830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Die Poesie hat es im Streit der Künste nicht leicht, sich gegen die Macht der Musik zu behaupten. Die Überlegenheit der Musik steht mit Monteverdi schon am Anfang der Operngeschichte. Die Operngeschichte ist voller Beispiele vom Streit zwischen Dichtern und Musikern. Nur ein transdisziplinärer Meister wie Dieter Borchmeyer vermag dieses Wechselspiel zu überschauen. Immer wieder strebte die Kunst zum Gesamtkunstwerk und zur Fusion von Wort und Ton. Richard Wagner gab aller neueren Kunst das Beispiel vor. Friedrich Nietzsche nahm den ungleichen Kampf mit Wagner auf. Sein Gegenprojekt war eng mit dem Mythos von Dionysos und Ariadne verbunden. Zuletzt sah er in Cosima Wagner seine Ariadne verkörpert Im 'Ecce homo' fragte er noch: "Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist!" (KSA 6, 348) Seine letzten Zeilen an Cosima lauteten dann wohl: "Ariadne, ich liebe Dich. Dionysos". Auf Dionysos und Ariadne lief seine Wiedergeburt der Antike im Kampf mit Wagner hinaus.
Wo es um Musiktheater geht – und Musiktheater ist die ursprünglichste Erscheinungsweise von Theater! –, da geht es immer auch um das unterschiedliche Gewicht der tragenden Elemente: Sprachkunst, Musik, Szene. Im Laufe der Kulturgeschichte hat sich dabei eine fundamentale Umorientierung ergeben, die von dem anfangs herrschenden Vorrang der Sprachkunst zu einem Vorrang der Musik führte. Das verdeutlicht auch August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen "Über dramatische Kunst und Literatur":
In der [griechischen] Tragödie war die Poesie die Hauptsache: alles übrige war nur dazu da, ihr, und zwar in der strengsten Unterordnung zu dienen. In der Oper hingegen ist die Poesie nur Nebensache, Mittel das übrige anzuknüpfen; sie wird unter ihrer Umgebung fast ertränkt, […] Auch schadet es nicht, daß die Oper in einer meist nicht verstandenen Sprache vorgetragen wird: der Text geht ja ohnehin in solcher Musik verloren, […].
Aus Zeitgründen kommt es im Vorspiel zu Hofmannsthals "Ariadne auf Naxos" zu einer drastischen Maßnahme. In der Garderobe des Theaters, bei den Vorbereitungen zu einer festlichen Soiree im Haus des reichsten Mannes von Wien, haben sich die anwesenden Künstler einer unerwarteten Anordnung des Gastgebers zu fügen. Das Abendprogramm, bestehend aus der Opera seria "Ariadne" und der italienischen Buffo-Posse "Die ungetreue Zerbinetta und ihre Liebhaber" muß gekürzt, d.h. seine Abwickelung beschleunigt werden, ohne daß der Veranstalter auf einen der beiden Programmpunkte verzichten müßte. Auf seinen Wunsch hin werden die zwei musikalischen Darbietungen nicht hintereinander, sondern gleichzeitig aufgeführt:
"[…] es ist nun einmal der Wille meines gnädigen Herrn, die beiden Stücke, das lustige und das traurige, mit allen Personen und der richtigen Musik, so wie er sie bestellt und bezahlt hat, gleichzeitig auf seiner Bühne serviert zu bekommen."
Die Komödie wie die Tragödie haben sich in den gemeinsamen Raum einer, wie es mehrfach heißt, "wüste[n] Insel" und in dieselbe Zeit zu finden. Dieser Gleichzeitigkeitsbefehl ist mehr als nur die Willkür eines ungebildeten Kaufmanns, er bedeutet den Kollaps traditioneller Gattungsordnungen. Die hier nun folgenden Überlegungen möchten die experimentellen Bedingungen aufzeigen, die ihn fällig und möglich machen und zugleich die Folgen benennen, die aus der dekretorischen Aufhebung gattungspoetologischer Unterschiede resultieren.