830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Jedem von uns ist das schon begegnet: ich will ein Wort verwenden. Es fällt mir einfach nicht ein. Mein Hirn macht sich auf die Suche und legt erst einmal alles andere lahm. Meine ganze Aufmerksamkeit peilt dieses eine Wort an, das sich entzieht. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren. Ja, ich kann nicht einmal einschlafen, weil dieses unauffindbare Wort alle Funktionen, sogar vegetative, stört. Es hat sich mit dem ganzen Wortfeld eingekapselt, abgeschottet.
Wenn ich wenigstens ein Synonym finden könnte, irgendein Wort, das sinngemäß eine Richtung weist, ich könnte mich daran weiterhangeln, auch wenn mir der Boden unter den Wörtern abhanden gekommen ist. Grad noch das Wort davor ist verfügbar, ich klammere mich dran fest. Der Wortfluß, bisher moderat, schwemmt alles weg - und wo grad noch ein Meer von Wörtern war, nichts als eine wortlose Dürre. Nichts mehr da.
Mit den Worten: "Die Zeit ist auf der Flucht" charakterisiert Ernst Moritz Arndt 1807 den 'Geist der Zeit'. Er diagnostiziert damit zugleich ein Welt- und Lebensgefühl, das zur bestimmenden Signatur der Moderne werden sollte; neue, immer schnellere Verkehrsmittel, die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts und der Lebensrhythmus der modernen Metropolen führen zur Allgegenwart des 'Prinzips vitesse'. Wenn sich Marcel Proust in der Figur seines Erzählers am Ende eines geschwindigkeitsbesessenen (oder auch: geschwindigkeitsgeschädigten) Zeitalters auf die Suche nach der verlorenen Zeit macht, wirft dieser Schreib-Vorgang ein bezeichnendes Licht auf das Phänomen der Modernität. Müsste sich nicht auch die Kunst im Prozess der Geschwindigkeit auflösen und das Schicksal der Moderne teilen, mit der Zeit unmodern werden? Prousts Antwort ist hier nicht unser Thema; ihr Problemhorizont aber bestimmt das Verhältnis der Moderne zur flüchtenden Zeit.
Eine Notiz Hofmannsthals aus dem Jahr 1918 lautet:
Takt - den wunderbarsten Takt hat die Natur in ihrer unaufhörlichen Chiffernsprache, den Tieren. Die wundervolle Uebereinstimmung bei einem Reh zwischen der Intellektualität, der horchenden neugierigen Weise, der bestimmten Geschlechtlichkeit, der Aufmerksamkeit auf alles - der Abstand vom Reh zum hinbrütenden Raubtier - die Singvögel, die unaufhörliche Sprache, dies sich Hergeben in der kleinen Geschäftigkeit, die Unsichtbarkeit des Geschlechtes.
1921 zeichnet er auf:
Tiere haben mit dem Menschen das Werk gemeinsam, aber die Rede und die Tat, diese beiden Magieen sind dem Menschen vorbehalten.
Diese beiden Bestimmungen, einmal der Eigenart der einzelnen Tier-Chiffern, einmal dem Verhältnis von Mensch und Tier geltend, sollen Orientierungshilfen bieten bei dem Versuch, die Besonderheit der Tierbilder innerhalb von Hofmannsthals poetischer Zeichensprache zu erfassen. Der Versuch ist nicht einfach.
Man täusche sich nicht über den Grundcharakter des "Buchs der Freunde". Wir lesen in ihm und glauben zunächst, locker aufeinanderfolgende Fragmente vor uns zu haben. Der Briefwechsel mit der an der Herausgabe beteiligten Katharina Kippenberg deutet darauf, daß Hofmannsthal ihr bei der Zusammenstellung die größte Freiheit gewährt hat. Dabei scheint eine offene, von Goethes "Maximen und Reflexionen" oder von Novalis' Fragmenten beeinflußte Gesinnung gewaltet zu haben. Die vier von Hofmannsthal bestimmten Unterabteilungen halten sich bewußt an sehr allgemeine Definitionen. Je länger man sich indes mit den einzelnen Texten einläßt, um so entschiedener muß man sich von der Vorstellung lösen, man habe es hier mit einer improvisierten Textsammlung zu tun. Die vielen aus größeren Zusammenhängen herausgebrochenen Zitate könnten auf Fragmentarität schließen lassen. In Wahrheit eignet ihnen eine Konsistenz, die sich von den in ihrer Ganzheit zitierten abgerundeten Aphorismen oder von Hofmannsthals originalen Formulierungen in nichts unterscheidet. Wer hier Unfertiges, Provisorisches, Zufälliges erwartet, wird sogleich eines Besseren belehrt. Viele dieser Texte sind in ihrer Form und in ihrem Inhalt einer Lebens- und Kunstlehre verpflichtet, die von großer Strenge und Entschiedenheit zeugt. Wo immer man einzelne Beispiele herausgreift, vernimmt man aus ihnen eine Richtlinie, die durch Abweisung und Festlegung eine deutliche Wertvorstellung einprägt, die sich von der Folie moderner Unsicherheit im Benehmen, Fühlen und Denken abhebt.
Ob man auch Vers an Verse flicht,
Der Reime Blüten rastlos bricht,
Nur Abglanz ist's und Wiederhall,
Ob man es singt, ob man es spricht:
Doch aller Gedichte Vollendung ist - -
O glaube mir, - - ein getanztes Gedicht.
Dieser aus sechs vierhebigen, rhythmisch leicht holpernden Versen bestehende Text ist einer der wenigen Versuche Hugo von Hofmannsthals in der ursprünglich arabischen, besonders aber von persischen Dichtern entfalteten Form des Ghasels, und er ist sogar eines von drei Ghaselen, die Hofmannsthal zu seinen Lebzeiten selbst veröffentlicht hat, wenn auch bloß in dem als Privatdruck erschienenen Ballprogramm "Ein Tanz durch Wien" vom 21. Februar 1891.
Die Rezeption eines Kunstwerks, sagt Schopenhauer, sei nur dann ganz befriedigend, wenn sie etwas hinterläßt, das wir, bei allem Nachdenken darüber, nicht bis zur Deutlichkeit eines Begriffs herabziehen können." Er fügt allerdings hinzu, dies sei vor allem bei solchen Kunstwerken der Fall, die den Vorzug hätten, "aus einem Guß" zu sein, "das lautere Werk der Begeisterung des Augenblicks, der Inspiration, der freien Regung des Genius […], ohne alle Einmischung der Absichtlichkeit und Reflexion", wie dies für die erste Skizze des Malers, für eine Melodie oder ein Gedicht gelte. Weniger gelte es hingegen für die Werke "von langsamer und überlegter Ausführung", an denen "die Reflexion, die Absicht und durchdachte Wahl bedeutenden Antheil" haben.
Verstand, Technik und Routine müssen hier die Lücken ausfüllen, welche die geniale Konception und Begeisterung gelassen hat, und allerlei nothwendiges Nebenwerk muß, als Cäment der eigentlich allein ächten Glanzpartien, diese durchziehen.
Der "Turm", der in drei verschiedenen Druckfassungen vorliegt, gehört offensichtlich in diese letztere Kategorie.
Nach Hofmannsthals Konzeption sind einzig die Künste (und im besonderen die nonverbalen) geeignet, das kostbare kulturelle Potential sinnlicher Erfahrung zu stiften oder zu bezeugen. Wahrnehmungen und Gefühle lassen sich im System der Begriffssprache weder festhalten noch kommunizieren, sie lassen sich auch nicht einfach, wie es noch die von protokollierenden 'Registrierapparaten' träumenden Naturalisten glaubten, beschreiben.
Hofmannsthal und Majakowskij. Hofmannsthal und Picasso. Hofmannsthal und Malewitsch. Hofmannsthal und Beuys. - Was Hofmannsthal seinem Chandosbrief nachgerufen hatte - "fernes Fremdes als nah verwandt spüren zu machen" (BW Andrian 161) -, kann als Leitsatz gelten für den vorliegenden Beitrag, der Hofmannsthal mit Namen in Verbindung bringt, von denen man bisher ziemlich genau wußte, wie wenig sie mit diesem Dichter zu tun haben.
"Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen." Wohl kein Leser hat es versäumt, den Widerspruch zu bemerken, daß der berühmte Satz einer Erfahrung gilt, die Lord Chandos macht oder erleidet, nicht aber den Sätzen, in denen er diese Erfahrung formuliert und mitteilt. Um die Paradoxie zu erklären, möchte ich vorschlagen, den Chandos-Brief als poetologisches Experiment zu lesen. Hofmannsthal zerstört - oder setzt für die Dauer eines Textes außer Kraft - , was man die Spielregel der kreativen Reproduktion nennen könnte. Seit der Goethezeit und das 19. Jahrhundert hindurch stellte sie eine unantastbare Einheit dar: als jene persönliche Instanz, die Welt vernimmt oder wahrnimmt und dem Vernommenen oder Wahrgenommenen wiederum Ausdruck gibt. Diese Instanz entfällt; nicht nur die Sprache, auch Lord Chandos selber zerfällt in Teile, in eine erlebende und in eine erzählende Person. Eine Anregung hierfür, das wäre mein zweiter Vorschlag, konnte Hofmannsthal den Schriften Ernst Machs entnehmen, zumal dem ebenso berühmt gewordenen Satz "Das Ich ist unrettbar". Was geschieht, wenn man diesen Satz auf die Autorschaft anwendet? Schließlich und drittens wäre zu bedenken, ob nicht die Erlebnisse eines Autors, dem sich der Ausdruck versagt, gleichwohl Manifestationen von Kreativität sein könnten. In diesem Sinne möchte ich besonders die "guten Augenblicke" (S. 50) des Lord Chandos erörtern. ...
"wo ist dem Tier sein End?" : das Politische, das Poetische und die Tiere in Hofmannsthals "Turm"
(2016)
In Hofmannsthals "Turm"-Projekt gibt es viele Tiere. Dies gilt für alle vier Fassungen. Nimmt man Begriffe wie Jagd, Reiten und Kreatur hinzu, dann lassen sich allein in der zweiten Fassung ungefähr 170 Tiererwähnungen nachweisen. Die mit Abstand größte Tierdichte findet sich dabei im ersten Auftritt des ersten Aktes, gefolgt vom zweiten Auftritt des zweiten Aktes. Offenbar sind die Tiere für die Entfaltung der Problemlage, wie sie in der ersten Hälfte des Dramas vorgenommen wird, wichtiger als für die Lösungen des Problems, die mit den verschiedenen Enden des Dramas angeboten werden. Bei der Entfaltung der Problemlage spielen die Tiere deshalb eine so zentrale Rolle, weil in ihnen zwei Themen aufeinander bezogen werden, die zum Kernbestand des "Turm"-Projekts gehören: die Frage des Politischen und die Frage des Poetischen. Um die damit gegebene trianguläre Beziehung von Politik, Metapher und Tier wird es im Folgenden gehen.
"Wir haben diesen Dichter geliebt" : Hugo von Hofmannsthal und Eduard Korrodi ; Briefe und Dokumente
(2017)
Der Schweizer Journalist, Essayist und Literaturkritiker Eduard Korrodi, geboren am 20. November 1885 in Zürich, ist heute, mehr als 60 Jahre nach seinem Tod am 4. September 1955, selbst in Literaten- oder Germanistenkreisen nahezu unbekannt. Seinen Zeitgenossen hingegen galt er als wegweisender Mentor und Anreger, als "schweizerischer Geisteswärter", als "das literarische Bundesgericht" der Schweiz und allmächtiger "Literaturpapst". Diese einzigartige Position eines "Entdeckers" und "Erweckers", "Richters" und "Vernichters" hat er in der Feuilletonredaktion der "Neuen Zürcher Zeitung" zwischen 1915 und 1950 über 35 Jahre hin behauptet - "geliebt, geehrt" und "angegriffen", immer aber "ernst genommen", so dass kaum ein Schweizer Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihn nicht in Tagebüchern oder Memoiren "erwähnt" oder "in gereizter Weise 'behandelt'".
Als jüngster Sohn des angesehenen Lehrers, Schulbuchautors und Lyrikers "für den Hausgebrauch" Johann Heinrich Korrodi (1834-1910) und der Marie Zurgilgen (1852-1950), die der Vater 1882 in dritter Ehe geheiratet hatte, besucht Korrodi die Schule in Zürich und ab Oktober 1898 das Kollegium "Maria Hilf" in Schwyz. Ab dem Wintersemester 1905/06 studiert er deutsche Philologie, Alt-Isländisch und Kunstgeschichte in seiner Heimatstadt und wird hier, nach einem Berliner Auslandssemester im Winter 1907/08 bei Erich Schmidt und Richard Moritz Meyer,10 im Januar 1910 mit der von Adolf Frey (1855-1920) betreuten Dissertation "Stilstudien zu C.F. Meyers Novellen" zum Dr. phil. promoviert.
Die Antike im doppelten Aspekt von Mythos und Geschichte war lebenslang einer der von Hofmannsthal bevorzugten Themenkreise. Sein Interesse daran reicht in die ersten Anfänge zurück und setzt sich bis ins Spätwerk fort. Schon ein flüchtiger Blick auf die lange Reihe der Titel zeigt die beeindruckende Dichte der Projekte: Auf den Alexander-Stoff, der bereits Ende der achtziger Jahre in den Vordergrund rückt, folgen 1891 eine im Umriß ganz vage gebliebene "mythische Komödie", die vielleicht den Titel "Athene" tragen sollte, im Jahr darauf das Hades- und Alkibiades-Thema sowie die Auseinandersetzung mit den "Bacchen" des Euripides, die zwischen 1904 und 1918 im "Pentheus"-Plan weiter vorangetrieben wird. Ein erstes 'fertiges' Stück ist der - kurz vor "Tor und Tod" - im März 1893 entstandene Einakter "Idylle", der auf schmalstem Raum eine antikisierende Szene "im Böcklinschen Stil" gestaltet. Im Sommer 1893 werden Entwürfe zum 1906 wieder aufgenommenen "Traum" notiert, der auf einer Erzählung des Plutarch in der Demetrius-Vita 27 beruht.
Seine Annäherung an die Antike, soweit sie an die attischen Tragiker anknüpft, fühlt sich dem eingestandenen Ziel verpflichtet, den "Anschluß an große Form" zu suchen und damit, vom lyrischen Drama weg, die wirkliche Bühne zu erobern. Dabei geht es ihm von Anbeginn darum, die antiken Stücke aus ihrer "maskenhaften Starrheit zu lösen", wie es anläßlich des "Alkestis"-Plans im Januar 1894 heißt; ein Gedanke, den auch Hermann Bahr 1923 im Rückblick seines Tagebuchs formuliert, wenn er daran erinnert, daß er und Hofmannsthal sich vor drei Jahrzehnten vor der "Gypsgriechelei der Heysezeit" zu retten versucht hätten, ganz im Einklang mit Max Reinhardt, der die Unlust, antike Dramen zu spielen, dem "gipsernen " Charakter der vorliegenden Übersetzungen und Bearbeitungen anzulasten pflegte.
Ad fontes! : Hugo von Hofmannsthal im Herbst und Winter 1913/1914 ; Daten, Fakten, Korrekturen
(2008)
"Ad fontes!" - daß sich dieses 1511 von Erasmus von Rotterdam programmatisch formulierte Motto auch heute noch in den Niederungen editorischer Kleinarbeit zu bewähren vermag, zeigt der Versuch, einmal exemplarisch den Ungereimtheiten und Widersprüchen auf den Grund zu gehen, die über Ereignisse und Korrespondenzen in Hofmannsthals Leben während der wenigen Monate zwischen August 1913 und Anfang Januar 1914 in Umlauf sind. Außer den unentbehrlichen Hauptquellen in Gestalt der Originalhandschriften geben 'Nebenquellen' wie Tagespresse oder Theater-Spielpläne nicht selten entscheidende Fingerzeige, die, zusammen mit einer kritischen Gesamtanalyse der vorgegebenen Inhalte, zur Lösung strittiger Fragen und Datierungen beitragen können.
'Schweigen und tanzen' : Hysterie und Sprachskepsis in Hofmannsthals Chandos-Brief und "Elektra"
(2011)
Hugo von Hofmannsthals Tragödie "Elektra" wurde bereits 1903 bei ihrer Uraufführung in Berlin von der zeitgenössischen Kritik als Inszenierung einer hysterischen Krankengeschichte aufgefasst. Die germanistische Forschung hat die Ansicht, dass Hofmannsthals Drama "klinisches Material in bürgerliches Bildungstheater" verwandle, immer wieder aufgegriffen und variiert. Als Vorlage für die Figur der Elektra gilt dabei gemeinhin die Hysterikerin Anna O. aus Joseph Breuers und Sigmund Freuds "Studien über Hysterie". Eine solche eindimensionale Interpretation ist jedoch aus verschiedenen Gründen - nicht nur im Hinblick auf Hofmannsthals Kenntnis der "Studien über Hysterie" zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Dramas - fragwürdig: Vernachlässigt wird dabei insbesondere die Bedeutung des Prozesses einer Umschrift von Fallgeschichten in Literatur, mithin die Transposition, welche die Versatzstücke aus dem medizinsch-psychoanalytischen Bereich erfahren, wenn sie in das poetische Gefüge eines literarischen Textes eingerückt beziehungsweise in den Zusammenhang eines Gesamtwerkes wie dasjenige Hofmannsthals und seiner ihm eingeschriebenen Poetologie gestellt werden.
Die Rede von der Unrettbarkeit des Ich, die sich bekanntlich bis in die Postmoderne zieht, wird im ausgehenden 19. Jahrhundert explizit und spätestens um die Jahrhundertwende topisch. Hugo von Hofmannsthal, so soll das vorliegende Buch zeigen, beteiligt sich an dieser Debatte mit einem außergewöhnlichen Beitrag: Er rekonstruiert in seinen literarischen Texten die sowohl psychologischen (nicht nur psychoanalytischen) als auch theologischen Wurzeln der genannten Gedankenfigur und macht sie auf diesem Wege zur Grundlage seines poetischen Schreibens und dessen immanenter Reflexion.
Multiple Magie : zur Verwandlung psychiatrischen Wissens in
Hofmannsthals "Andreas"-Fragmenten
(2005)
In diesem Aufsatz soll Hugo von Hofmannsthals "Andreas"-Projekt als Überlagerung eines psychiatrischen Diskurses durch einen magischen gelesen werden. Ich verfolge in den Fragmenten die Gedankenfigur der Persönlichkeitsspaltung, wie sie in der französischen und amerikanischen Psychiatrie des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts erarbeitet wurde, und versuche, deren Überschreibung durch Theoreme aus der natürlichen Magie bzw. deren Reformulierungen durch die Rosenkreuzer-Bewegung des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Diese Überlagerung, so meine These, ist als eine starke Aneignung der beiden Wissens-Formationen auf dem Boden der Klassischen Moderne zu verstehen: Beschrieben wird eine Transformation, der sowohl die Position eines eximierten Magiers/Psychotherapeuten wie auch die eines in sich geschlossenen metaphysischen bzw. therapeutischen Systems zum Opfer fallen.
Gegenstand des Aufsatzes ist Hugo von Hofmannsthals Komödie "Der Unbestechliche", 1923 in Wien aufgeführt, aber (vom ersten Akt einmal abgesehen) erst 1956 nach der Spielfassung publiziert; ein Stück, das ein (z. B. im "Märchen der 672. Nacht"; ED 1895) bisher lediglich latent mitgeführtes Thema zum ersten Mal manifest macht und in den Vordergrund stellt: die Inversion des Herr/Diener-Verhältnisses. Der eigentliche Herr im Unbestechlichen ist nicht Baron Jaromir, sondern sein (bzw. seiner Mutter) Diener Theodor. Diese Umkehrung der Machtpositionen wird nicht zuletzt deutlich an der Verwendung der im Stück häufig thematisierten neueren Medien wie Telegrafie, Telefon und vor allem - das wird im Zentrum dieses Aufsatzes stehen - Fotografie.
Das unaufhaltsame Vergehen verleiht der Gegenwart noch nicht erhöhten Glanz, vielmehr übersteigt es alles Sinnhaltige, wirkt lähmend und mündet in das Wortlose. Im Entstehungsjahr der Terzinen verzeichnet das Tagebuch am 26. November 1894: "Heute war […] Schnee, dann taute es und war Kot und ein Wind, wie im März. 'Mein Frühling', sagte ich vor mich hin und hatte fast bis zum Weinen das Bewusstsein der Vergänglichkeit des Lebens." Ohne Lebensgeschichtliches ungebührlich hineinzuziehen oder gar für die Dichtung selbst zu überfordern, verdient berücksichtigt zu werden, dass Hofmannsthal wenige Wochen vor Niederschrift dieser Terzinen menschliches Vergehen in überaus persönlicher und angreifender Nähe wahrnehmen musste, den Tod der hochverehrten Josephine von Wertheimstein; diese Erfahrung bestätigte sein beklommenes Ahnen, ließ ihn zutiefst erleiden, "wie viel unendliche Schönheit da für immer weggegangen […] Es war schon […] früher so grauenhaft, sie zu sehen; ihre edle, großartige Schönheit war in etwas Schattenhaftes, Verblichenes, Hilfloses verwandelt […]". Diese Erscheinung, schon zuvor "Symbol für unzählige Dinge", blickt auch aus den Terzinen hervor.
Obwohl Fragment geblieben, steht der "Andreas" im Zentrum von Hofmannsthals Schaffen. Um die Bedeutung und den fragmentarischen Status des "Andreas" zu erklären, ist ein Blick auf seine Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte unerläßlich.
Hofmannsthal arbeitete an seinem Romanprojekt "Andreas" zwischen 1907 und 1927. Circa 500 Manuskriptseiten umfaßt der "Andreas" im Nachlaß Hofmannsthals. Davon entfallen annähernd 100 Seiten auf den relativ geschlossenen Hauptentwurf von 1912/13, - er wurde postum, im Jahre 1930, unter dem Titel "Andreas oder die Vereinigten" erstmals veröffentlicht - der Rest verteilt sich auf insgesamt knapp 400 Entwürfe, Skizzen, Notizen und Exzerpte.
Den berühmten Text, um den es hier geht, schrieb Hugo von Hofmannsthal im Sommer 1902 und veröffentlichte ihn im selben Jahr in zwei Folgen in der Berliner Zeitschrift "Der Tag". Aus demselben Sommer sind viele persönliche Briefe Hofmannsthals erhalten, die dasselbe Thema der Sprach- und Schreibkrise behandeln. Hofmannsthal erlebte in dieser Zeit längere unproduktive Phasen, die mit einem Vertauensschwund in das Wort als künstlerisches Medium und Ausdruck von Realität zusammenhingen. Im OEuvre des Autors markiert der Brief eine Zäsur zwischen den Jugendwerken und denen des reiferen Alters, die zugleich auf einen Wechsel der Gattungen verweist. Hofmannsthal verkündet hier, so schreibt Gotthart Wunberg, "seine große Absage an die lyrische Produktion seiner frühen Jahre, an die Werke, die ihn berühmt gemacht haben." Es ist der Abschied von der Magie des lyrischen Worts und die Hinwendung zu einer Prosa, die er ebenfalls als als 'reine Form' zu binden erhofft. Das Prinzip der Form - wie immer wieder bemerkt worden ist, wurde dieser Essay über das Verstummen in einer meisterhaften Prosa artikuliert - überbrückt nicht nur den Abstand zwischen Lyrik und Prosa, sondern auch den zwischen den biographischen Briefen und dem literarischen Brief.
Das Gedicht 'Verse, auf eine Banknote geschrieben' unterscheidet sich in der Formensprache derart von der frühen Lyrik Hofmannsthals, dass sich beinahe der Eindruck eines absichtsvoll Schlechten herstellt. Es handelt sich um Gedankenlyrik, die kaum etwas von der subtilen Widerständigkeit und traumhaften Hermetik aufweist, die an der Lyrik des jungen Hofmannsthal bewundert worden ist. Andererseits ist der Gedankengang so scharfsinnig und verdichtet durchgeführt, dass der Text trotz der konventionellen Form den meisten Zeitgenossen vermutlich unzugänglich gewesen wäre. Das Raffinierte des Texts besteht in einer merkwürdigen Dialektik von Mimesis an den besprochenen Gegenstand und Selbstverleugnung in einer Poetik der Nichtidentität.
Der Schwierige von Hugo von Hofmannsthal reflektiert die Lage, die dem Niedergang der Habsburger Monarchie parallel verläuft. Gleichzeitig ironisiert das Lustspiel eine Gesellschaft, die von den Krisen der Moderne geprägt ist und infolge dieser deren bisher bestehende Form sich auflöst. In der vorliegenden Untersuchung wird das Argument stark gemacht, dass Der Schwierige in einer krisenhaften Phase auf alte gesellschaftliche Normen und Werte zu verweisen sucht und dass dieser Verweis eine nostalgische Haltung repräsentiert. "Der Schwierige" stellt im Sinne einer kulturellen Restaurierung eine Beschönigung althergebrachter Lebensformen dar, die der Ungewissheit des Jetzt gegenübergestellt wird.
Hofmannsthal 13/2005
(2005)
Hofmannsthal 12/2004
(2004)
Die Textüberlieferung von Hofmannsthals einzigem Romanversuch ist nach wie vor heikel, eine allseits befriedigende Lösung scheint vorerst nicht in Sicht. Dabei betrifft die Strittigkeit der Lesarten sowohl die aus dem Nachlaß edierte Handschrift in ihrer Binnenvarianz als auch die Abgrenzung der Handschrift nach außen. Während ersteres nur in einer Mikroanalyse der Handschrift und ihrer komplizierten Schichtungen möglich sein dürfte, sollen für letzteres im folgenden Beispiele - ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit gegeben werden, um die Diskussion über eine verbesserte Textdarstellung auf weitere Desiderata hinzuweisen. Es werden daher zwei Arten von Textergänzungen vorgestellt: Bei der ersten Art handelt es sich um handschriftlich überlieferte Notizen, die u.a. aufgrund namentlicher ("Mariquita") Nähe in den Umkreis des Romans gestellt werden könnten, ohne daß eine definitive Zuweisung möglich wäre. Vielmehr soll damit und der anderen hier gebotenen Art von Textergänzungen - zwei Zeitungsartikel, die Hofmannsthal selbst in das "Andreas"-Konvolut gelegt hat - das Bewußtsein für die Durchlässigkeit der Grenzen dieses Textes gestärkt werden, der sich als fluktuierende, nicht als völlig absehbare Größe im Werk Hofmannsthals bewegt
Hofmannsthal 9/2001
(2001)
Das Jahrbuch der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft tritt an die Stelle der Hofmannsthal-Blätter und der Hofmannsthal-Forschungen, die Quellen und Dokumente zu Hofmannsthals Leben und Werk vorgelegt und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem CEuvre gefördert haben. Es führt deren Konzeption weiter, soll aber zugleich den Gesprächsraum für alle jene Themen eröffnen, die sich mit dem Namen dieses Autors verbinden. Zur Diskussion steht also Hofmannsthals Schaffen und mit ihm die sogenannte klassische Moderne, ihre Herkunft und ihre Fortschreibung bis heute. Mit Hofmannsthal und seinem Werk sind Genese und Ausbildung der Moderne in besonderer Weise verknüpft. Seine Texte bilden den Ort eines Gesprächs der Kulturen. So sind methodisch Interdisziplinarität und komparatistisches Verfahren gleichermaßen vorgegeben.
In der Thematik der Beiträge präsentiert sich das breite Spektrum dessen, was Hofmannsthals Rolle in seiner Zeit ausmacht: Aufnahme der Tradition und Entwurf des Künftigen. Dieses Spektrum reicht von der Literatur in allen ihren Gattungen bis zur Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse genauso wie von bildender Kunst, Architektur, Musik und Film zu Geschichte und Sozialgeschichte, Technik und Technikgeschichte; es bezieht Fragen der Lebenswelt und Politik ebenso ein wie Probleme der Bewusstseins- und Religionsgeschichte, der Bildungs- und Wissenschaftshistorie. So steht nicht das Werk Hofmannsthals allein im Vordergrund, sondern die Literatur in ihren Beziehungen zu anderen Literaturen und den genannten angrenzenden oder weiter entfernten Bereichen.
Hofmannsthal 17/2009
(2009)
Hofmannsthal 18/2010
(2010)
Hofmannsthal 25/2017
(2017)
Hofmannsthal 1/1993
(1993)
Hofmannsthal 6/1998
(1998)
Hofmannsthal 5/1997
(1997)
Vorliegende Ausgabe der 'Mitteilungen der Hugo-von-Hofmannsthal-Geseellschaft' enthält u.a.:
Zum Tode von Ewald Rösch [Nachruf] / Lothar Pikulik und Günter Schnitzler
Hofmannsthals "Turm"-Dramen : Politik, Wissen und Kunst in der Zwischenkriegszeit ; Internationale Tagung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft, Universität Basel – 4. bis 6. September 2014 / Anna-Katharina Gisbertz
Vorliegende Ausgabe der 'Mitteilungen der Hugo-von-Hofmannsthal-Gesellschaft' enthält u.a.:
Hofmannsthals Komödie des Scheiterns : Internationale Tagung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft ; Akademie der Wissenschaften und Universität Heidelberg 21. bis 23. September 2017 [Bericht] / Anna-Katharina Gisbertz
Hofmannsthal 15/2007
(2007)
Hofmannsthal 22/2014
(2014)
Niemand kennt sich, insofern er nur er selbst und nicht auch zugleich ein anderer ist: Mit diesem Gedanken, den Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz "Über Lessing" (1797) formulierte und der von Hofmannsthal ins "Buch der Freunde" übernommen wurde, ist eine Grundformel angedeutet, die Selbsterkenntnis und Vielseitigkeit, Identität und Differenz aufeinander bezieht. Selbsterkenntnis nicht als Monolog oder System, sondern aus dem Gespräch der Stimmen, aus dem Widerspiel von Fragment und Kritik zu entwickeln, ist ein Anliegen, das die frühromantische Kunsttheorie mit Hofmannsthal verknüpft, der eben sein "Buch der Freunde" mit der Überlegung einleitet, daß der Mensch "die Welt [braucht], um gewahr zu werden, was in ihm liegt". Zugleich hat Hofmannsthal damit die Formel des Bildungsromans getroffen, an dessen Traditionen sein Roman "Andreas" anknüpft, ohne sich ihnen integrieren zu können oder zu wollen. Andreas tritt unter dem biblischen Motto, wonach es nicht gut sei, wenn der Mensch allein ist, die Reise zu sich selbst an, die auf den Umweg über die Dissoziation und die Distanz führt. Anders als der Held des klassischen Bildungsromans erfährt Andreas jedoch die eigene Identität nicht mehr als Resultat eines Prozesses der Differenzierungen, der am Ende in die Aufhebung aller Spaltungen mündet, sondern ihm bleibt das Auseinandergetretene, Gespaltene als Ingrediens seiner Identität eingeschrieben, die nicht vollkommen, sondern fragmentarisch ist. Von hier aus tritt die Frage nach dem Fragmentcharakter dieses Romans, gar nach den Gründen des Abbruchs, hinter die Einsicht von der fragmentarischen, die Differenz nicht löschen könnenden Identität von Andreas' Selbst zurück. Die Kenntnis der gesamten Textgenese des Andreas-Romans läßt überdies deutlich werden, wie sehr sich das poetologische Programm dieses Werkes der Reziprozität von Selbständigkeit und Vergleichung, von Originalität und Tradition, von Individualität und literarischem Vorbild verdankt, denn die Orientierung an den Romanen von Moritz, Goethe, Novalis und Stifter bietet einen Generalbaß, auf dem sich die durchaus eigengewichtige Melodie von Andreas' Reise erhebt.
Hofmannsthal 16/2008
(2008)
Hofmannsthal 23/2015
(2015)