830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Ist nicht ohnehin alles zu Kleist gesagt und erforscht? Aber seine ungeklärten Aufenthalte, seine merkwürdigen Krankheiten, die geheimnisvollen Andeutungen zu Reisen bleiben weiter ebenso rätselhaft wie seine möglicherweise latent vorhandene Homosexualität, seine ewig von Todessehnsucht begleitete Melancholie, sein konspiratives Mitwirken in der napoleonischen Zeit, seine gewaltige und gewaltsame Sprache. Es hat in der Kleist-Rezeption immer wieder zahlreiche Versuche gegeben, das Dunkel auszuleuchten. Seine heute weltberühmten Stücke und Essays bieten scheinbar jedem Geschmack, jeder Zeit, jeder sozialen Befindlichkeit Nahrung für Interpretation und Aneignung. Die Zutaten zu dem in ungefähr zehn Jahren und in konzentrierten Schüben gebildeten Werk eines jungen preußischen Adeligen sind indes dieselben geblieben.
[Der] wohl bekannteste[] Gedankenstrich der Weltliteratur […] findet sich gegen Ende des zweiten Abschnitts der Kleistschen Erzählung „Die Marquise von O….“, genauer: zwischen der adverbialen Bestimmung »hier«, die anzeigt, wo die Marquise, kaum dass sie dem Angriff der russischen Soldateska auf die Zitadelle bei M…. entronnen ist, »bewusstlos nieders[inkt]«, und der Fortsetzung des Satzes, der von der Fürsorge des die Operation leitenden Offiziers und seiner Bitte an die »bald darauf« erscheinenden Frauen des Hauses berichtet, für die Ohnmächtige »einen Arzt zu rufen«; diese werde sich, so die Überzeugung des Grafen F…., in Kürze »erholen«. Ausgestellt wird durch diesen Strich nicht etwa ein Gedanke – was seit der Erfindung des Zeichens im 17. und seiner Hochkonjunktur im 18. Jahrhundert ohnehin die Ausnahme ist –; der Strich entpuppt sich als der Platzhalter eines Kopulations- und Zeugungsaktes, der im Verlauf der Geschichte die natürlichsten Konsequenzen zeitigt. Der Erzähler erzählt, ohne zu erzählen; er zieht einen simplen Strich, der gleichzeitig zu lesen und nicht zu lesen ist, der den Schauplatz ebenso verstellt, wie er ihn entblößt, und der es in dieser Doppelrolle bewirkt, dass Wissen und Nicht-Wissen, Liebe und Gewalt (resp. Vergewaltigung) zu abgründigen, weil ununterscheidbaren Größen werden.
Die Berliner Abendblätter faszinieren und beschäftigen noch nach 200 Jahren Leser und Literaturforscher. Und immer noch weiß man nicht genau, was den unsteten Dramatiker, Erzähler und Dichter Kleist veranlasst hat, eine alltägliche Zeitung herauszugeben. Geldnot? Brotberuf als Basis fürs Dichterdasein? Anerkennung unter den Freunden, in der Familie? Volksbelehrung? Demokratischer Pioniergeist?
"Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden..." : Heinrich von Kleists "Poetik der Unschärfe"
(2011)
Seit Jahren steht in der Diskussion über Heinrich von Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ die Frage im Mittelpunkt, wie man mit dem latenten Rassismus umzugehen hat, der Kleists Novelle prägt. Warum beispielsweise gibt der Erzähler die komplexen historischen Ereignisse rund um den zwischen 1798 und 1807 andauernden Freiheitskampf der »schwarzen Sklaven« gegen ihre »weißen Kolonialherren« mit der tendenziösen Formel wider, seine Geschichte spiele zu jener Zeit, »als die Schwarzen die Weißen ermordeten«? Stellt diese Zusammenfassung die Historie nicht zuungunsten der »schwarzen« Freiheitskämpfer auf den Kopf? Verweigert „Die Verlobung“ der schwarzen Bevölkerung Haitis jene Rechte, welche die Aufklärung und Französische Revolution den »Weißen« zusichern? War Heinrich von Kleist ein Rassist?
Kleist erzählt in seiner 1808 erstmals erschienenen Novelle „Marquise von O….“ die Geschichte einer Frau, die unwissentlich vergewaltigt wird, per Zeitungsannonce den Kindsvater sucht und am Ende den Geständigen heiratet. Kleist legt in seiner Erzählung zahlreiche Fährten, eine davon führt zum christlichen Mythos der Heiligen Familie und somit zum Urbild der bürgerlichen Familienstruktur. Das zentrale Motiv der unerklärlichen Schwangerschaft rückt die Marquise in die Nähe der Gottesmutter Maria. Als sie die Hebamme fragt, ob denn »die Möglichkeit einer unwissentlichen Empfängnis sei«, erhält sie die Antwort, »dass dies, außer der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestoßen wäre«. Wenn Kleist seiner Novelle die Figurenkonstellation der Heiligen Familie zugrunde legt – wie sind dann die weiteren Rollen verteilt? Die Heilige Familie beschreibt zwei Figurendreiecke, ein göttliches und ein menschliches. Das göttliche Dreieck umfasst Gottesmutter, Gottvater und Gottessohn, das menschliche Dreieck Maria, Joseph und das Jesuskind. Letzteres hat somit zwei Väter: einen göttlichen, der es zeugt, und einen irdischen, der es legitimiert.
»Wo ist der Platz, den man jetzt in der Welt einzunehmen sich bestreben könnte, im Augenblick, wo alles seinen Platz in verwirrter Bewegung verwechselt.« Diese Zeilen schreibt Kleist im Juni 1807 aus der Kriegsgefangenschaft in Châlons-sur-Marne an seine Cousine Marie von Kleist. […] Seine Literatur wird gleichsam bestimmt von Figuren, deren Leben und Erleben keine Kontinuität kennt. Kleist stellt seine Figuren in einen Versuchsraum, er treibt sie in Zustände der innersten Gespanntheit und Zerspaltenheit, lässt sie gegen eine Welt anrennen, die sie nicht begreifen, stürzt sie in die Tiefe ihres Inneren, das ins Bodenlose führt, setzt sie einem ständigen Wechsel der Empfindung und der Wahrnehmung aus. […] In „Die Marquise von O….“ [markiert] [e]inzig ein Gedankenstrich […] die Geburt der Gegensätze, die im Folgenden an der Marquise zerren. In diesen Gedankenstrich legt Kleist die Zeugung des Kindes. Ob Vergewaltigung oder Liebesakt, in Ohnmacht oder bei klarem Verstand, ist hier nicht zu klären. Aber es ist ein Akt, der sich nicht im Bewusstsein der Marquise verankert und dessen Folgen doch alles verändern.
Michel Foucault zufolge ist die politische Moderne in spezifischer Weise von einer umfassenden Sorge um das physische Dasein des Menschen geprägt. Während sich das klassische Modell der pastoralen Regierungskunst durch das Recht des Souveräns über Leben und Tod von Untertanen definiert […], treibt »Biopolitik« im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ein neues Projekt voran: […] Medizin, Psychiatrie, Schule, Polizei sind die allgegenwärtigen Institutionen eines bevölkerungspolitischen Plans, der die Tatsache der biologischen Existenz adressiert und […] unter dem Vorzeichen von Normalisierung und Regulierung ins Zentrum des politischen Handelns rückt. […] Kleist ist persönlich in diese epochalen Umbrüche involviert. Mit der Anstellung im Preußischen Staatsdienst 1804/1805 unter dem Freiherrn von Stein lernt er die Reformen Hardenbergs aus nächster Nähe kennen und besucht an der Königsberger Universität Vorlesungen bei Christian Jacob Kraus, dem Theoretiker dieser verwaltungstechnischen Reorganisation. […] Diese Anfänge einer Politik des Lebens haben in Kleists literarischen Schriften noch wenig untersuchte Spuren hinterlassen. […] Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Kleist den vormodernen Machttyp der Souveränität keineswegs aus den Augen verliert. Paradigmatisch hierfür kann die 1808/1810 erschienene Erzählung Michael Kohlhaas gelten.
Ein Dorfrichter missbraucht seine Amtsautorität, nötigt eine junge Frau sexuell, indem er ihr droht, dafür zu sorgen, dass ihr Verlobter als Soldat in einem Kolonialkrieg verheizt wird, sollte sie ihm nicht zu Willen sein. Bei seiner […] Flucht vom Tatort zerschlägt er einen Krug. Dieser […] bezeichnet die mutmaßlich geraubte Unschuld der jungen Frau. Sex and Crime also – von Kleist indes als Komödie präsentiert. Angesichts der körperlichen Schändung […] erscheint diese Gattungsentscheidung gewagt; zumal Kleists Darstellung auf den ersten Blick keine allzu große Empathie für die geschädigte Seite dokumentiert. Wie so oft bleibt nämlich die Paraderolle dem Bösewicht vorbehalten: dem Dorfrichter Adam. Frau Marthe Rull hingegen, die Mutter des vergewaltigten Mädchens und Eigentümerin des zerbrochnen Krugs, gilt nicht gerade als Sympathieträgerin […]. Ihre insistierende Klage vor Gericht, in der sie den Krug mit aller Einlässlichkeit beschreibt, weist sie in den Augen der amerikanischen Kleistexpertin Ilse Graham als überaus »schlichte Person« aus, ja lässt sie gar zu einem Musterbeispiel »törichter Besessenheit« werden. Man kann solchen Furor gegenüber einer literarischen Figur befremdlich finden, Fakt ist allerdings, dass Frau Marthe auch für den heutigen Theaterzuschauer zunächst einmal eine Nervensäge ist. Ihre langatmige Beschreibung des Krugs bringt den sonst besonnenen Gerichtsrat Walter dazu, sie ein ums andere Mal mit Einwürfen wie »weiter, weiter« zu mehr Stringenz anzutreiben.
Since the late 1950's Paul Celan has been deeply interested in scientific questions in regard to history and society as well as in the terminology of scientific language. Therefore, since the publication of “Sprachgitter” up to “Schneepart”, many of his poems include terms out of texts that deal with topics as different as geology, biology, astronomy, nuclear physics, and medicine. This essay addresses the problem of this form of adaptation by a close reading of Celan's poem »In der Blasenkammer« (published in 1970). Celan's poems turn against any notion of ›communicative functionality‹ of language; especially the languages of the sciences are here a prominent challenge because of their claim to be semantically objective. So the mentioned adaptation is a serious problem indeed, because the turning of scientific terms into words of poetry does not imply that these terms are simply transferred from one determined semantic context into another. It is rather the question of semantics itself that is at stake. So it has to be stressed that Celan does neither intend to equip scientific terms with ›poetical connotations‹ nor does he turn them into simple metaphors nor poetic or metapoetic concepts. His poems rather deal with the dispensation of semantics and metaphoricity – the language of these poems is a language of abundance and privation at the same time.
"Sprachgitter" ist eines der Gedichte Paul Celans, das in der Philologie der letzten fünfzig Jahre am extensivsten diskutiert, kommentiert und interpretiert wurde. Dabei wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass das Wort 'Sprachgitter' (wie auch das Gedicht dieses Titels) für Celan eine wesentliche poetologische Dimension habe […]. Celan räumt […] ein, dass der Titel "zweifellos ambi-; ja polyvalent" sei und außerdem "etwas verdammt 'Poetisches'" habe […]. "Ich sage mir aber gleichzeitig, daß mir in 'Sprachgitter' auch das Existenzielle, die Schwierigkeit alles (Zueinander-)Sprechens und zugleich dessen Struktur mitspricht (vgl. 'Raumgitter'), damit ist das zunächst amphibisch anmutende wieder zurück gedrängt". Die Doppelbödigkeit dieses Satzes betont die Radikalisierung des Begriffs von Sprache, der mit dem Wort 'Sprachgitter' verbunden ist; so lässt sich der Satz zum einen in drei konsekutiven Elementen konstruieren, zum anderen aber kann "die Schwierigkeit alles (Zueinander-) Sprechens" als Umschreibung für "das Existenzielle" schlechthin gedeutet werden, womit dieses 'Existenzielle' nicht allein als sprachlich verfasstes charakterisiert, sondern zugleich wesentlich mit dem Problem der Begegnung, der Trennung und der Grenze zusammengedacht wäre. An dieser poetologischen Bemerkung wird zudem deutlich, dass sie nicht allein nach einer 'literarischen Form' – dem 'Gedicht' – fragt noch lediglich nach dem 'Einzelfall' eines Gedichts mit dem Titel "Sprachgitter", sondern sich – ausgehend vom Gedicht – auch der Frage nach der Sprache überhaupt zuwendet.
Die reale Unmöglichkeit, die Erfahrung des Sterbens erzählend mitzuteilen, führt uns zu einer […] Überlegung über den Sinn der paradoxen Logik des Erzählens in Perutz' Roman. Fiktionale Sterbegeschichten wie „Zwischen neun und neun“ teilen dem Leser in hypothetischer Weise eine Erfahrung mit, die in der modernen Gesellschaft mehr und mehr ausgeblendet wurde: Sterben und Tod. Kulturhistoriker wie Philippe Aries beobachten in unserer Kultur ein zunehmende Verdrängung und Tabuisierung des Todes[…]. Nun sind aber Tod und Sterben andererseits unabweisbare Tatsachen, die sich nicht gänzlich und auf Dauer ignorieren lassen. Die Literatur bietet in Form von Sterbegeschichten eine entlastete Möglichkeit an, sich mit einem gesellschaftlich abgedrängten Thema wie Sterben und Tod zu beschäftigen. Literarisch-fiktionale Sterbegeschichten befriedigen aber auch ein noch fundamentaleres Interesse, nämlich eine existentielle Neugier, die in unserem realen Leben grundsätzlich unerfüllbar bleibt: Diese Geschichten erzählen vom Sterben aus der Innensicht des Sterbenden. Das ist eine spezifische Möglichkeit der literarischen Fiktion. Sie vermittelt eine Erfahrung, die Leser während ihres eigenen Lebens nicht machen können. Der Preis, den die Literatur dafür zahlt, dass sie diese unmögliche Erfahrung zugänglich macht, ist deren eingeschränkte, lediglich spekulative Geltungskraft: Es handelt sich um hypothetische Sterbemomente, die nicht empirisch zu beglaubigen sind.
[E]in genauerer Blick auf 'Schindler's List' [kann] den skizzierten Tenor der deutschen Rezeption, es handele sich um einen ,,zutiefst unideologischen Film" […] von quasi-dokumentarischer Authentizität, nicht bestätigen […]. Weder ähnelt der Film in seiner Gestaltung einem dokumentarischen Darstellungsstil, noch ist er historisch getreu. Vielmehr versucht Spielberg das Dilemma einer künstlerischen Gestaltung des Holocaust zu lösen, indem er das historische Material […] zu schematisierten Formen von Erfahrung [bündelt], deren stereotype Prägnanz und kalkulierte Wirkungskraft zu einer gewissen Enthistorisierung des dargestellten Geschehens führen. [Dies] zielt auf eine kathartische Teilnahme am Schicksal der Protagonisten, auf identifikatorischen Jammer und anteilnehmenden Schauder […], eine besondere, ästhetische Form der Lust. […] Einige Kritiker des Films haben ihn deswegen als "seelische Schnell-Reinigung, als Instant-Absolution, als Gefühls-Quickie" kritisiert […], andere sahen darin gerade den "Geniestreich" Spielbergs, weil so "das von Schindler Vorgelebte und im Film Vorgeführte zum Vorbild wird". […]. Man kann diesen Konflikt […] als Ausdruck einer allgemeineren kulturellen Situation beschreiben: Der weltweite Erfolg der Authentizitätsfiktion von 'Schindler's List' wäre dann Folge einer distanzierteren kulturellen Haltung gegenüber dem Holocaust, die nicht den Authentizitätskriterien solcher Zuschauer genügt, die persönliche Erfahrungen mit dem Holocaust verbinden.
In der Literaturwissenschaft werden die Werke von Leo Perutz zumeist einzeln oder aber gemäß ihrer Zugehörigkeit zu literarischen Genres als historische, als phantastische, als Spannungs-, Kriminal- oder Detektivromane untersucht. Im folgenden geht es mir stattdessen um ein Erzählverfahren, das über solche – sicherlich nicht trennscharfen – Genregrenzen hinaus die meisten von Perutz' Romanen prägt, ohne doch bislang als typische Struktur des Gesamtwerks erkannt worden zu sein. Die Beschreibung dieses Erzählverfahrens mitsamt einiger seiner Implikationen und Funktionen soll dazu beitragen, die besondere Physiognomie des Autors Perutz zu bestimmen.
In der gegenwärtigen Literatur- und Filmtheorie findet man wenig Übereinstimmung darüber, wie solide ideologischen Bedeutungen von Kunstwerken zu bestimmen wären. Im Gegenteil, bereits die Annahme, Kunstwerke träfen bestimmte, fixierbare Aussagen, wird vielerorts grundsätzlich abgestritten. […] Ich werde diese Ansicht hier nicht diskutieren, sondern schlicht voraussetzen, daß zumindest einige Kunstwerke tatsächlich einen ideologischen Geltungsanspruch erheben. […] Michail M. Bachtins Theorie der Dialogizität [bietet] mit ihrem Leitbegriff der Polyphonie einen Ansatz, der im Laufe der letzten dreißig Jahre zwar ausgesprochen populär geworden ist, aber auch häufig mißverstanden wird. Ich möchte einige wichtige Aspekte des Polyphoniebegriffs rekonstruieren und seine Erklärungskraft an einem Fallbeispiel überprüfen. […] „Beruf Neonazi“ wurde von seinen verschiedenen Interpreten als Film mit pro-, aber auch mit antifaschistischer Tendenz verstanden. Mit Hilfe des Polyphoniebegriffs kann dieser Interpretationsstreit geklärt werden. Bonengels Dokumentarfilm ist polyphon, weil er widerstreitende Stimmen scheinbar unkommentiert zu Wort kommen läßt, aber insgesamt doch durch indirekte Formen der Mitteilung seine neonazistischen Protagonisten kritisiert.
Semiotisch-strukturalistische Untersuchungen zum histoire-Aspekt erzählender Texte reduzieren bekanntlich die diversen Erscheinungsformen von Geschichten auf sehr einfache Schemata. […] Bei aller Verschiedenheit ist diesen Ansätzen die Annahme gemein, jede Geschichte enthalte einen abstrakten Bedeutungskern, der als invariante Tiefenstruktur der Vielfalt der Erzählungen zugrunde liege. […] Im Vergleich […] wird Jolles’ Theorie dem Erzählen als kulturellem Phänomen besser gerecht, weil sie historische Kontexte und lebensweltliche Funktionen des Erzählens berücksichtigt […]. Die neun Grundformen, die Jolles unterscheidet (Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz), kombinieren extratextuelle und textuelle Eigenschaften. […] Der Systemcharakter der Einfachen Formen ist häufig und zu Recht kritisiert worden. Obwohl Jolles selbst vom »geschlossenen System unsrer Einfachen Formen« spricht, begründet er nirgendwo die unterstellte Vollständigkeit seiner Typologie. Unabhängig von diesem Problem lässt sich aber fragen, ob nicht zumindest einzelne Grundformen aus Jolles’ Typologie textanalytisch nützlich sein könnten. Das soll hier in einer kleinen komparatistisch-narratologischen Studie geprüft werden, die einen Bezug zwischen spanischem Barock und deutscher Romantik anhand von Pedro Calderón de la Barcas comedia „la devoción de la cruz“ (Die Andacht zum Kreuze,1622/23) und Zacharias Werners Schicksalsdrama „Der vierundzwanzigste Februar“ (1809/10) herstellt.
Both Percy and Herder establish popular poetry within the horizon of modern literature, accentuating its strangeness compared to learned poetry or "Kunstdichtung". But there is a decisive difference between Percy's and Herder's handling of this strangeness. Percy tries to bridge the gap by way of historico-philological explanation and reconstruction. In the „Reliques“, he not only chooses, corrects and groups his poems. He also adds four historical essays to his edition […] and provides numerous introductory remarks, footnotes, bibliographical references, and glossaries of archaic words and idioms. Contrary to Percy, Herder preserves and even enforces the strangeness of the texts. On the other hand, he also wants his reader to bridge the gap […] through the modern reader's empathic grasping of the supposed archaic face-to-face-communication between poet-singer and audience. In order to reach this goal, the reader must try to supplement the fragmentary text through the intuition of the authentic situation in which the text originally was communicated. Such a supplement seems possible because popular poetry deals with stock situations common to all people. […] In order to reach this goal, by the way, Herder simulates in the „Auszug aus einem Briefwechsel“ and in the introduction to the „Volkslieder“ the same attitude which he wants to convey to his readers. Both essays display the rhetoric of an emphatic, fragmentary and consensual dialogue between friends.
Über die Kanonisierung eines literarischen Werkes entscheidet […] die Nachwelt. Gelegentlich ist jedoch bereits die Produktion durch kanonischen Geltungsanspruch geprägt. Dantes „Commedia“ und Klopstocks „Messias“ sind besonders markante Beispiele […]. Ein Vergleich von Dante und Klopstock kann sich allerdings nicht auf einen direkten Rezeptionszusammenhang berufen. […] Es geht hier vielmehr um einen kontrastiven Vergleich zweier Werke, die im Selbstverständnis ihrer Autoren, im Erzählstoff, in der literarischen Gestaltung und auch in der unmittelbaren Aufnahme durch die Zeitgenossen bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aufweisen, deren spätere Rezeption aber diametral auseinanderläuft […] Wie haben diese Autoren ihren kanonischen Geltungsanspruch […] inszeniert? Warum wurde Dantes Werk auf Dauer im Kanon etabliert, Klopstocks hingegen nicht? Meine […] Antworten auf diese Fragen lassen sich vorweg in drei Thesen zusammenfassen: - Die selbstinszenierte Kanonisierung erfolgt bei Dante wie bei Klopstock im Rahmen einer religiös fundierten Poetik, in der das Konzept einer fiktionalen Literatur keinen Platz hat. - In beiden Fällen wird die religiöse Legitimationsstrategie jedoch durch den Einsatz fiktionaler Elemente zirkulär und damit theologisch prekär. - Das Gelingen bzw. Mißlingen einer dauerhaften Kanonisierung ist im unterschiedlichen Potential beider Werke begründet, unter den veränderten Bedingungen eines modernen, autonomen Literaturbegriffs rezipierbar zu bleiben.
Der Titel meines Beitrags mag die Befürchtung erzeugen, es gehe hier wieder einmal darum, ein essenzialistisches Verständnis der Nation als Fantom, Fiktion, Konstruktion oder ›imagined community‹ zu entlarven. […] In der Tat möchte ich den Fall einer geradezu emphatisch imaginierten Nation und Nationalliteratur erörtern. Nun gibt es zweifellos unabweisbare erkenntnistheoretische, kognitionspsychologische und neurobiologische Gründe dafür, unsere Erfahrung und Darstellung von Wirklichkeit insgesamt als Konstruktion zu verstehen. Literaturwissenschaftlern liegt es besonders nahe, Dinge wie Nationen und Nationalliteraturen als ›Fantome‹ zu betrachten – schließlich beschäftigen sie sich vor allem mit sprachlichen Imaginationen. Gerade die Universalität des Konstruktionscharakters lässt es aber ratsam erscheinen, Binnendifferenzierungen vorzunehmen, damit Begriffe wie ›Nation‹ und ›Nationalliteratur‹ informativ bleiben. […]Befriedigende Antworten […] werden durch einen pauschal verwendeten Konstruktivismus eher erschwert. Wenn es mir im Folgenden dennoch nicht um Realhistorisches, sondern um eine von Rudolf Borchardt imaginierte Tradition von Nation und Nationalliteratur geht, so geschieht das in der Annahme, dass für diese ›Nation‹ der Begriff des Imaginären in besonderem Maße gerechtfertigt ist. Selten ist ein Konzept von deutscher Nation und deutscher Nationalliteratur in so selbstbewusst idiosynkratischer Weise gegen die realen Gegebenheiten erdacht worden.
Die in der Mitte des 12. Jahrhunderts in Regensburg entstandene Kaiserchronik besteht aus einer Folge von Erzählungen über das Leben der Kaiser des "rîches" von Julius Caesar bis hin zu Konrad III. und damit bis zur Gegenwart des (oder der) Chronisten. Die umfangreichste Erzählung der Chronik handelt vom römischen Kaiser Faustinian und seiner Familie, welche auch den späteren römischen Bischof Clemens umfaßt. Als wichtigste Quelle dieser Faustinianerzählung gilt der "erste christliche Roman", die „Pseudoklementinen“ aus der Mitte des 3. Jahrhunderts. Die „Pseudoklementinen“ erzählen vom Apostel Petrus und seinem Schüler Clemens. In ihnen mischen sich Elemente des hellenistischen Abenteuerromans mit dem hagiographischen Erzähltyp der apokryphen Apostelakten. Es wird sich zeigen, daß der doppelte Ursprung der Vorlage auch die narrative Struktur des Faustinian prägt und dort verschiedene Typen der Handlungsmotivation ausbildet.
Mit fremdem Blick die eigene Kultur betrachten, um sie als Produkt spezifischer symbolischer Praktiken erkennen zu können - eine solch 'unnatürliche' Einstellung wurde in Deutschland bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren von Autoren wie Walter Benjamin, Ernst Robert Curtius und André Jolles, in der Kunstgeschichte von der Gruppe um Aby Warburg und in der Philosophie von Ernst Cassirer betrieben. Bei aller Verschiedenheit ist diesen Autoren – über die 'Unnatürlichkeit' ihrer Einstellung hinaus – gemeinsam, daß sie die Wirkung von Literatur und Kunst auf kultisch-mythische Ursprünge zurückführen (ohne sie damit zu identifizieren). Im Rahmen dieser Versuche nimmt der Germanist Clemens Lugowski (1904-1942) mit seinem im Jahre 1932 veröffentlichten Buch „Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung“ und anderen Arbeiten einen ebenso eigenständigen wie vernachlässigten Platz ein.