830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Der Dualismus von Körperästhetik und Moral, der die abendländische Kultur seit der Antike bestimmt hatte, bricht in der schönen Literatur erst im 20. Jahrhundert - im Gefolge psychologisierter anthropologischer Konzeptionen - endgültig auseinander. Es entstehen neue, komplexe Relationen von Körper und Psyche, in denen unterschiedliche Normenkomplexe und Machtstrukturen wirksam sind - soziale, geschlechtsspezifische, sexuelle. Demgegenüber scheint sich in den literarischen Zeugnissen der Gegenwart ein neues Paradigma anzudeuten. Die jüngsten Variationen der Konfrontation von Schönheit und Häßlichkeit, die Verwechslungen, Vertauschungen, Verwandlungen und Umkehrungen beider Zustände entstehen erkennbar vor dem Hintergrund avancierter technologischer Möglichkeiten zur Herstellung von Körperschönheit, einer Schönheitsindustrie und Medizin, die das Bewußtsein von der technischen Produzierbarkeit von Schönheit, vom Sieg über Alterungsprozesse vermitteln. Die Gegenwartsliteratur spiegelt eine neue Objekthaftigkeit von Schönheit und Häßlichkeit, ihren Warencharakter. Schönheit kann, wie bei Bruckner, enteignet werden, sie kann gekauft und gestohlen werden wie bei Kureishi, mit ihrem häßlichen Gegenteil verwechselt wie bei Brasme und sie kann mit diesem - zur kontrastiven und kommerziellen Überhöhung ihrer Eigenart -vorübergehend vertauscht werden wie bei Nothomb. Der Objekt- und Warencharakter von körperlicher Schönheit und Häßlichkeit führt dazu, daß die Dichotomien zusammenrücken und austauschbar werden, weil sie kein metaphysisches, moralisches oder gedankliches Substrat mehr besitzen, sondern zunehmend vom marktwirtschaftlichen Prinzip bestimmt sind. Auf einem totalitären Markt der Schönheit kann plötzlich auch Häßlichkeit kommerziell und sexuell attraktiv werden, in einem faschistoiden Schönheitssystem ist sie die einzige Möglichkeit der individuellen Nicht-Anpassung.
So schnell der Dichter und die Schauspielerin sich gegenseitig schätzen lernen, so kurz währt die Freundschaft. Nach einer kurzen, intensiven Beziehung bleibt nur eines übrig: die zwei Gedichte, die Rilke in der Nacht des 4. Juli in Geschenkexemplare des "Buch der Bilder" beziehungsweise des "Stunden-Buchs" eingetragen hat. Man kann zwar die zwei Gedichte als Denkmäler einer flüchtigen, dafür aber intensiven Begegnung begreifen, doch führt dieser hier kurz skizzierte biographische Kontext bei einem so innigen Dichter wie Rilke in die Irre. Denn das erste, längere Gedicht hat mit der vermeintlichen Geliebten gar nichts zu tun; wie so oft in seinem Leben nimmt Rilke die Beziehung zu einem anderen vielmehr zum Anlass, seine eigenen Gefühle zu erkunden. Was Sigmund Freud wohl als narzisstische Selbstliebe bezeichnet hätte, mag man etwas wohlwollender als die nötige Selbstbesessenheit des lyrischen Dichters verstehen. Wie dem auch sei: dem ersten Gedicht bleibt das Zwiegespräch, das "Du", vorenthalten. Dafür wendet sich das zweite, knappere Gedicht direkt an die Geliebte. Dass dieses Gedicht mit "Rainer", jenes mit der formelleren Unterschrift "RM Rilke", unterzeichnet ist, scheint die These einer Zuspitzung der Liebesgefühle, einer Öffnung des solipsistischen Ichs zugunsten einer wahren 'Begegnung', zu bestätigen. Was geschieht also im Übergang vom ersten zum zweiten Gedicht? Wie sind diese beiden Gedichte - sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres unmittelbaren biografischen Kontextes - zu verstehen?
La novela "Leche y carbón" de Ralf Rohmann, publicada en el año 2000, sigue el modele literario deI texto de la memoria. Mientras que en su superficie se traza la imagen de la memoria de una juventud en la región del Ruhr, en su nivel poetológico la novela reflexiona sobre el paradigma literario mismo del texto de la memoria. Estas cuestiones se encuentran en el centro del siguiente análisis.
Mit den Worten: "Die Zeit ist auf der Flucht" charakterisiert Ernst Moritz Arndt 1807 den 'Geist der Zeit'. Er diagnostiziert damit zugleich ein Welt- und Lebensgefühl, das zur bestimmenden Signatur der Moderne werden sollte; neue, immer schnellere Verkehrsmittel, die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und der Lebensrhythmus der modernen Metropolen führen zur Allgegenwart des 'Prinzips vitesse'. Wenn sich Marcel Proust in der Figur seines Erzählers am Ende eines geschwindigkeitsbesessenen (oder auch: geschwindigkeitsgeschädigten) Zeitalters auf die Suche nach der verlorenen Zeit macht, wirft dieser Schreib-Vorgang ein bezeichnendes Licht auf das Phänomen der Modernität. Müsste sich nicht auch die Kunst im Prozess der Geschwindigkeit auflösen und das Schicksal der Moderne teilen, mit der Zeit unmodern werden? Prousts Antwort ist hier nicht unser Thema; ihr Problemhorizont aber bestimmt das Verhältnis der Moderne zur flüchtenden Zeit.
Im Ganzen gesehen verfügen Rilkes verstreute Widmungsgedichte nicht über eine defizitäre, sondern über eine andere Poetik als die in Gedichtsammlungen veröffentlichten, aber auch als die verstreuten nicht-gewidmeten Texte. Gründe genug also, im Folgenden einmal genauer nach einer Typologie und der Poetik von Rilkes verstreuten Widmungsgedichten zu fragen - zumal sich die Rilke-Forschung bisher weder mit diesen noch mit anderen Widmungen näher beschäftigt hat.
"Zentrum und Peripherie". Internationale Konferenz des Germanistenverbandes der Tschechischen Republik an der Schlesischen Universität in Opava, 25.-27. Mai 2016
Die internationale Tagung Zentrum und Peripherie wurde vom Germanistenverband der Tschechischen Republik und der Abteilung für Germanistik am Institut für Fremdsprachen der Schlesischen Universität in Opava veranstaltet. Das Organisationsteam aus Opava bestand aus Dr. habil. Gabriela Rykalová, Dr. habil. Veronika Kotůlková und Dr. Miroslav Urbanec. Fast hundert FachteilnehmerInnen aus der Tschechischen Republik, Deutschland, Österreich, Polen, der Slowakei, Spanien, der Türkei und Ungarn konnten in Opava begrüßt werden, außerdem VertreterInnen des DAAD, der Deutschen Welle, des Österreichischen Kulturforums Prag sowie Germanistikstudierende verschiedener Universitäten. Im Rahmen der Konferenz fand auch die Mitgliederversammlung des Germanistenverbands der Tschechischen Republik statt.
In the present research a pronunciation training, which was implemented within the scope of the seminar "Reading skills II", is being discussed. Turkish students in their first year, studying German Language Teaching at Uludağ University participated in this research. After a theoretical grounding, the conception of the pronunciation training and how it was implemented in the seminar will be introduced. The aim of this study is to examine, how the detected phonetic problems of the students can be eliminated through a targeted pronunciation training and how it can be perceived by the students. Orientated on the Qualitative Evaluation by Kuckartz et al. (2007) the analysis has been carried out. Therefore a questionnaire and a group-interview have been applied. Considering the evaluated results, possible perspectives for the specific field of research and teaching practice have been presented.
Die erste überlieferte Erwähnung des Heidelberger Indologen Heinrich Zimmer im Dunstkreis der Hofmannthals ist wohl ein Brief der 25-jährigen Christiane von Hofmannsthal an ihren Freund Thankmar von Münchhausen vom 4. Dezember 1927:
Ich bin sehr gerne in Hbg, bin der Liebling meiner Lehrer und so brav, old boy, Du kannst Dirs nicht vorstellen, lerne außerdem Sanskrit weil ich einen Flirt mit dem Indologen habe, (sans conséquences)[.]
Heinrich Zimmer (1890-1943), Sohn eines Professors für Indogermanische Sprachwissenschaft und Sanskrit, hatte in Berlin Germanistik, vergleichende Sprachwissenschaften und Sanskrit studiert und war in Heidelberg zunächst Privatdozent und ab 1926 außerordentlicher Professor für Indologie. Schon 1924, noch in Unkenntnis der künftigen Verwandtschaft, hatte er einen Aufsatz über Hofmannsthals "Weißen Fächer" geschrieben, den er später spöttisch als "recht findefroh-spießig, aber arglos gemeint" bezeichnete. Als Vertreter einer kulturwissenschaftlichen, über den Tellerrand der Sprachwissenschaft hinausschauenden Ausrichtung seines Fachs hatte er es schwer, in der positivistischen Hochschullandschaft der Indologie einen Lehrstuhl zu erhalten, pflegte aber viele wissenschaftliche Kontakte mit Vertretern anderer Fächer, so auch mit Carl Gustav Jung und dem Kreis um die ERANOS-Tagungen in Ascona.
Von Natur aus, so Döblin, kannte das Epische in seiner "unbegrenzten Form" kein bestimmtes Ende. Realität, Traum und Phantasie waren noch nicht voneinander geschieden; berichtet wurden "Elementarsituationen des menschlichen Daseins" in "immer neuen Abwandlungen", in der "Serienarbeit" der mündlichen und kollektiven Erzählungen und Nacherzählungen, im Grunde der "Wahrheit" ohne Begründung. Auf Einladung des Germanistikprofessors Julius Petersen hielt Döblin am 10. Dezember 1928 seinen Vortrag "Der Bau des epischen Werks" im Auditorium Maximum der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Darin erstellt er ein Programm zur Erneuerung des Romans unter den Bedingungen der modernen Kollektiverfahrungen von Masse, Technik und medialer Öffentlichkeit, in Verbindung mit den Wissensbeständen von Medizin, Psychiatrie und Soziologie und deren "Resonanz", wie er in seiner ganz persönlichen Universalschrift 'Unser Dasein' von 1933 schrieb, seiner letzten in Deutschland vor dem Exil erschienenen Publikation. Die Literatur hätte die Aufgabe, die neu entstandene Wirklichkeit zu "durchstoßen", das Menschenmögliche, auch die destruktiven Energien zur Sprache zu bringen: im Produktionsprozess eines als "dynamisches Netzwerk" zu begreifenden und plastisch zu gestaltenden Weltganzen, der Dinge und Vorgänge mit den in ihnen wirkenden Kräften. Die Vitalisierung und Elementarisierung der Sprache sollte den Ursprung des Epischen wiedergewinnen und die vorherrschende Repräsentationslogik der medialen Vermittlung außer Kraft setzen: "Das Buch ist der Tod der wirklichen Sprache."
"wo ist dem Tier sein End?" : das Politische, das Poetische und die Tiere in Hofmannsthals "Turm"
(2016)
In Hofmannsthals "Turm"-Projekt gibt es viele Tiere. Dies gilt für alle vier Fassungen. Nimmt man Begriffe wie Jagd, Reiten und Kreatur hinzu, dann lassen sich allein in der zweiten Fassung ungefähr 170 Tiererwähnungen nachweisen. Die mit Abstand größte Tierdichte findet sich dabei im ersten Auftritt des ersten Aktes, gefolgt vom zweiten Auftritt des zweiten Aktes. Offenbar sind die Tiere für die Entfaltung der Problemlage, wie sie in der ersten Hälfte des Dramas vorgenommen wird, wichtiger als für die Lösungen des Problems, die mit den verschiedenen Enden des Dramas angeboten werden. Bei der Entfaltung der Problemlage spielen die Tiere deshalb eine so zentrale Rolle, weil in ihnen zwei Themen aufeinander bezogen werden, die zum Kernbestand des "Turm"-Projekts gehören: die Frage des Politischen und die Frage des Poetischen. Um die damit gegebene trianguläre Beziehung von Politik, Metapher und Tier wird es im Folgenden gehen.
Als im Januar 1904 die von Paul Nikolaus Cossmann, Josef Hofmiller und Wilhelm Weigand konzipierten "Süddeutschen Monatshefte" in München zu erscheinen beginnen, handelt es sich dabei um eine der letzten großen Neugründungen im Feld der reichsdeutschen Rundschaupublizistik vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Trotz ihres verhältnismäßig späten Erstpublikationsdatums hatte die Zeitschrift eine offenkundige Lücke innerhalb der Münchner Presselandschaft geschlossen. Darauf weist bereits der Germanist Franz Muncker hin, wenn er die "Süddeutschen Monatshefte" in einer Rezension aus Anlass ihres fünfjährigen Jubiläums als die "erste Münchner Monatsschrift" charakterisiert - und damit keineswegs nur den führenden Rang der Zeitschrift herausstreicht.
Dass die prominente Figur des Doppelgängers um 2000 ihre Aktualität noch immer nicht verloren hat, veranschaulicht Catharine Smale. In ihrer Lektüre von Irina Liebmanns Romanen "In Berlin" (1994) und "Die freien Frauen" (2004) arbeitet sie eine Parallele zwischen der literarischen Inszenierung Berlins und der Dialektik des Doppelgängers heraus. In diesem Zusammenhang betont sie den für Liebmanns Poetik wesentlichen Status von Spiegeln, was sie zu der Frage nach der literarischen Mimesis in der Postmoderne führt. Mit Bezug auf das Konzept des Unheimlichen weist Smale nach, dass die Doppelgänger-Figuren als Verkörperungen der Identitätskrisen aufgefasst werden können, die die Protagonisten angesichts der verfremdenden Erfahrung der 'Wende' durchleben.
Benjamin Hein beschäftigt sich im Beitrag "Über die Dethematisierung der Judenverfolgung und des Holocaust in der Populärliteratur der Nachwendezeit" mit den gegenwärtigen literarischen Aufarbeitungstendenzen der NS-Vergangenheit. Er untersucht, wie das Fortwirken eines Authentizitätsanspruchs und eines damit verbundenen 'Bildverbots' in der Schrifsteller-Generation der Nachgeborenen sowie der dritten Generation eine Aussparung der Opferperspektive zeitigt, die eine brisante Leerstelle produziere.
The poetic language of the Nobel Prize winner Nelly Sachs has already been examined from several points of view. Nelly Sachs has often been mentioned in connection with Klopstock and Hölderlin owing to her 'high tone' (cf. e.g. Paul Hoffmann's article 'On Nelly Sachs' Pathos' from 1994).
However, even earlier than the style which Hoffmann characterized as the "seed of the concise, hermetic late style with a more moderate pathos", literary techniques other than pathetic speech can be found in the work of Nelly Sachs. In the poems 'WE ARE SO sore', 'SOMEONE COMES', 'A PUNCH' behind a hedge, there is a laconic style, far removed from all hermeticism, which is able precisely to depict the impact of the Shoah on its survivors. This style seems to be cognate with Kaschnitz's late elliptical works, Celan's "greyer language", and Bachmann's laconic poems, all from the 1960s. It is this particular style that is examined in this article.
Dagmar Leupold, Lyrikerin, Prosaistin, promovierte Komparatistin und Übersetzerin aus dem Italienischen, hat in den neunziger Jahren insbesondere durch drei Romane - Edmond: Geschichte einer Sehnsucht (1992), Federgewicht (1995) und Ende der Saison (1999) - auf sich aufmerksam gemacht. Darüber hinaus erschienen von ihr bisher zwei Gedichtbände - Wie Treibholz (1988) und Die Lust der Frauen auf Seite 13 (1994) - sowie der Band Destillate (1996), der Kurzprosa und Lyrik versammelt. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit den Romanen, also mit einer Gattung, die schon oft und nun in der Postmoderne erneut totgesagt wurde, andererseits jedoch lebendiger denn je erscheint, vielleicht gar "zum eigentlichen Medium dessen geworden [ist], was unter dem Begriff 'Postmoderne' subsumierbar wäre". Wenn Leupolds Romane der Postmoderne zugerechnet werden, dann ist dieser oft als Passepartout missbrauchte Begriff kritisch auf seine Brauchbarkeit für die Beschreibung zeitgenössischer Prosa zu prüfen. Die Postmoderne-Debatten, die Forschung und Feuilleton seit Mitte der achtziger Jahre in Deutschland führen, sollen nicht aufgerollt, einige ihrer konstruktivsten Erkenntnisse aber einbezogen werden.
In der Oberzips sind [...] die durch das benachbarte Schlesien vermittelten Merkmale des Ostmitteldeutschen vorherrschend. Einen Sonderfall stellen das Kesmarker Stadtprotokoll aus den Jahren 1554-1614 sowie das zweitälteste Gerichtsbuch von Kesmark aus den Jahren 1607-1624 dar, in denen die ostmitteldeutschen Merkmale gänzlich fehlen. [...] Nach Piirainen könnte dies auf eine eigene Schreibtradition in der Kesmarker Stadtkanzlei hinweisen. Die Teilergebnisse der sprachlichen Analyse von Originalhandschriften der Zunftsatzungen aus den Jahren 1573-1636 deuten jedoch darauf hin, dass man den ostmitteldeutschen bzw. schlesischen Einfluss in der Kesmarker Kanzleisprache nicht ausschließen kann.
Max Frisch gilt nicht als 'Achtundsechziger' und schon gar nicht als Autor von 'Achtundsechziger'-Literatur. Mit Jahrgang 1911 ist er zunächst schlicht zu alt dafür, denn gemäß gängiger, an Generationengrenzen orientierter Definition darf ein 'Achtundsechziger' im Jahr 1968 zwanzig bis maximal dreißig Lebensjahre zählen. Zudem trennen Frisch Ablehnung eines dogmatisch vertretenen Marxismus und Skepsis gegenüber jeder ungebrochenen Revolutionseuphorie von den (studentischen) Aufbruchsbewegten der Zeit, auch wenn er sich als - freilich demokratischer - "Sozialist" bezeichnet und insbesondere im einschlägigen zweiten Tagebuch, dem 1972 veröffentlichten Tagebuch 1966-1971, Sympathie für die Anliegen der Demonstranten bekundet und den Vietnam-Krieg der USA kritisiert.
In Studien zu Literatur um 1968 kommen Frischs Werke nicht vor, denn sie wecken keine Assoziationen mit Genres wie 'littérature engagée', 'Protest-Literatur' oder 'Agitprop'. Im Gegenteil, gerne wird der Literatur dieses Autors im Allgemeinen oder sogar gerade seinen Texten um 1968 im Speziellen jeglicher "Eingriff in die Politik", jede "direkte und offene Gesellschaftskritik" abgesprochen. Ich-Bezogenheit, Konzentration aufs Private (generell oder als Reprivatisierung speziell in jener Zeit), Beschäftigung mit 'ewigen' Themen wie Identität, Beziehungen, Alter, Vergänglichkeit, Tod - so lauten dagegen die dominanten Kennzeichnungen. Distanz zur 'littérature engagée', zu einer direkt politisch motivierten bzw. motivierenden Literatur, hat Frisch auch selbst immer wieder markiert, obwohl oder gerade weil er sich zugleich politisch engagiert hat. So unterstreicht er etwa in seiner Eröffnungsrede auf der Frankfurter Dramaturgen-Tagung von 1964, dass "das politische Engagement nicht der Impuls" des Schreibens sei und sein soll, sondern höchstens sekundär "ein Ergebnis der [literarischen] Produktion".
Hofmannsthal hat sich herausgeberisch in verschiedener Weise betätigt. Ich beschränke mich auf das für Hofmannsthal Wesentliche: auf die im Insel-Verlag erschienenen "Deutschen Erzähler" und - aufs engste damit verbunden - seine führende Rolle bei der Programmgestaltung der Offizin "Bremer Presse" und ihres nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Verlags. Beiseite bleiben das von Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder und Rudolf Borchardt herausgegebene Jahrbuch "Hesperus", von dem nur ein Band 1909 das Licht der Welt erblickte, der ausschließlich Beiträge der drei Freunde enthielt. Der Plan eines zweiten Jahrbuchs scheiterte 1913. - Ebenso können die herausgeberische oder redaktionelle Mitarbeit Hofmannsthals am "Morgen" (1907/1908), die spätere an Richard Smekals "Theater und Kultur" (1920 bis 1923) und am Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, der von Ernst Bertram und Thomas Mann mit anderen herausgegebenen "Ariadne" (1925), als periphere Betätigung übergangen werden.
"wir haben ein land aus worten." In Semier Insayif Roman 'Faruq' (2009) geht es um Worte und Erinnerungen, um das (Nicht-)Sprechen-Können und darum, Sprache und Gedächtnis zu verlieren. Es geht um das Schreiben, Sprechen und Rezitieren im Bereich des Dazwischen von Sprachen und Kulturen. Ausgehend von der Perspektive des Ich-Erzählers im Text entfalten sich die Nuancen und Facetten des Lebens als Geschichten, als Texturen der Erinnerung und als eine Art Sprach- und Klanggewebe. Bezugnehmend auf eben diese poetischen und rhetorischen Aspekte des Textes wird eine Lektüre unternommen, die auf postkolonialen und dekonstruktiven Ansätzen wie auch auf Gedächtnistheorien basiert. Die Lektüre versucht sowohl auf die Anforderungen und Besonderheiten des Textes in allen Facetten des Dazwischens zu reagieren als auch jene Perspektiven zu ergründen, die für die zeitgenössische Entwicklung der sogenannten Migrationsliteratur signifikant sind.
"Wir haben diesen Dichter geliebt" : Hugo von Hofmannsthal und Eduard Korrodi ; Briefe und Dokumente
(2017)
Der Schweizer Journalist, Essayist und Literaturkritiker Eduard Korrodi, geboren am 20. November 1885 in Zürich, ist heute, mehr als 60 Jahre nach seinem Tod am 4. September 1955, selbst in Literaten- oder Germanistenkreisen nahezu unbekannt. Seinen Zeitgenossen hingegen galt er als wegweisender Mentor und Anreger, als "schweizerischer Geisteswärter", als "das literarische Bundesgericht" der Schweiz und allmächtiger "Literaturpapst". Diese einzigartige Position eines "Entdeckers" und "Erweckers", "Richters" und "Vernichters" hat er in der Feuilletonredaktion der "Neuen Zürcher Zeitung" zwischen 1915 und 1950 über 35 Jahre hin behauptet - "geliebt, geehrt" und "angegriffen", immer aber "ernst genommen", so dass kaum ein Schweizer Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihn nicht in Tagebüchern oder Memoiren "erwähnt" oder "in gereizter Weise 'behandelt'".
Als jüngster Sohn des angesehenen Lehrers, Schulbuchautors und Lyrikers "für den Hausgebrauch" Johann Heinrich Korrodi (1834-1910) und der Marie Zurgilgen (1852-1950), die der Vater 1882 in dritter Ehe geheiratet hatte, besucht Korrodi die Schule in Zürich und ab Oktober 1898 das Kollegium "Maria Hilf" in Schwyz. Ab dem Wintersemester 1905/06 studiert er deutsche Philologie, Alt-Isländisch und Kunstgeschichte in seiner Heimatstadt und wird hier, nach einem Berliner Auslandssemester im Winter 1907/08 bei Erich Schmidt und Richard Moritz Meyer,10 im Januar 1910 mit der von Adolf Frey (1855-1920) betreuten Dissertation "Stilstudien zu C.F. Meyers Novellen" zum Dr. phil. promoviert.
Mit dem "Prager Erbe" bezeichnete Weiskopf eine interkulturelle Kompetenz, die er vor allem auf historische und kulturgeschichtliche Ereignisse der tschechischen, jüdischen und schließlich auch deutschen Nationalitäten in den böhmischen Ländern bezieht. Die Kompetenz, die er hier für das Werk Kischs herstellte, lässt sich für Weiskopfs eigenes Schaffen herausarbeiten. Es wird davon ausgegangen, dass er in seinem Leben und Werk als Mittler tschechischer Kultur wirkte, wobei sich dieser Beitrag auf die Exilzeit Weiskopfs konzentriert. Nach einer kurzen Darstellung der Flucht und Ankunft in dem Exilort New York steht zunächst Weiskopfs journalistisches Schaffen im Mittelpunkt des Beitrages. Dieses wird unter dem Aspekt der Darstellung von Eigenem und Fremden, also dem amerikanischen Exilland und der Prager Herkunft, untersucht. Die weiteren Teile des Beitrags konzentrieren sich auf die Korrespondenzen mit Heinrich Mann und Egon Erwin Kisch. Mann erbittet Weiskopfs Meinung zu seinem Werk Lidice und abschließend wird in der Korrespondenz zwischen Weiskopf und Kisch die Diskussion über die Heimkehr in die alte Prager Heimat nach Beendigung des Weltkrieges dargestellt.
Das "Wilde" als eine Variante zahlreicher europäischer Fremdheitskonzeptionen, die in ihrer Unbestimmtheit meist nur auf ein defizitäres Anderssein verweisen, hat im Europa des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Konjunktur. Die Literatur des kolonialen Zeitalters oder auch erste Stummfilme3 bedienen sich selbstverständlich abenteuerlich-exotischer Kulissen des "Wilden", seien es "nichtzivilisierte" Landschaften, Tiere oder Menschen und Kulturen. In zoologischen Gärten wie Hagenbecks Tierpark (1907) werden exotische Tiere in Freigehegen zur Schau gestellt, deren panoramatische Szenarien dem Besucher in nachgebauter authentischer landschaftlicher Umgebung die Illusion einer gefahrlosen Annäherung auf freier Wildbahn verschaffen. Das populäre Interesse besonders an Raubtieren schlägt sich in Deutschland noch zur Stummfilmzeit in der Produktion von Raubtier-Sensationsspielfilmen durch den Bruder des Hamburger Tierhändlers und Zoodirektors Carl Hagenbeck, John, nieder. In diesen Filmen entsteht für den Zuschauer, u.a. mit Hilfe von cut-ins aus den Freigehegen der Tierparks, die analoge Illusion eines gemeinsamen Raumes zwischen Jäger und Beute: "As the open zoo used trenches and moats, cinema also enlistened technology – that is, recording and montage – in order to efface the bars of the cage." Die neuen urbanen Schau-Plätze Zoo und Kino erscheinen im Kontext des epochalen Exotismus als Medien mit zirzensischer Vorgeschichte, die auf einer Abfolge sensationeller Nummern aufbauen und dem Zuschauer die Möglichkeit einer genußvollen Annäherung an das gefährliche oder andersartige Wilde in einem "gemeinsamen" Raum suggerieren. Damit ist eine wesentliche Facette des populären Exotismus der Jahrhundertwende skizziert, der nervenkitzelnde Illusionen von Zugänglichkeit und Authentizität des Andersartigen schafft, indem bestehende Distanzen in hochartifiziellen imaginären Räumen verwischt und negiert werden, während der Betrachter sich in Sicherheit weiß.
Vom 15. bis 16. November 2018 fand in Prag die erste internationale Fachtagung mit dem Titel "Wie schreibt man transkulturelle Literaturgeschichte?" statt. Veranstaltet wurde sie von der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik anlässlich der Gründung der Germano-bohemistischen Forschungsgruppe 2017.
Das Moment der Opposition gehört zu den Grundmerkmalen des Exils, beschreibt aber nur einen Aspekt seiner – erzwungenen oder eben freiwilligen – Notwendigkeit, in der sich Schriftsteller und Künstler, Juristen und Handwerker, Juden und Christen zu allen Zeiten gleichermaßen begegneten. Im Übrigen bleibt zu beachten, dass ebenso wenig wie von einer einheitlichen liberalen Gegenbewegung zum Metternich'schen System in ganz Deutschland die Rede von einer nur annähernd geschlossen auftretenden Opposition im Vormärz sein kann; eine solche konnte sich unter den politischen Bedingungen der Nachkriegsära nicht herausbilden. Opposition im Vormärz erstreckte sich bis in die zwischen konservativer Orthodoxie und innerkirchlichem Liberalismus zerrissenen Kirchen hinein, in denen liberale Gegenströmungen wie die "Lichtfreunde" und die "Deutschkatholiken" das Staatskirchentum der Amtskirchen in Frage stellten und so von hier aus die Revolution vorbereiteten. Ebenfalls nur eine der vielen Facetten des Exils erfasst die Koppelung des Begriffs an die Literatur, auch wenn die Erfahrung von Verfolgung und Vertreibung die Geschichte des geschriebenen Wortes seit der Antike begleitet.
Zu bedenken ist, daß nur die Literatur zwischen 1750 und 1806 jene Höhe erreicht, die es gestattet, von der Epoche prägender Kraft der Klassik zu reden. Die Künste unterliegen dem Gesetz des Ungleichzeitigen. Die deutsche bildende Kunst des Klassizismus ist im Verhältnis zur Literatur von geringerer Qualität. Annäherungen an Inhalt und künstlerische Qualität des Werkes von Tischbein sind daher auch auf diesen Vergleich hinzu überprüfen. Die Frage entsteht: Wieso kann ein Werk der bildenden Kunst, die sich nicht auf der Höhe der literarischen Klassik bewegt, das "Ereignis Weimar" so prägnant um- und beschreiben, daß es bis heute als ein Hauptwerk dieser Epoche gilt? - "Goethe in der Campagna" ist geprägt von einer Auffassung vom Dichter, die wir vom Maler Johann Heinrich Tischbein vor Augen geführt bekommen. Es handelt sich dabei um eine Interpretation von Goethes Persönlichkeit aus erster Hand.
"Wie ein ungeheures Märchen" : Johann Caspar, Johann Wolfgang und August Goethe im Petersdom in Rom
(2006)
Die Baugeschichte des Petersdoms in Rom, wie er sich dem Blick des neuzeitlichen Betrachters darstellt, ist das Resultat eines großen Abbruchunternehmens ebenso wie eines gewaltigen Neubaus. Von „schöpferischer Zerstörung“ hat Horst Bredekamp mit Blick auf die Baugeschichte von Neu St. Peter in Rom seit 1506 gesprochen. Als Johann Wolfgang Goethe, den Spuren seines Vaters folgend, 1786 auf seiner „Hegire“ das antike Rom und den Petersdom erblickte und sich damit in die südliche Kunstwelt „initiiert“ fühlte, konnte er kaum einschätzen, dass sein Neubau der deutschen Litera-tursprache ein ähnlich gewaltiges und gewaltsames Abbruch- und Aufbauprojekt sein könnte, wie der sich über mehr als ein Jahrhundert erstreckende Neubau der Papstkirche in Rom. Die „römischen Glückstage“, deren Stimmung und Kunstgefühl sich Goethe noch 1829, bei der Edition des „Zweiten römischen Aufenthalts“, in die „kimmerischen“ Nächte des Nordens holte, versuchte sein Sohn August 1830 auch für sich zu reklamieren. Doch endete dessen zu spät unternommene Flucht in einer Tragödie. August von Goethe starb zehn Tage, nachdem er die Kuppel des Petersdoms im Glanz der Morgensonne gesehen hatte, an einem Schlaganfall in Rom. Von dem Schock, der ihn im November 1830 durch die Nachricht vom Tod des Sohnes ereilte, hat sich Johann Wolfgang Goethe nicht mehr erholt.
Zwar gibt sich Günter Grass' "Treffen in Telgte" ausschließlich als ein Poetentreffen und hat den Blick der Leser nahezu ausschließlich auf die Poetenfiguren, ihre Diskussionen und die Analogie zur Gruppe 47 gelenkt – geheimes Zentralgestirn aber, um den die barocken Poeten kreisen, ist der im Zentrum der Erzählung in Telgte eintreffende Überraschungsgast Heinrich Schütz. In der Gegenwart des Komponisten verzwergen die Dichter mit ihrem durchaus respektablen Anliegen, eine poetische Nationalkultur zu begründen, und unterwerfen sich seiner Autorität als moralischer Instanz und als Künstler. Der 'große Schütz' formuliert nicht nur die relevante poetologische Programmatik der Erzählung, sondern initiiert auch den hier noch als Musketier und Quartiermacher auftretenden Grimmelshausen in seine spätere Rolle als den für Grass größten Dichter des Barockzeitalters und sein ihn von Jugend an bestimmendes Vorbild. Während die Poeten angesichts der politischen Ohnmacht der Dichtung in den Zeiten des nicht enden wollenden Krieges schier verzweifeln, weisen diese beiden scheinbar als Nebenfiguren eingeführten Charaktere über die Erzählung hinaus in die Zukunft.
Johann Wolfgang Goethes Faust ist vielfach als "Welt-Dichtung" interpretiert worden, in der das Dasein – "[v]om Himmel durch die Welt zur Hölle" – in ebenso umfassender wie exemplarischer Weise verhandelt wird und zur Anschauung gelangt. So erhebt etwa Georg Lukács die Tragödie zum "Drama der Menschengattung", zum "einzigartigen Weltgedicht": "[I]m Mittelpunkt steht ein
Individuum, dessen Erlebnisse, dessen Schicksal und Entwicklung zugleich den Fortgang und das Geschick der ganzen Gattung darstellen sollen". Diese Tendenz zur Totalität gilt auch in medialer Hinsicht. In der Goethe'schenFaust-Dichtung zeigen sich eine Reihe von medien- oder medialitätsspezifischen Eigenschaften, die eine seit den 1970er Jahren zunehmend mediensensible Literaturwissenschaft als charakteristisch erachtet für das Zeitalter der Medienmoderne.
Die Verlags- und Buchhandelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ist sowohl »faszinierende Blütezeit des Buchhandels in Deutschland« (Raabe 1984, S. IX) als auch reich an Innovationen des Kinder- und Jugendbuchmarkts im Prozess der Institutionalisierung und der Modernisierung (vgl. Schmid 2018, S. 22 ff.; Ewers 1982, S. 13 u. a.). Zu Recht wurde betont, dass sich Verlage als »eigentlich bestimmende und dynamische« Instanz der Kinder- und Jugendliteratur herausstellten, weil sie »als erste die enorm gestiegenen Lese- und Bildungsbedürfnisse immer breiterer Schichten wahrnahmen« und darauf strategisch geschickt reagierten (vgl. Dettmar u. a. 2003, S. 128)...
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Präsenz der Gewaltproblematik im Zusammenhang mit der Verbreitung der Literatur von unerwünschten DDR-Autoren in der VR Polen. Die Gründung einer alternativen polnischen Kulturszene Mitte der 1970er Jahre konnte teilweise eine Lücke schließen, die das in beiden Ländern verhängte Einreiseverbot für diese Schriftsteller und ihre Texte hinterlassen hatte. Da solche Aktivitäten als eine Straftat mit aller Schärfe verfolgt wurden, waren verschiedene Formen der Gewaltanwendung ein Bestandteil der staatlichen Überwachung und Einschüchterung von Schriftstellern, Verlegern, Übersetzern und Publizisten.
Zirkusartisten und Varietékünstler, Gaukler und Jahrmarktschausteller galten und gelten bis heute in der literarischen Rezeption nicht als verehrenswerte Künstlerfiguren, sondern fungieren vielmehr durch ihren Status abseits der Norm, den sie gleich im doppelten Sinne innehaben, als literarisches Sujet: Sie verbinden Mobilität und Mittellosigkeit und verweigern sich damit gesellschaftlich normierten Grenzziehungen. Hierin zeigen sie deutliche Überschneidungen mit einer anderen Personengruppe, die in der Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten intensiv beforscht worden ist: die der "Zigeuner_innen". Allerdings beschränken sich die Forschungsergebnisse weitestgehend auf Darstellungen von der Frühen Neuzeit bis zur Romantik (Solms 2008; Breger 1998), eine Ausnahme bildet ein Sammelband von Susan Tebbutt (1998), der auch zeitgenössische "Zigeuner"-Repräsentationen mit in seinen Untersuchungsfokus einschließt. Direkte Sekundärliteratur zum Zirkus- und Jahrmarktroman ist dagegen nur vereinzelt zu finden und fokussiert sich in der Regel ebenso auf einen begrenzten Zeitausschnitt, spart also gegenwärtige Repräsentationen des Motivs aus (Bernecker 1990; Jones 1985; Laun 2007). An dieser Stelle sollen nun aber gerade zwei Werke aus der Gegenwartsliteratur näher untersucht werden. Sie unterscheiden sich von literaturgeschichtlich weiter zurückliegenden Schaustellerdarstellungen insofern, als sie weder einen distanziert wertenden Blick von außen wählen noch sich auf den metaphorischen Gehalt der Figur des fahrenden Künstlers beschränken: "Warum das Kind in der Polenta kocht" (1999) aus der Feder der rumänisch-stämmigen Schriftstellerin Aglaja Veteranyi sowie Franco Biondis "Karussellkinder" (2007) sind Schaustellernarrative aus der Binnenperspektive, sie schildern eine Kindheit im Schoß einer Zirkus- bzw. Jahrmarktfamilie am Rande der Normgesellschaft. Obgleich die beiden Texte völlig unterschiedlich erzählen, weisen sie doch frappante Ähnlichkeiten in ihrer Motivwahl auf: Sie hinterfragen tradierte Konzepte von Besitz, Reichtum und Armut sowie sozialer Zugehörigkeit mithilfe einer artifiziellen, hoch ästhetischen Bildsprache und greifen dafür auf interkulturelle Topoi zurück, die im Folgenden aus einer kulturwissenschaftlich-hermeneutischen Perspektive untersucht werden sollen.
Musik ist ein überall präsentes Phänomen und Menschen sind täglich in ständigem Kontakt mit Musik. Beide Phänomene – Musik und Sprache – bauen auf streng festgelegten Grundlagen auf und sind fest im menschlichen Gehirn verankert. In unserer Arbeit präsentieren wir die Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen Linguisten, Neurologen und Musikern, nämlich eine EEG-Studie. Das Hauptziel war es, Unterschiede beim Vergleich der Gehirnreaktionen von Fremdsprachenlernenden und Nicht-Fremdsprachenlernenden auf kommende Reize zu identifizieren. Es wird erwartet, dass diese Identifizierung für den Bereich der Fremdsprachenmethodik fruchtbar sein kann. Unsere Ergebnisse bestätigten die Existenz eines sogenannten dichotomischen Modells des Gehirns (linke Hemisphäre – Sprache, rechte Hemisphäre – Musik).
Annkatrin Buchens Beitrag mit dem Titel " Wenn es aber... bei mir anders wäre? Geschlechter-Rollen-Spiele und alternative Rollenentwürfe in Arthur Schnitzlers "Reigen"" setzt am Ehe- und Sexualitätsdiskurs an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert an. Der Hauptaugenmerk liegt auf den im Reigen inszenierten Geschlechterverhältnissen und den hierin geschaffenen Spielräumen. Die Verfasserin stellt fest, dass Schnitzler in seinem zyklisch angelegten Drama eine bemerkenswerte Beobachtung über den Umgang mit Sexualität und die damit verbundene Reziprozität männlicher und weiblicher Rollenentwürfe präsentiert. Dabei greift Schnitzler auf stereotypisierte Figuren zurück, die die moralische Repression von Sexualität mit der männlichen Dominanz respektive der weiblichen Unterlegenheit verbinden. Gleichzeitig stellt er diesen Figuren zum Teil radikale Gegenentwürfe weiblicher Frauenfiguren gegenüber und zeigt auf diese Weise die Problematisierung männlicher und weiblicher Rollenentwürfe zu einer Zeit auf, in der die explizite Thematisierung von Sexualität auf der Theaterbühne wie im Fall des Reigen zu einem öffentlichen Skandal führte.
Das Gedicht "Die Künstler" eröffnet sozusagen Schillers theoretische Beschäftigung mit ästhetischen Fragestellungen, die ihrerseits die "klassische" Epoche seiner Kunstproduktion einleitet. Gerade wegen dieser Eingangsposition des Gedichtes und auch infolge einer späteren Behauptung von Schiller selbst, der im Nachhinein die ersten zehn Bogen seiner "ästhetischen Briefe" als eine philosophische Weiterführung des Gedichtes bezeichnete, hat man in ihm immer wieder nach Antizipationen der späteren ästhetischen Theorien gesucht. Solche Ermittlungen konnten jedoch höchstens zur Erkenntnis entweder ganz allgemeiner oder umgekehrt bloß punktueller Übereinstimmungen führen, da die Hauptgegenstände von Schillers späterer ästhetischer Reflexion über das Erhabene und die tragische Kunst, über die objektive Autonomie der Kunst und die "ästhetische Erziehung" oder schließlich über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Poesie der Antike und der Moderne, im Gedicht nicht thematisiert werden. Darüber hinaus bildet Schillers Studium der Kantschen Philosophie und insbesondere von dessen Kritik der Urteilskraft eine kaum zu überbrückende Wasserscheide, die die im Gedicht Die Künstler enthaltene Kunstauffassung von jener der späteren ästhetischen Überlegungen Schillers trennt, welche ausnahmslos von diesem Werk ausgehen und sich mit ihm auf verschiedene und zunehmend kritischere Art und Weise auseinandersetzen.
Goethe lebte auf großem Fuß, das belegen seine akribisch geführten Haushaltsbücher aus der Weimarer Zeit. Großzügig war er, wenn es um die fürstliche Bewirtung seiner Gäste, seine zahlreichen Reisen und die Neuanschaffungen für seine Sammlungen ging. Bescheidener lebte er im engeren Familienkreis. Geprägt von den bürgerlichen Prinzipien seines Frankfurter Elternhauses war ihm die sorgfältige Kostenkontrolle immer ein Anliegen, die Ordnung seiner privaten Finanzwirtschaft stellte für ihn die Basis seines Lebenswerks dar.
Worin besteht die Aufgabe einer künftigen Hypernarratologie, so könnte man programmatisch fragen und – ebenso programmatisch – darauf antworten: Die Aufgabe einer künftigen Hypernarratologie besteht darin, den Zusammenhang zwischen den spezifisch hypertextuellen und den allgemeinen semantischen Strukturen einer Hyperfiction zu untersuchen. Doch was heißt das? Durch welche Strukturmerkmale zeichnet sich ein Hypertext, zumal ein poetischer, aus? Ich möchte versuchen, diese Frage in zwei Schritten zu beantworten: In einem ersten Schritt werde ich mich der Frage theoretisch nähern, wobei die Begrenztheit der bisherigen Herangehensweisen zu Tage treten wird. In einem zweiten Schritt werde ich die Frage nach den Strukturmerkmalen narrativer Hypertexte im Rahmen der ›Analysepraxis‹ aufwerfen, wenn es um eine Deutung von Berkenhegers Hilfe! geht.
Unter deutschen Handschriften, die in tschechischen Archiven und Bibliotheken aufbewahrt werden, findet man zahlreiche Überlieferungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Fachliteratur. Ein Teil dieser Texte ist in Böhmen und/oder in Mähren entstanden und ist auf die jahrhundertelange Zweisprachigkeit und das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen auf diesem Gebiet zurückzuführen. Ein beträchtlicher Teil der überlieferten Fachliteratur wurde jedoch anderswo geschrieben. Diese Werke, die auf verschiedene Art und Weise nach Böhmen oder Mähren gelangten, können heute als Zeugen der engen Kontakte zwischen tschechisch- und deutschsprachigen Ländern in der Vergangenheit angesehen werden.
"Welch schamlose Bestie der Krieg ist" : zu Leben und Werk des Schriftstellers Alexander Moritz Frey
(2014)
Der vorliegende Beitrag verfolgt zwei Ziele: Zunächst gewährt eine überblicksartige Zusammenfassung von Freys Vita und seinen autobiografischen Stellungnahmen einen Einblick in seine Bekanntschaft mit Adolf Hitler aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und die Gründe für seine Flucht aus Nazi-Deutschland. In einem zweiten, analytischen Teil wird eine Auswahl von Freys Antikriegstexten auf wiederkehrende semantische Relationen hin untersucht, die Aufschluss über das Erzählen vom Krieg geben.
"Welch ein schönes Land und welche häßlichen Menschen" : Ludwig Börne in der vormärzlichen Schweiz
(2005)
Die Schweiz werde ich im folgenden, was im Vormärz naheläge, nicht eigentlich als Exilland ansprechen; vielmehr wird gefragt werden, wie ein Pariser Exilant in den Jahren nach 1830 die Schweiz als Tourist erlebte. In der noch immer bescheidenen Börne-Forschung ist diesem Aspekt bislang kaum Rechnung getragen worden.
Zu den zahlreichen kritischen Intellektuellen, die im 20. Jahrhundert den Essay als kritisches Instrument erprobt haben, gehört – neben Robert Musil, Heinrich Mann, Jean-Paul Sartre, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse - auch Peter Weiss. Seine berichterstattende Prosa, die 1968 und 1971 in zwei Bänden erschien, nannte Weiss "Rapporte". Die Rapporte-Bände wurden offensichtlich auf Initiative des Autors veröffentlicht, was einem Hinweis auf einen verschollenen Brief des Autors an seinen Verleger Siegfried Unseld zu entnehmen ist. Die Rapporte umfassen nicht nur Essays, sondern auch Reden, politische Stellungnahmen und offene Briefe. Der erste Band enthält neun kürzere Texte, die 1960 bis 1965 in literarischen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht wurden. Der zweite Band mit seinen dreizehn Pamphleten zur aktuellen Tagespolitik hat einen ausgesprochen politischen Charakter. Die Notizbücher, die in zwei Teilen veröffentlicht wurden, bieten eine Art Fortsetzung der Rapporte, aber in verkürzter Form. Eine Sammlung essayistischer Arbeiten liegt mit Rekonvaleszenz vor, einem Buch, das während eines Krankenhausaufenthaltes nach dem ersten Herzinfarkt 1970 entstand. Darin äußert sich Weiss zur Tagespolitik, Kunst und Literatur, aber auch zu spezifisch schwedischen Phänomenen, etwa dem Niederreißen der alten Bausubstanz Stockholms. Auch das erzählerische Werk des Autors, vor allem 'Die Ästhetik des Widerstands' (1975-1981), trägt ausgeprägt essayistische Züge. So wurde in der Sekundärliteratur etwa bezweifelt, dass es sich bei Weiss' Magnum Opus um einen Roman handele. Vielmehr entziehe sich 'Die Ästhetik des Widerstands' jeglicher Gattungsbestimmung; dieses Werk sei ein essayistisches Gebilde: "Die Gattungsbezeichnung 'Roman' wird diesem nicht gerecht, handelt es sich doch kaum um Figurenkonstellation, Charakterentwicklung, Handlungsstrukturen, sondern eher um Abhandlung, Essay, Traktat, um kunsttheoretische, politische und wissenschaftliche Überlegungen mehr als um erzählerische Ausfabulierung eines Gesellschaftspanoramas oder eines individuellen Konflikts." Nun ist aber gerade das essayistische Werk des Autors in der Weiss-Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden.
Der vorliegende Beitrag - die stark überarbeitete Fassung des Vortrages "Lektüren des Unausdeutbaren ", den der Verfasser im Januar 2004 im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Vortragsreihe GrenzBereiche des Lesens hielt - ist auch erschienen in: literatur für leser 27 (2004), Heft 4, S. 181-199. Ein Beispiel für die Schwierigkeit der literarischen Lektüre gibt Friedrich Schmidt. Er untersucht Lektüremöglichkeiten für das formale wie semantische "Abgebrochensein" des literarischen Kunstwerks der Moderne, wie es in den Fragmenten Kafkas seinen exponierten Ausdruck findet. In diesen Texten tritt zur äußeren Unabgeschlossenheit des Textkorpus ein brüchiges Sinngefüge: die Endlosigkeit der Reflexionen und Handlungszüge, die Heterogenität der Erzählfiguren, die Inkonsistenz jeder Bedeutungskonstruktion von Seiten des Lesers. Indem überdies der Abbruch, als verlorene Schrift oder verschwiegene Botschaft, in Kafkas Fragmenten explizit zum Thema wird, erhebt sich der Text gleichzeitig zum metareflexiven Kommentar: er vollzieht selbst, wovon er spricht. Insofern handelt er – sprachskeptisch – vom Defizit seines eigenen Ausdrucks, das letztlich auch von Lektüren nie vollständig eingeholt werden kann.
Patrick Eiden-Offe beginnt in "'Weisse Sclaven': Oder wie frei ist die Lohnarbeit? Freie und unfreie Arbeit in den ökonomisch-literarischen Debatten des Vormärz" mit einer Übersicht über die verschiedenen Reflexionsweisen freier und unfreier Arbeit in der Sozialtheorie des Vormärz: bei Weitling, bei Heß und im "Gesellschaftsspiegel". Es wird gezeigt, wie genau die verschiedenen Formen von Arbeit registriert werden, wie wenig aber auch noch eine präzise Begriffssprache für diese Phänomene existiert - die erst mit Karl Marx ausgearbeitet wird, der "Lohnarbeit" und "Kapital" als relationale Begriffe sowie als gesellschaftliche Formbegriffe entwickelt. Anknüpfend an die Kritik der New Labour History gelte es festzuhalten, dass bei der begrifflichen Klärung der Blick auf die historisch-empirisch im Vormärz oft noch ungeklärte Situation verloren geht, weshalb Marx etwa die Sklaverei seiner Zeit nicht als funktionales Komplement, sondern lediglich als Residuum überkommener Arbeitsverhältnisse deuten könne. Empirische oder theoretische Annäherungen an das Problem seien also notwendig mit Ausschlüssen und partiellen Blindheiten verbunden. In einer Betrachtung von Ernst Willkomms Roman "Weisse Sclaven" konstatiert der Autor, dass Willkomm in seinem Entwurf eines soziales Kontinuums von freier und unfreier Arbeit die funktionale Bezogenheit der verschiedenen Formen aufzeigt und dabei eine erstaunliche Hellsicht für globale Zusammenhänge beweist. Dies sei, so die These, allerdings allein im Medium Literatur möglich, indem die begriffliche Unschärfe produktiv gemacht und Zusammenhänge aufgezeigt würden, die theoretisch zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht eingeholt werden konnten.
Rezension zu: Wolfgang Bunzel (Hrsg.) unter Mitarbeit von Anke Harms und Anja Leinweber : Hänsel und Gretel im Bilderwald. Illustrationen romantischer Märchen aus 200 Jahren Frankfurt am Main 2012, Frankfurter Goethe-Haus/Freies Deutsches Hochstift 2012, ISBN 978-3-9814599-1-3, 165 Seiten, 19,90 Euro.
Themen wie Antisemitismus, Exil, Flucht oder Vertreibung wurden in der deutschsprachigen und vor allem in der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg relativ spät und nur sehr zögerlich aufgegriffen. Das hängt sehr stark mit dem damaligen politischen Klima zusammen. Die meisten ÖsterreicherInnen fühlten sich als erste Opfer von Hitlers Annexionspolitik, die jüngste Vergangenheit wurde weder in der Öffentlichkeit, in der Literatur, noch in Schulen thematisiert, sondern meist verschwiegen und verdrängt. Vor allem der Kinder- und Jugendliteratur wurde die Aufgabe zugesprochen, eine heile Welt zu schaffen – vorrangig für jene Kinder, die den Krieg selbst miterlebt hatten. Dabei richtete sich der Fokus auf jene, die während der NS-Zeit in Österreich verblieben waren und nicht auf jene, die selbst von Anfeindungen aller Art betroffen waren. AutorInnen, die aus eigener Erfahrung berichten hätten können, waren noch nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt bzw. wurden auch nicht eingeladen, wieder zurückzukommen. In diesem Klima gab es kaum einen Markt für Kinderund Jugendbücher, die von einer Realität berichteten, die damals und auch lange nach Kriegsende kaum jemand hören wollte. Ein Beispiel dafür ist Mira Lobes Insu-pu. Die Insel der verlorenen Kinder. Das Buch war bereits im Exil verfasst worden und erschien zunächst 1948 in Tel Aviv. In der ursprünglichen Form weist es direkte Verbindungen zu Vertreibung und Exil auf, die in den deutschen Versionen ab 1951 verschwinden. In der Originalversion ist zu lesen, dass eine Kindergruppe aus einem bombengefährdeten Gebiet per Schiff evakuiert wird. In den späteren Ausgaben fehlt dieser Bezug zur Realität. Die Kinder geraten zufällig auf eine Insel, wo sie aus eigener Kraft einen Kinderstaat aufbauen und das eigene Überleben sichern. Der historische Bezug wurde damit gelöscht und mit ihm auch die Chance, sich in der Kinder- und Jugendliteratur kritisch mit der eigenen Vergangenheit zu befassen. Österreichischen AutorInnen wie Alex Wedding, Fred Wander oder der aus politischen Gründen ins Exil gegangenen Hermynia Zur Mühlen, die 1945 in ihrem Buch Little Allies Flüchtlingskinder aus 14 Nationen einander ihre Märchen erzählen lässt, wurden eher in der DDR als in ihrem Heimatland Österreich eine Stimme gegeben. ...
Felix Salten (eigentlich Siegmund Salzmann, 1869-1945) ist bekanntlich der Autor von "Bambi" gewesen, jener rührenden 'Lebensgeschichte aus dem Walde', die durch die gleichnamige Disney-Verfilmung weltberühmt geworden ist. Felix SaIten wird aber auch eine andere, berüchtigte 'Lebensgeschichte' zugeschrieben: die der 'wienerischen Dirne' "Josefine Mutzenbacher". Mit seinem Namen verbinden sich zwei offenbar höchst disparate literarische Gattungen: 'Tiergeschichte' und 'Pornographie'.
Die Disparität dieser Gattungen bedarf anscheinend keines Nachweises. Gewöhnlich wird nicht einmal die eine auf die andere als ihren Gegensatz bezogen. Auch "Bambi" und "Josefine Mutzenbacher" haben dazu bisher selten herausgefordert. "Bambi" bietet das Panorama einer luftigen Wald-und-Wiesen-Idylle, die sich immer dann als trügerisch erweist, wenn der Mensch auf den Plan tritt; im Modus der Kontemplation beschreibt das Buch ein schicksalhaftes, mal rührendes, mal trauriges Ineinander von Unglück und Glück.
Friede den Hütten! Krieg den Palästen!
Im Jahre 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften Tage und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: 'Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht', und hätte die Bauern und Bürger zumGewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag: sie wohnen inschönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und redeneine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. DerBauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen.
Mit dieser rhetorischen Fanfare beginnt der Hessische Landbote, jene politische Flugschrift, die Georg Büchner 1834, noch vor seinen eigentlich literarischen Werken, veröffentlichte. Es ist der Text in Büchners Werk, in dem die biblischen Bezüge am deutlichsten sind, wie in der zitierten Passage nicht nur die explizite Erwähnung der Bibel im ersten Satz und die deutliche Anspielung auf Jesaja 1.7 "Fremde verzehren eure Acker vor euren Augen" zeigt. Auch der gesamte Tonfall, jene Mischung von Vehemenz und Anschaulichkeit, die den Landboten insgesamt auszeichnet, ist biblisch geprägt. Allerdings wissen wir nicht einmal sicher, ob dieser zitierte Anfang von Büchner stammt, denn der Landbote hat zwei Autoren: Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig, der einen nicht überlieferten Entwurf von Büchner überarbeitet und ergänzt hat, so dass am Ende kaum zu sagen ist, wer hier was geschrieben hat.
Werbung stellt in einer von Globalisierung und Transkulturalität geprägten Welt ein Phänomen dar, das nicht nur omnipräsent ist und uns mit Glücksversprechen und Idealbildern in Plastik(-schein-)welten verführt, sondern zunehmend als populäre Form der Kunst gepriesen wird, deren Wirkung durch ausgefeilte Formen der Rhetorik sowie eine suggestive bzw. manipulative Bildersprache gekennzeichnet ist. Fach- und insbesondere Fremdsprachen bilden einen wesentlichen Bestandteil im sprachlichen und stilistischen Repertoire der Werbesprache. Der Beitrag gliedert sich denn auch in zwei Abschnitte: Im ersten Teil der Untersuchung wird das sprachliche und stilistische Repertoire (Fachsprachen, Jugendsprache, Dialekt, Fremdsprachen (Anglizismen) der Werbesprache dargestellt. Der zweite Teil der Untersuchung beinhaltet eine exemplarische Analyse von türkischen und deutschen bzw. deutschsprachigen Werbeanzeigen im Hinblick auf die Verwendung von Anglizismen.
"Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden..." : Heinrich von Kleists "Poetik der Unschärfe"
(2011)
Seit Jahren steht in der Diskussion über Heinrich von Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ die Frage im Mittelpunkt, wie man mit dem latenten Rassismus umzugehen hat, der Kleists Novelle prägt. Warum beispielsweise gibt der Erzähler die komplexen historischen Ereignisse rund um den zwischen 1798 und 1807 andauernden Freiheitskampf der »schwarzen Sklaven« gegen ihre »weißen Kolonialherren« mit der tendenziösen Formel wider, seine Geschichte spiele zu jener Zeit, »als die Schwarzen die Weißen ermordeten«? Stellt diese Zusammenfassung die Historie nicht zuungunsten der »schwarzen« Freiheitskämpfer auf den Kopf? Verweigert „Die Verlobung“ der schwarzen Bevölkerung Haitis jene Rechte, welche die Aufklärung und Französische Revolution den »Weißen« zusichern? War Heinrich von Kleist ein Rassist?