830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Golo Maurer thematisiert in seinem Beitrag als einflussreiche Vorbilder der Italienbeschreibung Goethes "Italienische Reise" und Eichendorffs Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" und setzt diese in Beziehung zu unbekannteren Autoren. So greifen der Kulturhistoriker Viktor Hehn, der Jurist Friedrich Johann Meyer und die Maler Joseph Führich und Ludwig Richter in ihren Italiendarstellungen auf Topoi der Italiendarstellung zurück, lassen aber auch individuelle Akzente in der Auseinandersetzung mit dem Land erkennen. Ausgehend von der These, dass die Hinwendung nach Italien immer mit der Abwendung vom Politischen, v. a. von der Situation in der Heimat, einherging, deutet Maurer die Auseinandersetzung mit der südlichen Wahlheimat als Form eines auf einen neuen Gegenstand verschobenen Patriotismus.
Einen Roman zu betiteln ist eine der prekärsten ästhetischen Aufgaben. Der Titel sollte den Inhalt spiegeln, weder banal noch kryptisch sein, nicht zu lang - jedenfalls in den letzten zwei Jahrhunderten -, nicht missverständlich, dafür griffig, und bei alldem werden die guten Titel mit der Zeit knapp. [...] "Die Strudlhofstiege" ist für Ortsfremde ziemlich kryptisch, schwer zu merken und zu schreiben, dazu noch ein Roman mit einem Unter- oder besser: Nebentitel, gemäß dem "sive" in Doderers geliebtem Latein: "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre" (1951). Hier beginnt auch schon die Raffinesse, denn Doderers Roman hat nicht weniger als drei 'Helden', und alle drei sind darin genannt: Die Strudlhofstiege, Melzer, die Tiefe der Jahre - der Ort, der Protagonist, die Zeit an sich. [...] Interesse weckt die Titelformulierung schon deshalb, weil sie "Melzer und die Tiefe der Jahre" miteinander konfrontiert. Es ist gewissermaßen eine staunende Begegnung, die hier erzählt wird, denn der vornamenlose Major Melzer wird bekanntlich "Mensch", indem ihm seine Vergangenheit bewusst und ihm via Zeitreise subtil klar wird, was für sein Leben nottut. [...] Im Mittelpunkt jenes Verfahrens, das den polychronen Roman Dodererscher Prägung trägt, steht die Frage: Wie zeigt, wie simuliert man das Vergehen der Jahre? Man ahnt bereits, dass dem typischen memorialen Zeitroman die 'Tiefe der Jahre' als Metapher für subjektives Zeiterleben und die Sondierungsbohrung der Erinnerung dient. Doch wenn man von Polychronie spricht, ist vom Modell des memorialen auch der chronikalische Roman abzugrenzen, der ebenfalls eine - und zwar beträchtliche - Tiefe der Jahre aufbietet, freilich und gerade weit jenseits der Lebens- und Erinnerungsspanne des Individuums. Die zeit- und erinnerungsmimetische Funktion der Vertikalität wird jedoch erst erfüllt, wenn der kognitive Adaptionsprozess in beide Richtungen verläuft. Dann entsteht durch eine Art Hin- und Herzoomen eine (beinahe) sinnliche Erfahrung, die in dem knappen Horizont ästhetischer Erfahrung Zeitbewusstsein und Erinnerung erfolgreich simuliert.
Kein Begriff Walter Benjamins hat der Rezeption so große Schwierigkeiten bereitet wie der des "Messianischen". [...] In diesem Aufsatz schlage ich vor, das Messianische als eine zeitliche Struktur im Rahmen von Benjamins politischer Zeitphilosophie zu betrachten. Diese Struktur, so werde ich argumentieren, bildet einen aktualisierbaren, immanenten zeitlichen Index. Als Zeitstruktur verstanden wird das Messianische zu einem Grenzbegriff, der ontologische Theologie und materialistische Kritik vermittelt. Dieser Zusammenhang lässt sich anhand des Begriffes des Virtuellen, so wie ihn Gilles Deleuze entwickelt hat, verdeutlichen. Mit Deleuze gesprochen stellt das Virtuelle eine Wirklichkeitskategorie des mehr als bloß Möglichen dar, wobei sich die Realität in Virtualität und Aktualität differenziert. Im theoretischen Kontext der Zeitphilosophie charakterisiert der Begriff eine nicht aktualisierte Intensität, die dennoch in ihrer Unaktualität eine reale Wirkung hat. Diese reale Potenzialität, auf die der Begriff des Virtuellen zielt, ermöglicht meines Erachtens eine Entmystifizierung des theologischen Gehalts des Messianischen. Wenn sich das Messianische nicht als soteriologischer Mystizismus, sondern als immanente Virtualität verstehen lässt, so ist dies erstens mit dem Materialismus vereinbar, und zweitens dient es der Klärung des Verhältnisses von Zeitphilosophie und politischer Theorie Benjamins. Ziel des Aufsatzes ist es daher, den esoterischen Begriff des Messianischen anhand des systematischen Begriffs des Virtuellen zu entfalten und in einer Zeitphilosophie der Immanenz zu verorten. Als Zeitstruktur bedingt das Messianische die im Engagement begriffene Stellung der Gegenwart zur und in der Geschichte, welche die Grundlage der Revolutionstheorie Benjamins bildet. Dessen Erhellung soll neues Licht auf das politische Potenzial seines Spätwerks werfen.
Este artigo explora a noção de extemporaneidade tomada como um traço distintivo do modelo temporal adotado pelos classicistas de Weimar, por Goethe em particular. Concebe o "extemporâneo" como um preceito e uma prática que supõe um movimento de dissociação do tempo presente e da pessoa do autor. Com base no ensaio "Sansculottismo literário" e na tradução da "Vida" de Benvenuto Cellini, publicadas originalmente no periódico "As Horas" ("Die Horen"), procuro esboçar o elo entre a resposta à Revolução Francesa e a reflexão sobre autoria, e discutir os limites da "extemporaneidade" de Goethe como meio de implementar a autonomia artística.
In diesem Aufsatz möchte ich untersuchen, wie die Rahmen- und Binnengeschichten in 'Marathon, Eis und Schnee', 'Safari' und 'Johanna' räumlich gestaltet sind, und welche Rückschlüsse die Gestaltung von Räumlichkeit in diesen Texten auf Felicitas Hoppes Poetologie erlaubt. Dabei gehe ich davon aus, dass sich eine Analogie ausmachen lässt zwischen der Raumordnung, der Zeitordnung und der narrativen Ordnung von Rahmen- und Binnenebenen, die auch für Hoppes übriges Werk charakteristisch ist: In allen diesen drei Aspekten bestehen Grenzen, die sich jedoch im Erzählen als zunehmend permeabel erweisen.
Die fragmentierte und scheinbar kontingente Struktur von Goethes Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" folgt, so soll hier gezeigt werden, nicht zuletzt auch einem besonderen Zeitregime. Der Roman erprobt vor allem in seiner um Wilhelm und Lenardo gruppierten Handlung Formen des analeptischen Erzählens, das die Ereignisse nicht chronologisch-linear, sondern in wiederholten Rückgriffen und Zeitschleifen entwickelt. Dieses Erzählen 'von' und 'in' Vorgeschichten folgt einem Schema, das Goethe in den homerischen Epen vorgeprägt sieht, das aber auch mit Zeitreflexionen aus seinen geologischen Studien korrespondiert.
"...indem die Tage rollen..." : Zeit, Recht und 'Klassik' in Goethes "Die Natürliche Tochter"
(2020)
Der Beitrag geht von der These aus, dass Goethes Arbeit an der 'klassischen' Dramenform sich einer tieferen Einsicht in die zeitliche wie rechtliche Problematik der 'tragédie classique' verdankt als allgemein angenommen. Dabei dürfte es maßgeblich die Französische Revolution gewesen sein, die eine neue Attraktivität der 'alten' Form bewirkte. Das zeigt sich vor allem an "Die Natürliche Tochter", einem Stück, in dessen Entstehungszeit nicht zufällig Goethes Übersetzungen zweier Dramen Voltaires fallen. Figurationen politischer Gründung und Legitimation bildeten das Zentrum des 'klassischen' Dramas bereits bei Corneille und stellten es zuverlässig auf eine um 1800 für konservative Autoren aktuelle Zerreißprobe. Die forciert gelassene Präsentation legitimer Herrschaft unter der Berufung auf Zeitkontinuität und lang währende 'Gewohnheiten' stand in der 'tragédie classique' nämlich in massiver Spannung zur normativen Forderung der 'Einheit' der Zeit, die das Drama auf eine disziplinierte Zeitökonomie und idealerweise sogar auf die Synchronisierung von dargestellter Zeit und Zeit der Darstellung verpflichtete. Dort, wo Corneille solche Spannungen entweder zu kaschieren oder politisch zu nutzen versuchte, reißt Goethe in "Die Natürliche Tochter" zwischen Figurenrede und Dramaturgie eine unüberwindbare Kluft und lässt ursprüngliche Funktionen der 'klassischen' Zeitökonomie konsequent leerlaufen. Sein Drama betreibt demnach keine restaurative Formpolitik, sondern führt die historische Uneinholbarkeit der 'klassischen' Form angesichts zeitgenössischer politischer Entwicklungen vor.
Vorwort
(2020)
Lange waren Formkonzepte dem Zug der Zeit entzogen, um dann am Ende des 18. Jahrhunderts, und prominent in Goethes Naturforschung, massiv unter ihren Einfluss zu geraten. Wenn Goethes Überlegungen zu Morphologie und Metamorphose Manifestationen der im späten 18. Jahrhundert auf breiter Front beobachtbaren Verzeitlichungsprozesse darstellen, drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis von Zeit und Form in der als Zeitkunst verstandenen Literatur des Autors wirksam wurde.
Spricht man vom "Lebenspathos" der Jahrhundertwende in jenem Sinne, in welchem Wolfdietrich Rasch es das "Grundwort" der Epoche um 1900 genannt hat - als "Erfahrung der Einheit und Allverbundenheit des gesamten Seienden", die auch die "Einheit von Leben und Tod" einschließt -, dann ist dabei ausdrücklich nicht vom Leben des Einzelnen und seiner Endlichkeit die Rede. Unter dem Aspekt der Diesseitigkeit dieses Lebensbegriffes, so betont Rasch, könne zwar "auch vom Leben eines Einzelnen mit Emphase gesprochen werden. Aber im Ganzen gilt das Lebenspathos nicht dem personhaften Einzelleben, das zwischen Geburt und Tod in der Zeit verläuft, sondern durchaus dem Gesamtleben, dem Ganzen der überindividuellen, vorindividuellen, ewig flutenden Strömung, die jedes Einzelleben gleichermaßen durchdringt." So unbestreitbar die Bedeutung des 'großen', alles einzelne umfassenden Lebens für die Dichtung der Jahrhundertwende auch ist - es genügt, an Hofmannsthals Bruchstück "Der Tod des Tizian" von 1892 oder einige seiner frühen Gedichte zu erinnern -, so handelt es sich bei der generalisierenden Sicht Raschs doch entschieden um eine perspektivische Verkürzung. Denn es ist evident, daß das Werk Hofmannsthals oder Schnitzlers ebenso aus dem Pathos lebt, mit dem es vom Einzelnen spricht - und damit, wie die Marschallin im Rosenkavalier, vom Wissen um die Zeitlichkeit als unhintergehbare Bedingung des menschlichen Lebens geprägt ist.