830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Drei paradigmatische empfindsame Romane – Gellerts "Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G***", Sophie von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und Goethes "Werther" – werden darauf hin befragt, was sich ihnen hinsichtlich der diskursiven Struktur der Empfindsamkeit ablesen läßt. Dabei werden, aufbauend auf Foucaults Bestimmungen, ein starker und ein schwacher Diskursbegriff unterschieden: Kriterium der Unterscheidung ist, ob eine "Formation" sich selbst als Diskurs organisiert oder ob sie nur (nachträglich) als Diskurs beschrieben werden kann. Mit Hilfe dieser Differenz läßt sich eine signifikante, notwendige Entwicklung der Empfindsamkeit nachweisen, die die drei Romane auf unterschiedliche Weise reflektieren.
Der Prozess einer allmählichen, stellenweise auch plötzlichen Umorientierung literarischer Wertmaßtäbe um 1830 soll an einem Fallbeispiel konkretisiert werden, nämlich der zeitgenössischen publizistischen Rezeption von Grabbes Dramen. Gefragt wird nach den Details eines literaturkritischen Diskurses, in dessen Verlauf die sakrosankte Gattungsnorm der Tragödie 'hohen Stils' suspendiert wird zugunsten eines offeneren Dramenkonzepts, das vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen und fruchtbar gemacht wird. Die Reaktionen auf Grabbes Dramen bieten sich für eine solche Fallstudie zum einen deshalb an, weil seine Dramen bei ihrem Erscheinen äußerst kontrovers diskutiert werden, und zum anderen, weil die dazu nötigen mühseligen positivistischen Vorarbeiten, nämlich das Auffinden und Sammeln zeitgenössischer Rezensionen, in diesem Fall schon seit Jahrzehnten abgeschlossen und publiziert sind: Zwischen 1958 und 1966 veröffentlichte der Grabbe-Forscher Alfred Bergmann in einer sechsbändigen, bislang von der Forschung weitgehend unbeachtet gebliebenen Dokumentation Grabbes Werke in der zeitgenössischen Kritik sämtliche erreichbaren publizistischen Äußerungen zu den Dramen Grabbes.
"... die werdent ouch Helmbrehtel!" : Zu den Prager und Wiener "Helmbrechten" im Spätmittelalter
(1987)
Man kann voraussetzen, daß einem Hörer oder Leser nach seiner Bekanntschaft mit der Erzählung vom 'Helmbrecht' der Name des Helden etwas anderes als ein beliebiger Rufname bedeutet haben wird. Jeder reale Namensträger ist für einen Rezipienten der Geschichte auffällig, und der Name wird eine gewisse Distanz hervorrufen. Vom Zeitpunkt der Erstaufführung der Erzählung Wernhers des Gartenaeres an konnotiert der Name Gewalt gegen Bauern, Strauchrittertum und Wegelagerei, Gottlosigkeit, Standesverrat und andere Bedeutungen mehr, deren Glieder eine ganze Kette negativer Besetzungen bilden. Man wird als Kenner der Materie seine Kinder nicht Helmbrecht nennen und auch Freunden von der Namensgebung abraten: nomen est omen. In der Meidung eines nunmehr besetzten Eigennamens artikuliert sich die Angst, durch die enge Relation von Zeichen und Bezeichnetem könne einer so werden wie jener Helmbrecht.
Der Aufsatz widmet sich einem 1810 in Heinrich von Kleists Berliner Abendblättern erschienenen Distichon mit dem programmatischen Titel „Nothwehr“ und unternimmt es, die in den beiden Versen geschilderte Technik der Täuschung und Verstellung vor dem Hintergrund der französischen Besetzung Preußens zu deuten. Dabei zeigt sich, daß das Notwehr-Distichon nicht nur als Lektüreanweisung zur Entschlüsselung der in den Abendblättern abgedruckten, vermeintlich pro-französischen Nachrichten zu verstehen ist, sondern darüber hinaus eine Denkfigur formuliert, der für Kleists Werke eine gewisse Schlüsselfunktion zukommt.
"An der nördlichen Grenze des Aalbuchs, wo sich das Gebürge in den Gauen, die der Kocher und die Rems bewässern verliehrt, erhebt sich an der Spitze eines in das Thal hervorspringenden Hügels, kühn und trotzig, ein ungeheurer Felsen, auf drei Seiten durch senkrechte Wände unzugänglich, und auf der vierten, durch einen schmalen Fußsteig mit der Ebene des Gebürgs verbunden. Eine hohe Mauer, aus mächtigen Quadern aufgeführt, und an der westlichen Eke ein runder Thurm, stark verletzt durch den Zahn der Zeit, - verkündigen hier dem Wandrer, den ehemaligen Wohnsitz eines deutschen Ritters. Eine unermeßliche Gegend überschaut der Beobachter in den Ruinen der zerstöhrten Burg, die man nur mit Mühe und Gefahr erklettert. Denn an einem schauerlichen Abgrund, zieht sich der schmale, klippigte Fußsteig herum, der allein auf den Gipfel des Felsen führt, und wildes Gesträuch und Dorngebüsch, aus verwitterten Steinen hervorgewachsen, machen die Tritte unsicher. Rosenstein ist der Name der Burg. Auf dieser Felsenspitze siedelte im fernen Mittelalter Ulrich von Rosenstein, ein stattlicher schwäbischer Ritter, kühn und tapfer, bieder und fromm, der nie aus einem Streite als Besiegter, nie von einem Turniere ohne Dank zurückgekommen war. Er war der Schreken der Boßheit und die Zuflucht der Tugend. Unermeßlich war sein Reichthum, groß die Zahl seiner Hintersaßen, und wol vierzig Edelknechte, zog er aus zur Fehde, folgten seinem Banner." Mit diesen Worten beginnt ein anonym bei dem Basler Drucker Flick im Jahr 1795 erschienener Ritterroman "Ulrich von Rosenstein. Eine Geschichte aus der Ritterzeit". Sein Autor, der sich spätestens in seinen (posthum veröffentlichten) Lebenserinnerungen zu dem belletristischen Werk bekannte: der evangelische Pfarrer von Neubronn, Johann Gottfried Pahl, damals 27 Jahre jung. Der gebürtige Aalener war einer der begabtesten ostschwäbischen Autoren seiner Zeit, wenig später sollte er sich als württembergischer Publizist einen Namen machen.
Alban Berg begann seine kompositorische Laufbahn als Komponist von Klavierliedern, die Teil einer quantitativ frappierenden Liedproduktion im Wien der Jahrhundertwende sind: Das Klavierlied hatte zu dieser Zeit in Wien schon eine lange, vor Franz Schubert beginnende Gattungstradition und erlebte als Gattung von besonderer Lokalbedeutung nun einen späten, abschließenden Höhepunkt. Kaum ein Oeuvre eines in Wien lebenden Komponisten dieser Zeit zeigt nicht die Anziehungskraft eines musikalischen Lyrismus. Das gilt für Wilhelm Kienzl, Julius Bittner, Carl Lafite, Joseph Marx ebenso wie für Franz Schreker, Alexander von Zemlinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern sowie für die beiden bedeutendsten Lied-Komponisten dieser Zeit - Hugo Wolf und Gustav Mahler. Ihre Liedkompositionen markieren zugleich einen zweifachen gattungsgeschichtlichen Wendepunkt, denn war Wolf der letzte, in dessen Schaffen das Klavierlied zwar noch einen alles dominierenden Rang einnahm, sich aber endgültig vom bis dahin gültigen Strophenlied-Modell ablöste und zum Deklamationslied entwickelte, so führte Mahlers Entwicklung von frühen, späterhin orchestrierten Klavierliedern zum Orchestergesang und zur Synthese zwischen Lied und Symphonik.
Der Briefwechsel [zwischen Mann und Adorno] bietet […] im Kontext der Adornoschen Ästhetik sowie später Erzählungen und Romane Thomas Manns eine hervorragende Möglichkeit, die Arbeit am Spätwerk nachzuvollziehen und als Auseinandersetzung mit dem Alter zu diskutieren. Insbesondere erlauben es die umstrittene Erzählung "Die Betrogene" (1952) und Adornos diesbezügliche Interpretation, die Konstellation von Alter, ästhetischer Theorie und literarischem Schreiben zu diskutieren.
"Man ficht und spricht heute schneller als vor 100 Jahren. Sogar von Demosthenes zu Cicero läßt sich die Entwicklung zum Telegraphenstil, zur mangelhaften Verknüpfung der Sätze, zur Wirkung durch abgerissene bedeutende Wörter beobachten".
Hugo von Hofmannsthal, Aufzeichnungen aus dem Nachlaß (1890?)
Die Bemerkung, die Hugo von Hofmannsthal im Alter von 16 Jahren gemacht haben soll, weist ihn schon vor dem eigentlichen Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn als feinfühligen Beobachter sprachhistorischer Entwicklungen, aber auch medialer Einflüsse aus. Mit seiner Ferndiagnose zur Entwicklung des literarischen Stils von Demosthenes bis Cicero, die er unter dem Eindruck des Telegraphenstils seiner eigenen Epoche vornimmt, bestätigt er nicht nur seine klassische Bildung, sondern auch seine medienkulturhistorische Zeitgenossenschaft. Der wahrgenommene Effekt ist einer der Dynamisierung und Fragmentierung von Kommunikation.
Als Georg Büchner sein hintergründig ironisches Porträt eines leibhaftigen "St. Simonisten" gegen Ende Mai 1833 per Brief an die Eltern schickt, hat die "école saint-simonienne" den Gipfel ihrer ebenso sensationellen wie kurzlebigen Popularität bereits überschritten. Amüsiert erinnern Büchners Zeilen an die Eltern an den Erfolg jener weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt gewordenen Bewegung, die kurz vor und kurz nach der Julirevolution 1830 "wie ein Wunder" auf der restaurationspolitischen Schaubühne erschien und binnen weniger Jahre ein Spektakel von europäischem Ruf veranstaltete. Die Geschichte der saint-simonistischen Bewegung von der enthusiastisch begrüßten neuen Religion auf der deutschen Seite hin zur heimlichen Bewunderung der nationalchristlichen Sittlichkeitsdoktrin seitens
der Saint-Simonisten soll im Folgenden anhand ausgewählter Stationen der Aufnahme der Doktrin in Deutschland betrachtet werden. Der Treffpunkt in der deutsch-französischen Debatte über den Saint-Simonismus liegt in der Reflexion auf die Krise der Arbeit in der postrevolutionären kapitalistischen Moderne, deren Lösungsversuche an den SaintSimonismus-Texten von Friedrich Buchholz, Ludwig Börne und entlang
des berüchtigten Artikels "Über die Rehabilitation des Fleisches" in der "Evangelischen Kirchenzeitung" diskutiert werden soll.
Ich spreche im Folgenden über ein Thema, das 'Hermeneutik nach Luther' heißen soll. Als Hermeneutik verstehe ich dabei im Anschluss an Friedrich Schleiermacher - also im Anschluss an einen protestantischen Theologen, der seine eigene Hermeneutikkonzeption vorwiegend mit Bezug auf die Auslegung des Neuen Testamentes entwickelt hat, das heißt in einem dezidiert christlichen und zugleich mehrfachen, noch näher zu klärenden nach-Luther'schen Sinn - die "Kunst des Verstehens". Die Bestimmung verdeutlicht, dass das Verstehen nichts Selbstverständliches ist. Verstehen versteht sich nicht von selbst. Es muss selbst verstanden werden. Hermeneutik bezeichnet nach diesem Verständnis eine Aufgabe, und zwar, wie Schleiermacher zu betonen nicht müde wird, eine niemals abgeschlossene, immer weiter fortzusetzende Aufgabe.