830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Rilke und Paris - von allen "topographischen" Themen, die man mit dem Leben und Werk eines "deutschsprachigen Dichters aus Prag" in Verbindung bringen kann, ist dieses wohl das vielseitigste, beziehungsreichste. Es ließe sich in zahlreiche Einzel- oder Unterthemen aufgliedern - systematisch, chronologisch, biographisch, werkgeschichtlich. Und es würde viele Jahre aus dem Zeitraum zwischen 1902 und 1925 erfassen müssen; zusammenhängende Jahre und auseinanderliegende. Wir beschränken uns dieses Mal auf ein einziges Jahr - 1925 - und auf einen einzigen, den größeren Teil dieses Jahres umfassenden Aufenthalt Rilkes in der französischen Metropole. Es war der letzte, den noch zu erleben dem Dichter vergönnt gewesen ist. Eine solche Beschränkung ist berechtigt. Denn in mehrfacher Hinsicht unterschied sich dieser ereignisreiche Aufenthalt grundlegend von allen vorangegangenen Lebensabschnitten, in denen Paris dem Dichter immer vertrauter, gelegentlich aber auch ermüdender geworden war. Indem wir diese Unterschiede berücksichtigen, vermögen wir zugleich den einzigartigen Charakter von "Rilke in Paris 1925" zu bestimmen und ihn abzuheben von allem, was Rilke zuvor in Paris zu erfahren wußte.
Gedicht "Le vin perdu" von Paul Valéry mit deutscher Übersetzung.
Une atmosphère toute de silence et d'éclat, de frisson et de plus haute tension, telle est l'oeuvre de Rainer Maria Rilke. Il n'est pas vain de noter que, dans son expression, elle recourt à une double voix, de préciser le sens d'un écart à l'intérieur d'une oeuvre grande et douloureuse dans sa construction, de montrer la nécessité de ce qui est pour finir mieux qu'un écart ; pour cela, il faut aussi, chemin faisant, embrasser la destinée poétique de Rilke dans sa globalité. Ce qu'il importe alors de considérer, c'est à la fois cette étrangeté et ce paradoxe que sont les poèmes français de Rilke. De temps en temps, à intervalles réguliers, tel ou tel esprit revient sur cette question, tourne autour d'elle, évoquant l'un de ses aspects, parfois plusieurs, sans jamais pouvoir totalement se soustraire à l'énigme qui se déploie dans la modestie d'une apparente récréation. Avec sa rectitude et son sens de la pondération nuancée, Philippe Jaccottet s'est approché mieux que tout autre du foyer de cette question, ce n'en est pas moins resté pour lui comme pour tous une réflexion ouverte et ce n'est pas moi qui mettrai un point final à ce mystère qui ne demande qu'à se prolonger comme tel et doit simplement être aperçu pour briller dans la lumière qui lui est due.
Rilke in meiner Familie
(2010)
Als Rilke starb, war ich neun Jahre alt. Mein Vater war Franz Hessel, ein Dichter, ein Schriftsteller und ein großer Übersetzer. Er hat Marcel Proust ins Deutsche übersetzt, eine große Balzac-Ausgabe betreut und war dem Rowohlt-Verlag jahrelang verbunden. Es ist mir aufgefallen, dass seine Generation ungefähr die Generation von Rainer Maria Rilke ist, und im Zusammenhang mit Rilke denke ich an drei, vier weitere Menschen aus dieser Generation, die mit meinem Vater in Verbindung standen.
Impressionen (Sommer 1925)
(2010)
Begegnung mit Rilke 1925
(2010)
Rainer Maria Rilke hatte die Prinzessin Marthe Bibesco (1888-1875) am 23. Januar 1925 in ihrer Pariser Wohnung besucht. Anlaß war die Rückgabe eines Bändchens von Racines Werken. Die Prinzessin hatte es während des Ersten Weltkriegs bei einem Besuch der Fürstin von Thurn und Taxis in ihrem böhmischen Schloss Lautschin aus der Bibliothek ausgeliehen und auf eine Gelegenheit gewartet, das Werk zurückgeben zu können. Nun sollte Rilke der Überbringer sein. Die französische Schriftstellerin und Tochter des rumänischen Außenministers Jean Lahovary hatte ihre Erinnerung an den Besuch im Oktober 1951 formuliert. Rilke hat ihre Werke mehrfach empfohlen.
[...]
Der französische Literaturkritiker und Übersetzer Charles Du Bos (1882-1939) aus dem Umkreis der Zeitschrift "Nouvelle Revue Française", ein Bekannter von Rudolf Kassner, hatte sich seit 1923 für Rilkes Werk begeistert. In seinem Journal hielt er den Eindruck eines Besuchs fest.
Ernst Zinn begann in den 30er Jahren mit der Konzeption einer philologisch einwandfreien Werkausgabe und wurde damit zum "Begründer der Rilke-Philologie", wie Michael von Albrecht es in seinem Nachruf auf Ernst Zinn 1990 formuliert hat. Doch was war es, was Ernst Zinn an Rilke fasziniert und an ihn gebunden hat? Schließlich wählte er nicht die Germanistik zu seinem eigentlichen Beruf, sondern wurde 1936 mit einer Arbeit zum "Wortakzent in den lyrischen Versen des Horaz" promoviert. Horaz und Rilke - bei aller Vielfalt im Werk Ernst Zinns bilden sie doch so etwas wie die Brennpunkte seines Schaffens. Was ist es, was ausgerechnet diese beiden Dichter verbindet?
Heft 30 der Rilke-Blätter enthält Vorträge der Tagung der Rilke-Gesellschaft in Paris und des Rilke-Treffens in Wolfenbüttel. "'Vivre n'est qu'un écho' - Rilke à Paris 1920/1925" war das Thema der 35. Tagung der Internationalen Rilke-Gesellschaft (17.-21. September 2008), die in Zusammenarbeit mit der Université de la Sorbonne Nouvelle - Paris III veranstaltet wurde. [...] Das Rilke-Treffen in Wolfenbüttel (18.-25. September 2009) beschäftigte sich in Vorträgen und Arbeitsgruppen mit Rilkes "Neuen Gedichten". Einige der dort gehaltenen Referate wurden für diesen Band übernommen. Die Dokumentation enthält bislang unveröffentlichte Stücke aus dem Briefwechsel von und über Rilke.
Den folgenden Ausführungen geht es nicht primär um eine Exegese des Trauerspielbuches und auch nicht um die traurige Geschichte seiner Rezeption, die Klaus Garber und Uwe Steiner an anderer Stelle dargestellt haben. Sie zielen eher darauf ab, aus Benjamins Denken relevante und immer noch kaum abgegoltene Perspektiven für das Verstehen des Barock zu erarbeiten und insbesondere eine Alternative zur weitgehenden Verdrängung oder Einhegung der Religion in der literaturwisenschaftlichen Erforschung der frühen Neuzeit zu entwickeln. Denn Benjamins Überlegungen zur Kratürlichkeit, die sich immer wieder in verschiedenen Konstellationen des Trauerspielbuches finden, stellen das freilich problematisch gewordene Religiöse präzise in das Zentrum der barocken Spiegelstruktur.
Am "Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik", so Wolfgang Preisendanz, bilde sich bei Heine eine Kunstprosa aus, die Einspruch gegen Hegel erhebt und das Fortleben nicht mehr schöner Kunst in Gestalt moderner oder realistischer Kunst verbürgt. Ob Heine seiner Hegel-Bewunderung zum Trotz als Kronzeuge neuer, moderner Kunst gelten darf, sei dahingestellt. Eine Entscheidung darüber hinge nicht zuletzt von dem an ihn angelegten Modernebegriff ab. Der geläufige - mit Heine als Übergang - zeugt jedenfalls 'contre coeur' vom Rechtfertigungszwang, den Hegels Diktum zumindest auf Literarhistoriker immer noch ausübt. Doch nur bedingt kann Heine ihren Absichten dienlich sein. Dass er selbst, trotz gelegentlich ausgedrückter Hoffnungen, denen zufolge "die neue Zeit […] auch eine neue Kunst gebären […], sogar eine neue Technik" hervorbringen würde, doch eher pessimistisch in die Zukunft des "greisen Europa" sah und die Frage zu bejahen geneigt war, die er am Ende des Berichts über die Gemäldeausstellung von sich wies: "Oder hat es überhaupt mit der Kunst und mit der Welt selbst ein trübseliges Ende?", soll im Folgenden als ein Aspekt seiner Formel vom Ende der Kunstperiode erhellt werden.
Rezension zu Monica Klaus: Johanna Kinkel, Romantik und Revolution. (Europäische Komponistinnen, Bd. 7.) Köln / Weimar / Wien: Böhlau, 2008. Liebe treue Johanna! Liebster Gottit! Der Briefwechsel zwischen Gottfried und Johanna Kinkel 1840‑1858. Bearbeitet von Monica Klaus. 3 Bände. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, Bde. 67, 68 und 69.) Bonn: Stadt Bonn, 2008.
Rezension zu Christoph Suin de Boutemard (Hg.): Band 1: Heinrich Albert Oppermann. Zivilgesellschaftliches Handeln in historischer und aktueller Perspektive. St. Ingbert: Röhrig, 2007. Band 2: "Von Deutschen überhaupt". Mentalitätswandel zwischen aufklärerischem Kosmopolitismus und Nationalismus. St. Ingbert: Röhrig, 2009.
Dass der den industriellen Fortschritt und ganz besonders das noch in den Kinderschuhen stehende Eisenbahnwesen emphatisch begrüßende Börne im Rahmen des Jahrbuchs 2008 kaum Erwähnung gefunden hat, dürfte nicht zuletzt auf das totale Ignorieren seines Namens in Wolfgang Schivelbuschs "Geschichte der Eisenbahnreise" zurückzuführen sein, des Referenzwerks verschiedener Beiträger dieses Jahrbuchs. Diese Lücke wenigstens ansatzweise auszufüllen, gilt der folgende Versuch.
Außer der historischen Rechtsschule spielen die Rechtsüberlegungen des politischen Liberalismus im Vormärz eine bedeutende Rolle. Dessen wichtigstes Publikationsorgan ist das Rotteck-Welckersche "Staatslexikon", das Eva Maria Werner vorstellt. Die Entstehungsgeschichte, die Konzeption, die Autoren, die dort verhandelten Themen, aber auch die Wirkung und Bedeutung dieses 'Glaubensbekenntnisses' des Liberalismus werden dargestellt. Liberale Rechtsvorstellungen werden im "Staatslexikon" sowohl in übergeordneten wie auch in speziellen Beiträgen thematisiert. So werden rechtstheoretische und -philosophische Themen im Aufsatz "Gerechtigkeit und Recht und Unterschiede des Rechts von der Moral" oder im Artikel "Naturrecht, Vernunftrecht, Rechtsphilosophie und positives Recht" aufgegriffen, während konkrete rechtspraktische Themen etwa im Artikel "Proceß" verhandelt werden.
Christoph Schmitt-Maaß beschreibt, dass vor dem Hintergrund der Ideen der historischen Rechtsschule und der Studien der Brüder Grimm eine spezifische Poetologie im Gefüge von Rechtsgeschichte, Sprachwissenschaft und Nationalliteratur entsteht, die für die Herausbildung der 'Kulturnation' eine wichtige Bedeutung zukomme. Die Durchdringung von Rechts-, Wissenschafts- und Dichtersprache erweise sich an einem Kulminationspunkt der deutschen Geschichte als bewusstseinsstiftend, insofern sich noch viele Vormärzschriftsteller im Kontext von Recht, Sprache und Poesie auf von Savigny bezögen und dessen Poetologie fortschrieben, auch wenn sie längst zur Chiffre geworden sei. Schmitt-Maaß illustriert diese Wirkungsgeschichte von Savignys und der Brüder Grimm am Beispiel von Heinrich Heine und Hoffmann von Fallersleben. Während Heine eine kritische Distanz zu den rechtshistorischen Positionen der historischen Rechtsschule einnehme, begreife Hoffmann von Fallersleben, dessen liberale Auffassungen eng mit der mittelalterlichen Literatur, etwa Walthers von der Vogelweide, in Verbindung gesetzt würden, die Aufgabe von Dichtung als Politik, die sich aus der Gemeinsamkeit von Recht und Poesie im 'germanischen' Altertum ergebe. Schmitt-Maaß weist nach, wie Literatur, Literaturgeschichtsschreibung und Jurisprudenz im Vormärz zusammentreten.
Jacob Grimm, der die Vorlesungen von Savignys in Marburg besucht hatte, führte dessen Ansatz fort, etwa im Beitrag "Von der Poesie im Rechte", auf den Kaspar Renner ausführlich eingeht. Renner analysiert sowohl die Argumentation wie auch die Bildlichkeit des Aufsatzes und beschreibt, weshalb die Sprache des germanischen Rechts für den jungen Philologen als poetisch gilt und warum dieser ein ursprünglich angenommenes Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Wörtern und den Dingen annimmt. Grimms Poesievorstellung lässt sich, Renner zufolge, aus seinem etymologischen Sprach- und Geschichtsbegriff erklären, welcher sich um die Figur des Ursprungs zentriert. Renner veranschaulicht, wie die Etymologie in Grimms Argumentation abgelöst wird von topischen Verfahren der Historiographie, welche die Geschichte konsequent in räumliche Konfigurationen überführen. Die Verwandtschaft von Recht und Poesie wird dann im gleichen Zuge metaphorisch ersetzt durch die Vorstellung ihrer 'Nachbarschaft'. Dabei greife Grimm auf grammatische und lexikographische Verfahren zurück, die in den "Deutschen Rechtsalterthümern" dokumentiert seien.
Peter Rippmann zeigt, wie Jeremias Gotthelf die irdische Jurisprudenz diskreditiert, um eine göttliche Gerechtigkeit zu inthronisieren. Gotthelf, der die zunehmende politische Radikalisierung des öffentlichen Lebens als verhängnisvoll für eine christlich definierte Gesellschaft verstand, nutzte die Kritik an den Rechtsinstanzen, die er in seinen literarischen Texten nicht selten in auktorialen Kommentaren deutlich formulierte, um eine alternative Gerechtigkeitsvorstellung zu empfehlen. Gotthelfs christliche Ansichten verbinden sich mit konservativen kriminalpolitischen Ansichten, die etwa in die Befürwortung der Todesstrafe münden. Über die Kritik strafrechtlicher Entscheidungen hinaus moniert er das Versagen juristischer Institutionen, etwa des Richterstandes, und die Mängel in der Rechtspraxis und stellt gar die Zuständigkeit weltlicher rechtlicher Instanzen in Frage, die nicht ihre Grundssätze im höchsten göttlichen Richter fänden. Nichtsdestotrotz verhandelt Gotthelf in seiner Rechtskritik auch konkrete Probleme, etwa im Bereich des Erbrechts und der Verdingkinder.
Barbara Tumfart beschäftigt sich mit den literarischen Verhandlungen des Raubmordes des polnischen Adligen Severin von Jaroszynski am Geistlichen Johann Conrad Blank in Wien. Die der Untersuchung zugrunde gelegten Texte von Adolph Bäuerle und Carl Haffner bieten allen voran eine sensationslüsterne Darstellung des Verbrechens und fokussieren auch das Privatleben der Wiener Schauspielerin Therese Krones, die mit Jaroszynski befreundet war. Die Schilderung eines Verbrechens entwickelt sich in diesen Texten zu einer skandalösen Geschichte aus dem Milieu des Theaters. Die in den Texten offensichtlichen Mythisierungsstrategien folgen den ästhetischen Prämissen der Unterhaltungsliteratur. Dass die Geschehnisse aufgegriffen werden, belegt andererseits auch, dass die Verkündigung des Urteils und die Hinrichtung Jaroszynskis durch Erhängen an der Spinnerin am Kreuz ein vielbeachtetes gesellschaftliches Ereignis war, das eben auch Eingang in die Unterhaltungsliteratur fand.
Betrachtet man die literarischen Beispiele von Strafprozessgeschichten im Vormärz, so wird ersichtlich, wie eng die vormärzliche Kriminalliteratur an die Pitaval-Tradition anschließt. Der Reiz der Pitaval-Sammlungen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts bestand ja auch darin, dass der Leser Einsicht in die Abläufe des ansonsten nicht öffentlichen Gerichtswesens erhielt. Dies änderte sich auch nicht, als beginnend mit dem kontrovers diskutierten Strafrechtsprozess um Peter Anton Fonk, der von 1816 an über Jahre Gesprächsthema der gesellschaftlichen Zirkel Berlins war und der vor einem öffentlichen Geschworenengericht stattfand, Gerichtsprozesse in einigen deutschen Staaten, zuerst auf linksrheinischen Gebieten, öffentlich debattiert wurden. Das hatte zur Folge, dass, wie Anna Busch nachweist, den Gerichtsverhandlungen Redakteure unterschiedlichster Zeitungen und Zeitschriften beiwohnten, die täglich mit wortwörtlichen Auszügen aus der Verhandlung über den Fortgang des Prozesses berichteten. Die Tagespresse sei voll von Fonk und von Mutmaßungen über seine Schuld oder Unschuld gewesen. Hitzig erwähnt in seinem Repertorium zu den "Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege" von 1837 mehr als 20 selbständige Veröffentlichungen zum Fall Fonk. Damit zeigt sich übrigens, dass Studien zum Thema 'Literatur und Recht im Vormärz' auch einen Beitrag zur Beschreibung der öffentlichen Meinung ab den 1820er Jahren leisten können: Die Schriften zu den Prozessen kommentierten nicht nur Gerichtsurteile, sondern sie versuchten, gezielt Einfluss auf Gerichtsprozesse im laufenden Verfahren zu nehmen, und sie bezogen nicht selten auf diese Art liberale und demokratische Positionen, die politisieren konnten. Die Diskussion von Rechtsfällen entwickelte sich entsprechend nicht selten zu Mahnungen vor Willkür, so dass Herrscher gelegentlich von ihrem Rechte Gebrauch machten, Urteile rückgängig zu machen - etwa als Friedrich Wilhelm III. im Fall Fonk das Urteil per Kabinettsordre kassierte, wobei der König sich auch selbst auf eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Eingaben bezog, die im Ministerium eingegangen waren. Unter solchen Gesichtspunkten ist die Funktionszuschreibung von Literatur im Vormärz zu betrachten, bei der selbst der Unterhaltungslektüre aus dem Kriminalgenre eine politisierende Kommentaraufgabe zukommen konnte. Auch sind die literarischen Verhandlungen von Recht, wie Anna Busch nachweist, im Rahmen einer neu entstehenden vormärzlichen Debattenkultur zu lesen.
Ein Aspekt im wechselseitigen Verhältnis von Literatur und Recht betrifft die Beschreibung erzählter Kriminalität. Besondere Aufmerksamkeit hat die ab 1842 erscheinende 'Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit' "Neuer Pitaval" gefunden, die in 60 Bänden von Willibald Alexis und Julius Eduard Hitzig herausgegeben worden war. Im Beitrag von Joachim Linder wird darauf eingegangen, wie die Fallbeispiele im "Neuen Pitaval" zu literarischen Verhandlungen anregen oder selbst zur beliebten Unterhaltungslektüre werden. Joachim Linder verdeutlicht die Bedeutung dieses Interesses für die Entstehung eines neuen Genres, die deutschsprachige Kriminalerzählung, und geht am Beispiel der Erzählung "Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten", die zuerst 1828 in Fortsetzungen im "Mitternachtblatt für gebildete Stände" erschienen war, auf gattungstypologische Überlegungen ein. Linder korreliert die Entstehung des Genres mit den Entwicklungen in der Strafjustiz, die in der Literatur genau verhandelt werden. Die Erzählung zeugt dabei von der intensiven Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Formen der Darstellung von Kriminalität und Strafverfolgung und reflektiert die öffentlichen Auseinandersetzungen über die Reform von Strafrecht und Strafverfahren.
Christine Haug streicht die juristische Problematik auf dem Buchmarkt des Nachmärzes heraus und beschreibt die fortschreitende Globalisierung der Buchmärkte, wobei der Ausbau der internationalen Kommunikations- und Verkehrssysteme wichtige Katalysatoren waren. Haug verdeutlicht am Beispiel des New Yorker Buchhändlers und Verlegers Ernst Steiger, der in Süddeutschland zu den Vertretern der sogenannten 'speculativen Richtung' des Buchhandels gehörte, zum einen das Urheberrechtsverständnis auf dem deutschsprachigen Buchmarkt und zum anderen die Irritationen, die sich auf Verleger-, vor allem aber auf Schriftstellerseite (Berthold Auerbach, Paul Lindau, Friedrich Spielhagen) in der Konfrontation mit dem amerikanischen Copyright einstellten, als im Zuge der Auswanderungen in die USA die deutschsprachige Literatur sich auf dem amerikanischen Buchmarkt zu etablieren suchte. Das divergierende Rechtsverständnis ist, so wird deutlich, zugleich eng gekoppelt an ästhetische, produktionstechnische und ökonomische Vorstellungen zur Literatur und zum Literaturmarkt, die im Hinblick auf Vormärz-Verlage wie Otto Wigand oder Heinrich Hoff aufschlussreich sind.
Wilfried Sauter beschäftigt sich mit der Frage des staatlichen Strafsystems im Vormärz und ordnet diese Diskussion in den Kontext von Gesellschaftsvorstellungen des politischen Liberalismus ein. Er führt am Beispiel der Lebensgeschichte demokratischer Revolutionäre wie Otto von Corvin, August Röckel, Otto Leonhard Heubner, Julius Füeßlin, Theodor Mögling, Gottfried Kinkel, Georg Friedrich Schlatter und August Peters, die wegen ihrer Teilnahme an den revolutionären Bewegungen des Jahres 1849 zu Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, vor, wie diese mit den Bedingungen ihrer langjährigen Haft umgingen und in Veröffentlichungen darstellten. Die Umstände des Strafvollzugs, wozu insbesondere die Schreibbedingungen gehörten, und die Reformbemühungen, etwa zur Einzelhaft, sind konsequenterweise Thema jener bereits im Gefängnis entstandenen oder viele Jahre später erschienenen Schriften, die sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen, von der Rechtfertigung über den Dank an Freunde bis hin zur Rechtskritik.
Holger Steinberg und Sebastian Schmideler stellen zum Fall Woyzeck die Gutachten und die Urfassungen der beiden Todesurteile des Schöppenstuhls, die wichtigste juristische und medizinische Diskussionsgrundlage des gesamten Prozesses, vor. Die Todesurteile sowie die Gutachten, darunter jenes des Stadtphysikus' Johann Christian August Clarus, werden medizin- und insbesondere psychiatriehistorisch eingeordnet. Bemerkenswert ist das Sondervotum des Kronprätendenten Friedrich August von Sachsen, der Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Woyzecks hegt und die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Zuchthausstrafe fordert. Schließlich wird das im Prozess entscheidende Dokument, das bis vor kurzem verschollen geglaubte, aber in einer Abschrift in der Universität Leipzig Gutachten der Medizinischen Fakultät diskutiert. Die beschriebenen Dokumente geben Einsicht in die Diskussion um das Verhältnis von Recht, Publizistik/Literatur und Gesellschaft in den 1820er Jahren - löste der Fall Woyzeck doch eine von der medizinischen, juristischen und politischen Fachöffentlichkeit heftig geführte gesellschaftliche Debatte aus, zu deren Rekonstruktion die im Beitrag stattfindende Darstellung der Archivmaterialien beiträgt.
Gutachterlichkeit
(2010)
Michael Niehaus bezeichnet mit dem Begriff der Gutachterlichkeit die Sprechweise, in der sich die Subjektposition des Gutachters niederschlägt. Er skizziert und diskutiert den kriminalpsychologischen Diskurs über die Zurechnungsfähigkeit des Täters, insbesondere auch den Ansatz von Johann Christian August Heinroth. Die Logik der Textsorte Gutachten im Vormärz betrachtend, stellt Niehaus Ähnlichkeiten zur literarischen Fallgeschichte fest. Dies wird am Beispiel der Darstellung einer Giftmischerin in der "Geheimräthin Ursinus" aus dem "Neuen Pitaval" und am Fall Woyzeck vorgeführt. Es zeigt sich, dass die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Täters das Literatur- mit dem Rechtssystems verbindet, insofern Gutachten dazu tendieren, den Delinquenten nicht nur hinsichtlich seiner Zurechnungsfähigkeit im Augenblicke der Tat zu beurteilen, sondern auch hinsichtlich seiner Verantwortlichkeit für seine Lebensführung, die zu der Tat geführt hat. Die Gutachten werden dann geradezu literarisch, während die Literatur gutachterlich wird.
Schwerpunktthema des vorliegenden Jahrbuches des FVF ist das Verhältnis von Literatur und Recht im Vormärz, ein seit den Anfängen der Vormärzforschung zentraler und kontinuierlich bearbeiteter Problemaufriss mit hoher Relevanz für das Verständnis der Literatur nach den Karlsbader Beschlüssen vom 20. September 1819. Die hier versammelten Beiträge stehen daher einerseits in der Kontinuität bisheriger Beschreibungsmodelle vormärzlicher Literatur. Sie beschreiten andererseits neue Wege, insofern sie das traditionell auf die Zensur fokussierte Interesse am Verhältnis von Literatur und Recht erweitern. Sie knüpfen zudem an die vielfältigen Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Recht und Literatur im Allgemeinen an, die in den letzten Jahren unter dem anregenden Impuls der "Law-and-Literature"-Bewegung in den Literatur- und Geisteswissenschaften ein besonderes Interesse hervorgerufen haben. Es ist folgerichtig, dass das FVF auch diese Ansätze aufgreift, abwägt und für seinen Gegenstand fruchtbar macht.
Schwerpunktthema des vorliegenden Jahrbuches des FVF ist das Verhältnis von Literatur und Recht im Vormärz, ein seit den Anfängen der Vormärzforschung zentraler und kontinuierlich bearbeiteter Problemaufriss mit hoher Relevanz für das Verständnis der Literatur nach den Karlsbader Beschlüssen vom 20. September 1819. Die hier versammelten Beiträge stehen daher einerseits in der Kontinuität bisheriger Beschreibungsmodelle vormärzlicher Literatur. Sie beschreiten andererseits neue Wege, insofern sie das traditionell auf die Zensur fokussierte Interesse am Verhältnis von Literatur und Recht erweitern. Sie knüpfen zudem an die vielfältigen Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Recht und Literatur im Allgemeinen an, die in den letzten Jahren unter dem anregenden Impuls der "Law-and-Literature"-Bewegung in den Literatur- und Geisteswissenschaften ein besonderes Interesse hervorgerufen haben. Es ist folgerichtig, dass das FVF auch diese Ansätze aufgreift, abwägt und für seinen Gegenstand fruchtbar macht.
An Lessing und Lenz lässt sich zeigen, dass die Modernisierungsbewegung kontingenter verläuft, als es die soziologische Theorie glauben möchte, und dass sie den überlieferten Formen der Heiratsregeln mehr verdankt, als auf den ersten Blick vielleicht sichtbar wird. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag nicht nur die Familienbilder in den Dramen Lessings und Lenz' auf dem Übergang in die Moderne zur Darstellung bringen. Der vergleichende Blick auf das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama will zugleich den Blick für den mythischen Kern schärfen, der im Familiendrama verhandelt wird. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf den Ort der Familie im antiken Drama zu werfen, um darauf aufbauend anhand von Claude Lévi-Strauss' Untersuchung über "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft" den Kernbereich der Familienbildung, die Heiratsregeln, zu erhellen, bevor auf dieser Grundlage Lessings "Emilia Galotti" und Lenz' "Der Hofmeister" in den Blick rücken.
In Musils essayistischem Erzählstil hat die Erzählinstanz - mehr noch als direkte oder indirekte Figurenrede und Bewusstseinsdarstellung in Form von innerem Monolog oder erlebter Rede - tragenden Anteil an der erzählerischen Figurencharakterisierung. Wie Gunther Martens in seiner narratologisch ausgerichteten Analyse des "Mann ohne Eigenschaften unlängst gezeigt hat", existieren "bei Musil sehr viele erklärende Hinweise auf das Ungewusste und das Unbewusste der Figuren, wobei es sich eher um ein soziales als um ein psychologisches Unbewusstes handelt." Die im Folgenden unternommene Sozioanalyse der in ihrer Relevanz für den gesamten romanesken Handlungsaufbau bisher meist unterschätzten Figur des Generals Stumm von Bordwehr kann über weite Strecken direkt auf die Bemerkungen der Erzählinstanz zurückgreifen und die erhaltenen Informationen durch eine angemessene Berücksichtigung indirekter Charakterisierungsformen sinnvoll ergänzen, denn "Musil charakterisiert seine Nebenfiguren vor allem über ihre unfreiwilligen Tics, Reflexe und Gewohnheiten." [...] Aus den Überlegungen sollte insgesamt Folgendes ersichtlich werden: Die umsichtige literarische Gestaltung eines "zivilen Habitus" sowie das damit einhergehende tölpelhafte Auftreten des "unmilitärischen" Generals, der als Vertreter der "Pastoralmacht" im Romankontext eine figurale Verkörperung des "strukturellen Herrschaftsmodus" der Moderne darstellt, ermöglichen Stumm von Bordwehrs Funktion als "tätiges Werkzeug" des kakanischen Militarismus bzw. als Vertreter der "auf den Krieg hinarbeitenden gesellschaftlichen Kräfte". Mit dieser subtilen literarischen Habitusformung gelingt Musil nicht nur eine erzählerisch überzeugende Motivierung des geplanten romanesken Handlungsverlaufs, sondern zudem eine bestechende Analyse entscheidender sozialer Entwicklungstendenzen des 20. Jahrhunderts.
Die Analyse erzählender Literatur gehört nicht zu den Standards der empirischen Sozialforschung. Eine positivistische Auffassung von "Realität" spricht solchen Texten nämlich soziologischen Erkenntnisgewinn ab. Hier wird aber argumentiert, dass Schriftsteller in der Regel die bestmöglichen Experten für die Vertextlichung von schwer fassbaren Emotionen sind. Ihre Kunstfertigkeit entspricht auch dem Erkenntnisziel der soziologischen Habitusforschung. Darüber hinaus erzeugt erzählende Literatur in der Regel "Stimmungen" oder "Atmosphären". Diese lösen bei den Protagonisten der Geschichten Emotionen aus und besitzen dadurch Handlungsrelevanz. Ein Stimmungskonzept ist in der Soziologie jedoch weitgehend unbekannt. Habitusansätze beschreiben bloß Dispositionen und Haltungen. Sie eignen sich deshalb nicht zur mikrosoziologischen Analyse von Interaktionssituationen, wie etwa von abweichendem Verhalten. Ein bestimmter Habitus macht zwar plausibel, dass etwa mangelnde Selbstkontrolle zu Devianz führt, erklärt jedoch nicht, in welchen Situationen diese auftritt. Hier könnte das Stimmungskonzept als Ergänzung zum Habitusansatz Verwendung finden. Das empirische Untersuchungsmaterial dieser Arbeit stellen die "Lausbubengeschichten" von Ludwig Thoma dar. Diese thematisieren nämlich hauptsächlich abweichendes Verhalten in Form von Autoritätskonflikten und Jugenddevianz auf satirische Art. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, zu untersuchen, wie der Schriftsteller durch Habituskomponenten und Stimmungsbilder eine plausible Darstellung von abweichendem Verhalten erzeugt, die auch erkenntnistheoretische Relevanz für die Soziologie besitzt.
Aus historischen Analysen geht hervor, dass das Offizierskorps der österreichischen Armee nach der März-Revolution 1848 gesellschaftlich abgekapselt und isoliert war und dabei einen militärisch-aristokratischen Habitus entwickelte, der zu dem bürgerlichen in scharfem Gegensatz stand. Der Korpsgeist orientierte sich am Adel, obwohl gerade der Hochadel sich eher mit den Großbürgern zu arrangieren begann und Heiraten zwischen dem niedrigeren Militäradel und Angehörigen des Hochadels kaum vorkamen. Die Masse der Offiziere wurde bürgerlich und bitterarm, auch zu arm, um heiraten zu können; aber feudale Denkungsart gab den Ton an, ausgenommen in den technischen Waffengattungen der Artillerie und des Pionierwesens, in denen bürgerlicher Wissensdurst vorherrschte. Es entsteht ein in mancher Hinsicht recht paradoxes Bild vom österreichischen Offiziershabitus: das eines Mannes der "Praxis", der eher "grob" ist, für den Exerzieren und Reglement, somit "Disziplin" im engsten Sinne, am wichtigsten sind, der aber trotz aller Tapferkeit auf dem Schlachtfeld zu strategischer Entschlossenheit und schnellem Entscheiden nicht in der Lage ist. Warum das so ist, ist nicht ohne weiteres zu klären. Neben sogenannten "Ego-Dokumenten" ist es vor allem belletristische Literatur, von der man sich einigen Aufschluss erhofft. Insbesondere kann die Literatur helfen, jene Gefühle darstellbar zu machen, die zur Disposition männlicher Todesbereitschaft auch schon im Frieden beitragen, wobei dem Paradoxon des Nebeneinanders von tollkühner "Schneid" und Entscheidungsschwäche wie Passivität im habsburgischen Habitus nachgespürt werden soll.
Der Traum von der Kreativität, den Goethe seinen Werther träumen lässt, beginnt mit der Fixierung auf einen Einzelnen und Ausgezeichneten: "ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer" schreibt Goethes Protagonist am 13. Mai 1771. Werthers anfängliche Orientierung an Homer spiegelt in Goethes Text nicht nur die Vorstellungen einer neuen Dichtergeneration, die Kreativität als Leistung eines einzelnen schöpferischen Individuums bestimmt. Die phantasmatische Form seiner Selbstgründung ist zugleich Ausdruck für eine Grundfigur der deutschen Geistesgeschichte. Sie wird zum Zeichen für eine Neugeburt des ästhetischen wie des politischen Subjekts, dessen Bedeutung neben der Philosophie vor allem die Literatur zu verbürgen scheint.
Christian Lehnerts Libretto zu Hans Werner Henzes Oper "Phaedra" endet im Bild eines Vogels, der sich am Widerstand des Todes wie an einem Aufwind emporschraubt, kreisend und singend "wilder als alles Vergängliche". Er ist Symbol der Kunst, die ungebrochen und unbrechbar die Kraft hat, Versöhnungsbilder des Menschen mit sich und seiner Welt hervorzubringen. Etwa 20 Jahre zuvor läuft Christoph Ransmayrs 1988 erschienener Roman "Die letzte Welt" in die Vision einer aufblühenden Welt aus, und zwei entsetzlich erniedrigte junge Frauen sowie ihr blutdurstiger Verfolger schwingen sich - im Augenblick der zum Mord geschwungenen Axt verwandelt in Nachtigall, Schwalbe und Wiedehopf - als Vögel in einen "nachtblauen Himmel" (S. 284). Ransmayr zitiert in diesem Aufschwung eine Episode aus den "Metamorphosen" des römischen Klassikers der Augusteischen Zeit, Ovid. Damit stellt er sich in eine große Tradition, denn diese Dichtung diente dem Mittelalter als Kompendium des mythologischen und historischen Wissens der Antike, und auch später bediente sich die europäische Weltliteratur immer wieder aus diesem Fundus, der die Masse und Vielfalt der griechischen und römischen Mythen und anderes Erzählgut verschiedener Herkunft und literarischer Ausprägung spätzeitlich zusammenfasste und organisierte.
Tiere stellen im Werk und Denken Elias Canettis eine ebenso zentrale wie komplexe Bezugsgröße dar, die nicht nur im Kontext der zeit- und menschheitsgeschichtlichen Diagnostik von "Masse und Macht" und im Zusammenhang mit dem für ihn zentralen Begriff der Verwandlung, sondern auch in seinen Aufzeichnungen eine entscheidende Rolle spielt. Canetti nimmt damit teil an einer für die Moderne kennzeichnenden Entwicklung, die dazu führt, dass die bis dahin vorherrschende anthropozentrische Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Tier aufgegeben wird. Schon im 19. Jahrhundert rückt das Tier - trotz Kants weitgehender Affirmation der cartesischen Bestimmung des Tiers als einer Sache - dem Menschen zunehmend näher, zum einen bedingt durch die fortschreitende naturwissenschaftliche Abwendung von den bis dahin gültigen Klassifikationen, zum andern veranlasst durch die Umwälzungen der Darwinschen Evolutionstheorie. Nicht zufällig lassen sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts dann vielfältige Versuche und Formen ausfindig machen, die die Transgression von Mensch und Tier zu gestalten suchen und die bis dahin geltenden, gleichermaßen klaren wie starren Grenzziehungen unterlaufen und in Frage stellen, eine Entwicklung, die sich im 20. Jahrhundert noch einmal verstärkt
Unter eine im November 1938 von Mies Blomsmarasch dahingeworfen Karikatur von Joseph Roth, die ihn als derangierten Trinker hinter einer Siphonflasche und zwei halbgefüllten Gläsern zeigt (siehe S. 289), schreibt dieser in seiner krakeligen Schrift: "Das bin ich wirklich; böse, besoffen, aber gescheit." Man könnte noch hinzufügen: allerdings auch ein Lügner. Vielfältige und variantenreiche Geschichten hat er über sein Leben erzählt und sich mit dem "romantischen" Menschen gleichgestellt, der "wie ein offener Garten [ist], in dem die Wahrheit nach Belieben ein und aus geht". Allein von "dreizehn verschiedenen Versionen über die Identität seines Vaters" weiß sein Biograph David Bronsen zu berichten. Auch bekräftigte Roth, Leutnant gewesen zu sein, gab sich jedoch nachher wieder als Einjährig-Freiwilliger aus; in den zwanziger Jahren gerierte er sich als Sozialist, unterzeichnete seine Beiträge für die Zeitschrift "Vorwärts" mit "Der rote Joseph". Ein Jahrzehnt später hingegen agierte er als Monarchist, der mit entschiedenem Nachdruck auf der Restitution des untergegangenen Habsburger Reichs beharrte. So schrieb er 1933 an Stefan Zweig: "Ich will die Monarchie wieder haben und ich will es sagen." In der Schwebe blieb sogar seine Konfession; mal gab er sich als Jude, mal als Katholik aus. Kaum verwunderlich ist es also, dass er mit seiner 'gespaltenen Zunge' seine Mitmenschen wieder und wieder verwirrte.
Paul Scheerbarts astrale Hermeneutik : Vorschlag zu einer Bestimmung des Begriffs "Neoromantik"
(2010)
Im Februar 1904 erscheint in der Zeitschrift "Kunst" eine Reihe von Zeichnungen Paul Scheerbarts unter dem Titel "Der magnetische Spiegel". Eingebettet in einen pseudodokumentarischen Rahmentext illustrieren Kopffüßler und andere groteske Kreaturen den Erfahrungsbericht eines optisch-physikalischen Versuchs. Mit Hilfe einer in Schottland entdeckten Bauanleitung konstruiert der namenlose Berichterstatter einen magnetischen Spiegel, der ihm den Blick auf eine neue Kunst ermöglicht:
Rein äußerlich betrachtet, sind die geheimnisvollen Spiegel ganz einfache, spiegelnde Metallplatten. Wird nun die nach der Vorschrift hergestellte Metallplatte zur Erdbebenzeit in die richtige Lage gebracht, so zeigt sich bei Beobachtung der Platte mit eigens präparierter Lupe ein Bild von besonderer Anziehungskraft. Und wer diese Bilder in den Hauptzügen richtig zu kopieren vermag, der hat die "neue Kunst" entdeckt.
Magnetismus und 'neue Kunst' verweisen auf eine romantische Poetik und deren Projekt einer wissenschaftlichen Erforschung des Paranormalen; ein solches Amalgam von Technologie und esoterischem Wissen zielt auf eine naturwissenschaftliche Metaphysik und die Sichtbarmachung des Unsichtbaren.
Fensterszenen in der Literatur haben bislang wenig Interesse geweckt, sie gehören gewissermaßen fraglos zum Inventar des Interieurs und seiner Darstellung. Literarische Fensterszenen sind ja auch bei weitem unscheinbarer als diejenigen, die sich, von der Kunstwissenschaft durchaus beachtet, als 'gerahmte Rahmung' in der Malerei einstellen. Um den Umriß meines Themas anzudeuten, wende ich mich zu Beginn einem der berühmtesten Texte des 20. Jahrhunderts zu; nämlich Franz Kafkas Erzählung "Das Urteil", die mit einer solchen Fensterszene ihren Anfang nimmt. Es heißt da:
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn in spielerischer Langsamkeit und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün. (KKA D,43)