830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Die Vorstellung vom Sehen als körperinnerem, kognitivem Prozess erlaubte es zum einen die Außenwelt als von der Wahrnehmung unabhängig und damit Geister als existent zu imaginieren. Zum anderen löste sie literarische Suchbewegungen nach dem Möglichkeitsspektrum des Sehens aus, wie die Robert Musils in den 1910er Jahren. Burkhardt Wolf beschreibt dessen literarische Experimente als Fortsetzungen seiner experimentalpsychologischen Sehversuche: In "Monsieur le Vivisecteur" befasst er sich damit, wie man die vorschnellen Assoziationen des Auges zügeln könne; in der Novellensammlung "Drei Frauen" ging es ihm um Störungen des Funktionsfeldes von Wahrnehmung, Gefühl und Weltbezug. Für beide Auseinandersetzungen mit dem Sehen im Text waren Musils Wahrnehmungsversuche am Tachistoskop entscheidend. Insbesondere der Text "Das Fliegenpapier" lässt erkennen, wie sehr der Impuls für Musils Schreiben in der Störung des Sehens lag. Seine Texte können somit, so Wolf, als fiktionale Sehversuche, als Experimentalanordnungen des Sehens aufgefasst werden.
Wahrnehmen wahrnehmen, das Sehen sehen - solche Wendungen gehören mittlerweile zum Jargon des (radikalen) Konstruktivismus und der Systemtheorie ebenso wie zum universitätsgeschulten Kunstjournalismus und klingen so vertraut, als ob sie immer schon dagewesen wären. Dabei haben diese Konzepte ihre Geschichte, die um 1900 beginnt. Mit dem Dreieck, das der Biologe Jakob von Uexküll, der Mathematiker und Phänomenologe Edmund Husserl und Rainer Maria Rilke bilden, ist zu zeigen, daß es mehrere Disziplinen waren, die sich um das Problem der Wahrnehmung gekümmert haben - alle drei sind noch obendrein geschult am erkenntniskritischen Werk Kants, das sie mehr oder weniger gründlich kennen und das immer wieder anklingt. Im Zentrum steht dabei die Frage der Wahrnehmung von Welt und der Ausbildung eines symbolischen Zwischenraums, der Kunst sein kann - und den man im Projekt des "neuen Sehens" von unterschiedlicher Seite aus konstituieren möchte. Die 'Neuen Gedichte' erscheinen dann in einem Commercium vielfältiger Wissensgebiete, die Rilke auch sucht, um der Skepsis gegenüber dem eigenen Ausdruckmedium zu begegnen. Aus diesen Kontexten heraus sollen nicht nur Begriffe des "sachlichen Sagens" und "neuen Sehens", sondern einige Charakteristika dieser selbstbezüglichen, antimimetischen Wortgebilde kommentiert werden, die trotz aller Selbstreferenz der Eigenwelt durchaus auf eine Umwelt gerichtet sind und an einer Zwischenwelt zur Wirklichkeit arbeiten.
"Paris ist für mich", schreibt Rilke 1907, "eine unermeßliche Erziehung, dadurch, daß es meinem Blick und meinem Gefühl, die entlegensten, äußersten, die schon nicht mehr nachweisbaren Thatsachen seelischen Erlebens bis zu beispielloser Sichtbarkeit (ja, Weithinsichtbarkeit) verdichtet, hinhält". Diesem in bzw. an Paris erfahrenen Zusammenhang von Blick und Gefühl, Sichtbarkeit und seelischem Erleben, Sehen-Lernen und Innerlichkeit geht Karin Winkelvoss hier noch einmal nach.
"Fürstin, wissen Sie, daß ich eine einzige Sehnsucht hätte: nach Toledo zu reisen. Diese Nacht bildete ich mir plötzlich ein, wir thätens, halb dachte ichs, halb träumte ichs und ließ mich in Beidem recht weit gehen".
In dieser Passage eines Briefes, den Rainer Maria Rilke am 27. September 1911 aus Paris an seine mütterliche Freundin und Mäzenin Marie von Thurn und Taxis schreibt, artikuliert sich ein Wunschtraum des Verfassers, der nicht nur bald schon in Erfüllung gehen sollte: seine imaginäre, ja visionäre Ausrichtung ist es vor allem, die Rilkes Spanienreise strukturell bestimmen wird.
Rilkes Sehnsucht nach Toledo, die Vision einer Stadt, deren Anblick Leben und Schaffen grundlegend zu ändern in der Lage sein könnte, geht auf seine intensive Beschäftigung mit Gemälden El Grecos zurück, welche schon lange vor seinem endgültigen Aufbruch nach Spanien einsetzt. Wenn nun Rilke schon vor seiner Reise aus seiner Bildbetrachtung Vorstellungen entwickelt, die er auf Spanien projiziert, heben sich im Blick des Betrachters die Unterscheidung von Kunst und Lebenswirklichkeit auf. Die spanische Landschaft konstituiert sich als Kunst-Landschaft erst im Akt des gestaltenden Sehens, welches vorgegebenen ikonographischen Mustern, hier solchen El Grecos, folgt. Jede Begegnung mit der Außenwelt wird dem Künstler dort zum deja-vu-Erlebnis, wo das Sichtbare eine spiegelbildliche Reproduktion seines imaginären Landschaftsentwurfs darstellt. Der vorliegende Beitrag will den poetologischen und wahrnehmungsästhetischen Implikationen einer solchen Betrachterperspektive nachgehen.
Das Erfahrungsmodell, durch dessen Vermittlung in der europäischen Kultur Wirklichkeit aufgefaßt und dargestellt wird, ist dasjenige der "Lesbarkeit der Welt". Niemand war sich dessen genauer bewußt als der junge Hugo von Hofmannsthal, der in der kulturgesättigten Atmosphäre der Jahrhundertwende aufwuchs: einer Welt aus Schriftzeichen, einer Welt der Aufzeichnungen und Archive, einer Welt schließlich der universellen Verfügbarkeit allen Wissens aus allen Kulturen. In der Gestalt des Wunderkindes Hofmannsthal war auf vollkommene Weise die Sprach-, Wahrnehmungs- und Wissenskrise der Jahrhundertwende repräsentiert, die - wie keine andere Epoche der Kulturgeschichte - aus Glanz und Last der Überlieferung ihr Selbstbewußtsein wie ihre tödliche Melancholie bezog.
Um die Frage des Lesens dessen, was nie geschrieben wurde, und jene andere Frage der Nicht-Lesbarkeit der Welt, wie sie auf vielfache Weise im Werk des frühen Hofmannsthal zum Ausdruck kommen, soll es in den hier angestellten Überlegungen gehen. Im Jahr 1909, also schon im Rückblick auf jene Zeit früher Verwirrungen der neunziger Jahre, macht Hofmannsthal sich eine Reihe merkwürdiger Notizen. Sie nehmen ihren Ausgang von der Idee des Schöpferischen und der Möglichkeit solchen Schöpferturns in einer übersättigten Kultur und mögen wohl Vorstudien zu einem geplanten Aufsatz über dieses Thema sein.