Cgm 6940 beendete Thomas Finck, der sich als Bruder des Benediktinerordens bezeichnet, am 8. Juli 1489 im Benediktinerkloster Elchingen die Übertragung der pseudothomasischen Schrift 'De beatitudine'. Der nur in der Karlsruher Handschrift St. Georgen 84 (möglicherweise ein Konzeptautograph) überlieferten Vorrede und Datierung seines Traktats 'Von den sieben Tagzeiten' ist zu entnehmen, daß er, der sich wiederum Bruder Thomas Finck nennt, ihn außerhalb seines Klosters Blaubeuren (f. 2V) in der Abtei Lorch seines Ordens vollendet hat, und zwar am 18. Juni 1493 (f. 44r). Er widmet ihn aus Dankbarkeit der Meisterin Helena von Hürnheim des Benediktinerinnenklosters Urspring. In das achte Jahr sei er oft zu ihr den kurzen Weg von Blaubeuren bis Urspring gegangen (f. 2V), Er dürfte demnach 1485 oder 1486 in Blaubeuren eingetreten sein. Nachdem ihn seine Schriften als Seelsorger zeigen, war er sicher Priestermönch und nicht etwa Laienbruder.
Als Uwe Johnson im Frühjahr 1980 in seinen "Begleitumständen", der Buchfassung der im Jahr zuvor an der Frankfurter Universität gehaltenen Poetik-Vorlesung, erstmals mitteilte, er sei von seiner Frau seit 1961 mit einem Agenten des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes betrogen und von beiden einvernehmlich ausspioniert worden, war die Ratlosigkeit unter seinen Lesern groß. Welches Interesse konnte der tschechische Staatssicherheitsdienst an Johnsons dichterischem Werk gehabt haben oder haben, und welches Interesse im besonderen daran, den Autor am Abschluss der "Jahrestage" zu hindern?
Der Blick auf Dichterruhm und Dichterverehrung im 19. Jahrhundert kann leicht in Vergessenheit geraten lassen, daß das immerwährende Hauptproblem dichterischer Existenz für die meisten der damals lebenden Autoren ein ganz anderes gewesen ist: die Bezahlung, das Geld. Während die Dichter des 18. Jahrhunderts ihren Lebensunterhalt noch weitgehend aus Familienbesitz oder ihrer mäzenatischen Versorgung durch die Höfe bestreiten konnten - alles andere wäre wegen des noch nicht gegebenen Urheberrechtsschutzes auch ausgeschlossen gewesen -, sind die des 19. Jahrhunderts zunehmend auf die Einnahmen aus ihren Werken angewiesen, und hier zeigte sich, daß auf die Gunst des Publikums noch viel weniger Verlaß war als vormals auf die Gunst der Mäzene. Auch Theodor Fontane hat sich so zeitlebens weniger um sein Ansehen als um sein Einkommen sorgen müssen, und je länger je mehr interessierte ihn dieses Ansehen überhaupt nur noch unter dem Gesichtspunkt, ob es ihm auch etwas eintrug.
Über Schillers kunsttheoretische Schriften noch etwas Neues sagen zu wollen, könnte nach allem, was im Verlauf von 200 Jahren über sie schon geschrieben worden ist, vermessen erscheinen - und wirklich kann für die Neuheit des hier Gesagten im einzelnen die Hand nicht ins Feuer gelegt werden. Hoffentlich aber doch für seine Neuheit im ganzen. Denn was an den Ausführungen zu diesem Thema seit langem unbefriedigt läßt, das ist die völlige Isoliertheit, mit der es in aller Regel behandelt wird, d.h. ist seine Erörterung lediglich auf der theoretisch-philosophischen Ebene und nicht auch im Hinblick auf seine Bedeutung für Schillers dichterische Praxis. Gewiß, Schiller selbst hat sich um diese Bedeutung auch kaum gekümmert. Als er sich nach dem Don Carlos erst der Geschichtsschreibung, dann der philosophischen Ästhetik widmete, geschah es ohne Bezug zu dichterischen Plänen, und als er fast ein Jahrzehnt später mit dem Wallenstein ernstlich einen solchen Plan wieder aufnahm, wollte er an seine theoretischen Schriften nicht mehr erinnert werden. Und nicht nur das, auch in diesen Schriften selbst kommen Bezüge zu praktisch-poetischen Fragen nur selten vor. Es sei überhaupt ein Fehler, so erklärt er in der Abhandlung Ueber die notwendigen Grenzen bei Gebrauch schöner Formen, in Fällen, wo es "um strenge Konsequenz im Denken zu tun" sei, nach praktischen Beispielen und sinnlich-konkreter Ausfüllung Ausschau zu halten. Der Verstand werde dadurch nur verführt, sich statt auf das zu erschließende Ganze nur auf das stets schon vorhandene Einzelne auszurichten und, indem er es mit seinen bloß zufälligen Erfahrungen verbinde, das Ganze womöglich verfehlen. Nur wer zum Volk und im besonderen, wer zu Frauen spreche, tue gut, "die Erkenntnisse der Wissenschaft wieder in lebendige Anschauung umzuwandeln". Denn ihm, dem weiblichen Geschlecht, sei es nun einmal nicht gegeben, die Wahrheit anders denn als materiell, d.h. im Beispiel zu begreifen, und so müsse man es wenigstens empfinden lassen, "wo es nicht gedacht und genießen, wo es nicht gearbeitet" hätte.
Fontane, ja gewiß - aber muss es Effi Briest sein? Bietet nicht Irrungen Wirrungen die wahrere, Frau Jenny Treibel die deftigere, L'Adultera die erfreulichere Geschichte? Doch Effi Briest kennt jeder, kann jedenfalls jeder nennen, und weil Bekanntheit immer auch motiviert und diesen Roman nicht zu kennen auch wiederum zu wenig wäre, kann ruhig mit ihm der Anfang gemacht werden.
Die Familie hatte sich bemüht, alle Spuren zu beseitigen, aber heraus kam es doch. "Denke Dir", Titelso lautete ein lange unterdrückter Brief Theodor Fontanes vom 1. März 1849 an seinen Freund Bernhard von Lepel, "Enthüllungen No II; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings". Und: "Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe." Mit der Veröffentlichung 1960 wußte es also die Welt, und die Vermutungen gingen auch sofort in eine bestimmte Richtung. Da die Hiobsbotschaft Fontane als ‘Aktenstück aus Dresden’ erreicht hatte, nahm man an, daß dann nur beide Kinder aus ein und derselben Verbindung stammen konnten. Zu Dresden hatte er seit 1843, dem Ende seines Volontariats in der Salomonis-Apotheke, eigentlich keine Verbindung mehr - sollte dann nicht allein ein solches dort schon bestehendes Verhältnis zu einem weiteren Kind daselbst geführt haben?
Manche mögen noch immer für einen Scherz halten, was der knapp dreißigjährige und damals noch unverheiratete Theodor Fontane am 1. März 1849 an einen seiner Freunde schrieb, einen Scherz, weil es zu seiner sonstigen Redlichkeit und Umsicht so gar nicht zu passen scheint. "Denke Dir", schrieb er an den zwei Jahre älteren Bernhard von Lepel, 'Enthüllungen No II'; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings. Abgesehn von dem moralischen Katzenjammer, ruf ich auch aus: "Kann ich Dukaten aus der Erde stampfen usw." Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe. O horrible, o horrible, o most horrible! ruft Hamlets Geist und ich mit ihm. Das betreffende interessante Aktenstück (ein Brief aus Dresden) werd' ich Dir am Sonntage vorlegen, vorausgesetzt, daß Du für die Erzeugnisse meines penes nur halb so viel Interesse hast wie für die meiner Feder.
So eingehend sich die deutsche Literaturwissenschaft mit Uwe Johnson im ganzen bislang beschäftigt hat - an einem seiner Werke ist sie dabei vorbeigegangen: an Zwei Ansichten. Bei seinem Erscheinen 1965 von immerhin einem halben Hundert Rezensionen begrüßt, ist sehr bald von dem Roman nicht mehr die Rede gewesen, nur ein paar Aufsätze und einige Besprechungen in Gesamtdarstellungen sind später zu ihm noch zu finden. Jüngere Materialien-Bände zu Johnson müssen deshalb auf seine Einbeziehung in ihre Rezeptions-Überblicke schon verzichten, oder sie greifen verlegen auf Beiträge zurück, die mehrfach anderweit schon gedruckt worden sind.
Es begann in Lesmona : auf den Spuren einer Bremer Liebesgeschichte ; [Homepage Lesmona-Projekt]
(1993)
Im Herbst 1951 erschien in Hamburg ein Buch, dessen Inhalt in mehrerer Hinsicht überraschend war. "Sommer in Lesmona" hieß es, Untertitel "Mädchenbriefe", doch Briefe aus einem italienischen Badeort enthielt es nicht. Die Briefe stammten aus Bremen und aus der Zeit schon vor der Jahrhundertwende - 'Lesmona' war eine Villa bei Vegesack.
Im Frühjahr 1902 schreibt der noch wenig bekannte, eben erst mit den Buddenbrooks hervorgetretene Thomas Mann an ein "verehrtes Fräulein Hilde" in Dresden einen ungewöhnlichen Brief. Nachdem er ihr zunächst artig zum Geburtstag gratuliert und sich mit einer kleinen Plauderei hinreichend bei ihr eingeschmeichelt hat, rückt er unverhohlen mit etwas ganz anderem heraus. Es ist ein Mordfall, der sich in Dresden zugetragen hat. Vor einiger Zeit habe eine 'Dame der Gesellschaft' in der Dresdner Straßenbahn einen jungen Musiker erschossen, ob sie ihm nicht, mit den Beteiligten bekannt, mehr darüber berichten könne. Der Fall habe einen "ganz merkwürdig starken Eindruck" auf ihn gemacht, vielleicht, daß er sich seiner einmal zu einer "wundervoll melancholischen Liebesgeschichte" bedienen werde. Und dann gießt er einen wahren Sturzbach von Fragen über sie aus: nach der Dauer der Beziehung zwischen den beiden, nach den Familienverhältnissen der Täterin, ob sie Kinder habe, wie man gesellschaftlich miteinander umgegangen sei, was mit den Geschenken gewesen sei, die sie dem Geliebten gemacht haben solle, wie sich die Tat im einzelnen abgespielt habe und vieles mehr. In jedem Falle aber benötige er "Détails", sie vor allem seien ihm wichtig. Wenn sie also irgend könne, so möge sie ihm doch "bitte, bitte, bitte!" einmal alles "recht genau, recht eingehend, recht ausführlich erzählen.
Wenn Effi Briest in den letzten zwei Jahrzehnten in unseren Schulen fast zur Pflichtlektüre geworden ist, so hängt das aufs engste damit zusammen, daß dieser Roman heute allgemein als gesellschaftskritisch verstanden wird, Effis Schicksal also als ein Beispiel dafür gilt, wie ein natürlich veranlagter, rein seinen Empfindungen folgender Mensch an bestimmten gesellschaftlichen Konventionen scheitert und ihnen schließlich zum Opfer fällt. Effi sei es um nichts als um ein ,schlichtes und schönes Leben' gegangen, lautet etwa ein in diesem Sinne paradigmatisch gewordenes Urteil von Lukacs, die Gesellschaft jedoch habe diesen ihren Anspruch einfach ,zerstampft'. Oder man denke an die immer wieder als besonders werkgetreu gelobte Verfilmung des Romans durch Faßbinder, in der Effi, regelmäßig ganz in Weiß, von lauter deformierten Gesellschaftswesen umgeben ist, die nicht ruhen, bis sie dieses einzige unverdorbene Geschöpf zugrunde gerichtet haben. Daß hinter solchen Deutungen stets auch die Absicht steht, heutige gesellschaftliche Verhältnisse zu kennzeichnen und zu kritisieren, versteht sich von selbst, soll hier aber nicht weiter beachtet werden, zumal natürlich auch zweifelhaft ist, daß ausgerechnet der Fall Effi Briest zur Bestimmung heutiger gesellschaftlicher Mißstände viel beitragen kann. Zunächst stellt sich die Frage nach der Plausibilitat jener Deutungen selbst, denn erst einmal sind sie es, die sich bei der Behandlung des Romans bewähren müssen.
Wohl jedem Leser der Romane Uwe Johnsons wird auffallen, daß örtliche und räumliche Angaben bei diesem Autor eine große Rolle spielen. Zwar sind diese Angaben - zumal in den frühen Romanen - nicht immer im kartographischen Sinne exakt, aber man spürt doch, daß es in dieser Hinsicht sorgfältig kalkulierte Verhältnisse gibt. Der wichtigste, der eigentliche Raum dieser literarischen Topographie ist natürlich Mecklenburg. Bereits in Ingrid Babendererde, dem ersten Roman, entworfen, kehrt er zunächst in den Mutmaßungen über Jakob, dann als Lebensstation des Journalisten Karsch wieder und wird schließlich in den Jahrestagen in umfassender Weise zur Geltung gebracht. Das Kleine Adreßbuch zu diesem Werk verzeichnet weit über einhundert Namen von mecklenburgischen Städten, Dörfern, Seen1), und nicht wenige von ihnen werden im Text in Einzelzügen berührt und einander räumlich zugeordnet nach Himmelsrichtungen und Verkehrswegen, Landschaftsmerkmalen und Aussichtshorizonten.
Im Jahre 1798, auf dem Höhepunkt seines Gedankenaustausches mit Schiller, veröffentlicht Goethe eine kleine Kunstbetrachtung mit dem Titel Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke. Zwei Opernbesucher unterhalten sich hier über die Frage, ob man von einem Kunstwerk verlangen konne, daß alles an ihm 'wahr und wirklich' erscheinen solle, oder ob nicht die 'innere Wahrheit', die Übereinstimmung des Werkes mit sich selbst das viel Wichtigere sei. Dabei überzeugt der eine den anderen, daß gerade die Oper, wo die Personen wider jede Wahrscheinlichkeit "alle ihre Leidenschaften singend darlegen, sich singend herumschlagen und singend verscheiden", den Beweis für die Nebensächlichkeit der Naturtreue liefere. Nur der ganz ungebildete, allein am Gegenständlichen haftende Zuschauer nehme an dieser Unwahrscheinlichkeit Anstoß. Der Kenner frage eher nach der Kunstgestalt des Werkes, er bewundere "die Vorzüge des Ausgewählten, das Geistreiche der Zusammenstellung, das Überirdische der kleinen Kunstwelt" und gewinne so auch für sein eigenes zerstreutes Leben die Ahnung einer "höheren Existenz".1)
Ironie als Redefigur, die das Gegenteil dessen sagt, was sie meint, kommt bei Thomas Mann nicht vor. An ihrer Stelle steht - der Aufsatz legt es an einer Reihe von Beispielen dar - ein System von Über- und Untertreibungen, in dem Hochwertiges in seinem Ansehen vermindert und Geringes aufgewertet wird. Damit wird die Wirklichkeit zwar wohl karikiert, aber nicht 'verletzt.' Das ist zugleich der Grund, warum Thomas Manns Werk realistisch wirkt.
Es ist nunmehr fast zehn Jahre her, daß mit der Uraufführung von Rolf Hochhuths Stellvertreter das schon recht antiquiert wirkende Genre des historischen Dramas neu belebt wurde und auf der Stelle Wirkungen hervorrief, wie sie für die Theatergeschichte der Nachkriegszeit beispiellos sind. Auf dem Kothurn des jambischen Verses präsentiert und Szene für Szene als Literatur ausgewiesen, beschäftigte dieses "christliche Trauerspiel" weniger die literarische Welt als Historiker und Publizisten, Politiker und Bürger, Kleriker und Laien. Von Podiumsdiskussionen über Demonstrationen bis hin zu parlamentarischen Anfragen reichte die Skala der Reaktionen, fixiert allein auf die von dem Stück aufgeworfene Frage, ob Papst Pius XII. mehr, als er getan hat, hätte tun müssen und tun können, um die Juden Europas vor der Vernichtung durch Hitler zu bewahren. Als Literaturwissenschaftler könnte man versucht sein, das lediglich als ein Stück Wirkungsgeschichte des politischen Theaters abzuhandeln, dem man gewiß Respekt, aber ein weitergehendes Interesse dann doch nicht schuldig sei, wäre in diesem Zusammenhang nicht ein altes und seither häufig diskutiertes ästhetisches Problem aufs neue relevant geworden: das Problem der Autonomie der Kunst, bzw. die Frage nach der Freiheit des Autors gegenüber dem historischen Stoff.
Bibliographie : Historisch-kritische Ausgabe der "Römischen Octavia" (Stuttgart: Hiersemann 1993ff.)
(2004)
Anton Ulrich Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel hg. von Rolf Tarot in Verbindung mit Hans-Henrik Krummacher. Stuttgart 1993ff. (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart)