830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Wo es um Musiktheater geht – und Musiktheater ist die ursprünglichste Erscheinungsweise von Theater! –, da geht es immer auch um das unterschiedliche Gewicht der tragenden Elemente: Sprachkunst, Musik, Szene. Im Laufe der Kulturgeschichte hat sich dabei eine fundamentale Umorientierung ergeben, die von dem anfangs herrschenden Vorrang der Sprachkunst zu einem Vorrang der Musik führte. Das verdeutlicht auch August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen "Über dramatische Kunst und Literatur":
In der [griechischen] Tragödie war die Poesie die Hauptsache: alles übrige war nur dazu da, ihr, und zwar in der strengsten Unterordnung zu dienen. In der Oper hingegen ist die Poesie nur Nebensache, Mittel das übrige anzuknüpfen; sie wird unter ihrer Umgebung fast ertränkt, […] Auch schadet es nicht, daß die Oper in einer meist nicht verstandenen Sprache vorgetragen wird: der Text geht ja ohnehin in solcher Musik verloren, […].
Hofmannsthals "Gespräch über Gedichte", nur ein Jahr nach dem Chandos-Brief konzipiert und 1904 erstmals, mit dem Titel "Über Gedichte", veröffentlicht, leidet unter einer fatalen Anschuldigung. "Hofmannsthal sucht im Georgedialog das ästhetische Symbol als Opferritual zu fassen", erklärt Theodor W. Adorno in einem Essay von 1939. Er zitiert dann die berühmte Erzählung Gabriels vom ersten Opferer, mit ein paar Auslassungszeichen allerdings, und kommt zu dem Schluß: "Diese blutrünstige Theorie des Symbols, welche die finsteren politischen Möglichkeiten der Neuromantik einbegreift, spricht etwas von ihren eigentlichen Motiven aus. Angst zwingt den Dichter, die feindlichen Lebensmächte anzubeten: mit ihr rechtfertigt Hofmannsthal den symbolischen Vollzug. Im Namen der Schönheit weiht er sich der übermächtigen Dingwelt als Opfer." Blutrünstig und politisch finster, Angst und Selbstopfer - da öffnet sich ein ästhetischer und gleich auch politischer Abgrund. Denn umstandslos setzt dieser Begriffswirbel Symbol (also auch Poesie) und Blutopfer, den Dichter und den Opferer gleich.
Seit 1894 hatte sich Hugo von Hofmannsthal mit dem "Alkestis"-Stoff befasst, hauptsächlich angeregt durch die 438 v. Chr. entstandene Tragödie des Euripides. Teile seiner Neubearbeitung erschienen im Frühjahr 1895 und im Dezember 1898, ehe er die vollendete Dichtung 1909 im "Hesperus" veröffentlichte. Zwischenzeitlich (Ende März 1907) hatte ihm Rainer Maria Rilke seine Anfang Februar 1907 entstandene "Alkestis"-Ballade zusammen mit der "Rosenschale" zur Veröffentlichung angeboten. Am 2. April 1907 antwortete Hofmannsthal: "'Alkestis' fand ich etwas schwächer als die früheren ähnlichen Sachen, vielleicht nur beim ersten Lesen. Ich bin mir noch nicht ganz klar, was der Stoff in Ihrem Sinne herzugeben schien wodurch er Sie lockte." Am 13. September 1907 erschienen dann beide Rilke-Gedichte im Lyrikteil des "Morgen". Selbstverständlich fand das "Alkestis"-Thema Hofmannsthals besonderes Interesse wegen seiner eigenen vorausliegenden Arbeiten an der Neufassung der Euripides-Tragödie, und es ist nicht auszuschließen, dass die Veröffentlichung seiner Dichtung im "Hesperus" zweieinhalb Jahre später durch Rilkes Einsendung der Ballade angeregt worden ist.
Das Buch "Kohelet" des Alten Testaments, auch unter den Titeln "Der Prediger Salomo" oder "Ecclesiastes" überliefert, entstand wahrscheinlich im 3. Jahrhundert vor Christus. Vor allem die Eingangskapitel gehören zu den bekanntesten Texten der sogenannten biblischen Weisheitsbücher. Das kann allein schon die Tradition einiger 'Geflügelter Worte' durch die Jahrhunderte bezeugen wie etwa die folgenden Sätze oder Wendungen: "Es ist alles ganz eitel"; "Nimmersatt"; "Und geschiehet nichts Neues unter der Sonne"; "Ein jegliches hat seine Zeit"; "Sich gütlich tun"; "Viel Büchermachens ist kein Ende".
Spuren eines Einflusses auf das Werk Hofmannsthals scheinen sich etwa im Auftrittsmonolog des "Jedermann" zu finden, wenn er mit seinem stattlichen "Haus", seinem "Hausgesind" oder seinen "Meierhöf voll Vieh" prahlt; denn auch "Kohelet" rühmt sich der von ihm gebauten "Häuser", in denen sein "Gesinde, im Hause geboren" für ihn arbeitet, sowie seiner großen "Habe an Rindern und Schafen".
Diese Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten sind allerdings nur indirekt, weil die direkte Vorlage für Jedermanns Eingangsmonolog eine Dichtung des Hans Sachs ist. Die Textpassage findet sich nicht in Hofmannsthals Hauptquelle, dem "Everyman" aus dem 15. Jahrhundert. So gestaltete sie Hofmannsthal nach seiner zweiten "Jedermann"-Quelle, dem 1549 gedichteten Geistlichen Spiel "Ein comedi von dem reichen sterbenden menschen, der Hecastus genannt".
In einer Sonntagsnachmittagsvorstellung veranstaltete der "Verband der Freien Volksbühnen" im Februar 1915 eine "Jedermann"-Aufführung im Haus des »Deutschen Theaters« in Berlin. Die "Freie Volksbühne Berlin" war 1890 von der deutschen Arbeiterbewegung gegründet worden. Sie verstand sich als Besucherorganisation, die ihren Mitgliedern zu stark ermäßigten Preisen Theateraufführungen anbot. Der einflussreiche Theaterdirektor Otto Brahm (1856-1912) stand zunächst an der Spitze der Organisation, tatkräftig von dem streitbaren Bruno Wille (1860-1928) unterstützt, der hier eine Möglichkeit sah, seine Ideale einer in jeder Hinsicht freien Kunst zu verwirklichen und einem dezidiert als 'proletarisch' angesprochenen Publikum zu vermitteln. Brahm, früher Leiter des "Deutschen Theaters" in Berlin, wollte sein Programm vor allem mit Stücken profilieren, die von der Zensur verboten oder der Politik missliebig waren.
Hofmannsthal wurde auf das Motiv des Musikinstruments im "Jedermann" durch eine briefliche Mitteilung des Komponisten Clemens zu Franckenstein vom 12. April 1903 hingewiesen, der bei der Beschreibung einer Londoner Aufführung des "Everyman" besonders die musikalischen Elemente und Requisiten hervorhob: "Everyman" […] geht langsam, ein Serenadenartiges Lied singend und begleitet sich auf der Laute die er an einem Bande umgehängt trägt […] "Fellowship" […] tritt auf "Everyman" zu. "Everyman" reicht ihm beim Abschied seine Laute.
Die Idee, das Instrument zunächst in seiner Funktion als Begleitinstrument eines Liedes einzuführen und es zuletzt zum Zeichen für den endgültigen Abschied vom Freund zu setzen, dürfte Hofmannsthal dieser Bühnenbeschreibung Franckensteins entnommen haben. Die erotischen Konnotationen, die das Requisit im Prosa-Jedermann gewinnt, und vor allem die symbolische Zerschneidung seiner Saiten, als es am Ende dem Freund gegeben wird, hat Hofmannsthal neu eingebracht.
Eine erste Notiz zu dem geheimnisvollen, oft gedeuteten und viel umrätselten "Magie"-Gedicht des 21jährigen Hofmannsthal entstand in Göding, am 14. Juli 1895; vollendet wurde es Ende Oktober desselben Jahres. Es geht hier um den Aufweis einer Quelle oder Parallele zu einigen Motiven in den sieben Eingangsstrophen, die insgesamt genau die erste Hälfte des Gedichts ausmachen:
Ein Traum von großer Magie
Viel königlicher als ein Perlenband
Und kühn wie junges Meer im Morgenduft,
So war ein großer Traum, wie ich ihn fand.
[…]
In seiner ersten Notiz skizzierte Hofmannsthal den Plan zu diesem Gedicht: "als Einleitung halbwacher Morgentraum mit undeutlich bewusster Wohnung: in einem Lusthaus […]. Ein Traum von großen Magiern". Aus dem "halbwachen Morgentraum" soll und wird ein Gedicht hervorwachsen - eine Szenerie, die ganz genau so und teilweise wörtlich in Richard Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" (III.1) vorgebildet ist.
Alban Berg begann seine kompositorische Laufbahn als Komponist von Klavierliedern, die Teil einer quantitativ frappierenden Liedproduktion im Wien der Jahrhundertwende sind: Das Klavierlied hatte zu dieser Zeit in Wien schon eine lange, vor Franz Schubert beginnende Gattungstradition und erlebte als Gattung von besonderer Lokalbedeutung nun einen späten, abschließenden Höhepunkt. Kaum ein Oeuvre eines in Wien lebenden Komponisten dieser Zeit zeigt nicht die Anziehungskraft eines musikalischen Lyrismus. Das gilt für Wilhelm Kienzl, Julius Bittner, Carl Lafite, Joseph Marx ebenso wie für Franz Schreker, Alexander von Zemlinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern sowie für die beiden bedeutendsten Lied-Komponisten dieser Zeit - Hugo Wolf und Gustav Mahler. Ihre Liedkompositionen markieren zugleich einen zweifachen gattungsgeschichtlichen Wendepunkt, denn war Wolf der letzte, in dessen Schaffen das Klavierlied zwar noch einen alles dominierenden Rang einnahm, sich aber endgültig vom bis dahin gültigen Strophenlied-Modell ablöste und zum Deklamationslied entwickelte, so führte Mahlers Entwicklung von frühen, späterhin orchestrierten Klavierliedern zum Orchestergesang und zur Synthese zwischen Lied und Symphonik.
Die Jahreswende 1908/09 erleben Gerty und Hugo von Hofmannsthal auf Schloß Neubeuern am Inn als Gast des Barons Jan Wendelstadt und seiner Gemahlin Julie. Eingeführt worden war der Dichter dort bereits am 1. Dezember 1906, zusammen mit Harry Graf Kessler, von seinem Freund Eberhard von Bodenhausen. Damals schon traf er dessen Schwägerin Ottonie, Gräfin Degenfeld Schonburg. Die Gräfin hatte ein halbes Jahr zuvor geheiratet. Eine außergewöhnlich tiefe Liebe verband sie mit ihrem Mann, dem Grafen Christoph Martin von Degenfeld-Schonburg, Bruder der Baronin Wendelstadt, die auch mit dessen frühem Tod nicht enden sollte. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang Dezember 1906, befand sie sich in der glücklichsten Phase ihres Lebens. Sie hatte damals wohl kaum Augen für den neuen Gast, zumal Neubeuern gewohnt war, bedeutende Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben zu empfangen. Gräfin Ottonie war viel zu beschäftigt mit sich selbst. Wie scharf ist nun der Kontrast, als Hofmannsthal sie 1908 wiedersieht. Seelisch und körperlich zusammengebrochen, ist sie zu diesem Zeitpunkt an den Rollstuhl gefesselt. Die 26jährige Frau hat im März ihren Mann verloren, drei Monate nachdem sie ihre Tochter zur Welt gebracht hatte. Durch die schwere Geburt - sowie die physischen und besonders die psychischen Anstrengungen während Krankheit und Tod ihres Mannes - verlor sie allen Lebensmut. Der seelische Zusammenbruch hat seine körperlichen Symptome. Anderthalb Jahre lang bleiben ihre Beine gelähmt. Während einer Schlittenfahrt in den ersten Januartagen des Jahres 1909 (Hofmannsthals bleiben nur bis zum 3. in Neubeuern) gewinnt der Dichter Einblick in den depressiven Gemütszustand der jungen Witwe und wohl zu diesem Zeitpunkt schon rät er ihr, Trost und Hilfe in der Welt der Literatur zu suchen.
Die "Elektra" von Hofmannsthal und Strauss veranlaßte Carl Dahlhaus zu einem Plädoyer für die klassische Tragödie sophokleischer Prägung, die weder durch die Sprachkunst Hofmannsthals noch durch die Musik von Strauss in der Oper zur Gänze wieder zugänglich wurde, ja der Musik recht eigentlich überhaupt nicht erreichbar ist. Lapidar fiel ein Satz, als stammte er selbst aus einem antiken Drama oder aus der aristotelischen Poetik: "denn an die tragische Dialektik reicht Musik nicht heran." So viel Musik - entweder für sich genommen oder in der Oper - vermag, so wenig kann sie alles ausrichten. Entgegen einer verbreiteten Überzeugung war und ist Theater mehr, als Oper sein kann. Reicht Musik indessen an die komische Dialektik heran? Diese Frage läßt sich an den 1911 in Dresden uraufgeführten "Rosenkavalier" stellen, der nicht nur das nach "Elektra" zweite Ergebnis der Gemeinschaftsproduktion von Hofmannsthal und Strauss war, sondern auch, wie man weiß, zu einem beispiellosen, weltweiten Publikumserfolg geworden ist. Opern, die danach noch Welterfolge wurden, waren, so scheint es, für lange Zeit in den allermeisten Fällen keine Komödien mehr.
"Vor einem Bild", so Arthur Schopenhauer, "hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einem Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen." Es ist, als hätte Günter Eich eben diese Aufforderung ernst genommen und in ein subversives Sprachspiel verwandelt. Sein Gedicht "Munch, Konsul Sandberg" aus dem Jahre 1963 erweist sich dabei als ebenso bemerkenswerter wie eigenwilliger Beitrag zum Thema "Text und Bild". [...]Wenn Günter Eichs Gedicht aus dem Band "Zu den Akten" von 1964 etwas aus dem Bild übemimmt, was gleichsam ins Auge springt, so ist es jene genannte Ambiguität zwischen Präsenz und Entzug, zwischen Flächigkeit und Plastizität der Gestalt, die der Text nun seinerseits, in einer Art "overkill" gleichsam, radikalisiert. Eich besingt nicht das Bild, er kokettiert nicht mit der Tradition des Bildgedichtes, er treibt und hintertreibt vielmehr die Erwartung des Lesers durch die Konstruktion eines provozierenden Sprechers. Einer solchen Konstruktion scheinen Fragen vorausgegangen zu sein, wie: Kann ein Text etwas von der Spannung und Energie, die das Gemälde ausstrahlt, "übersetzen"? Läßt sich etwas von der (Nach-)Wirkung dieses Bildes fassen, ohne in gängige Register zu verfallen, mit denen Bilder in der Regel kommuniziert werden? Kann, mit anderen Worten, das Verhältnis von Text und Bild anders artikuliert werden als im Modus der Beschreibung, eines Narrativs oder einer hermeneutischen Belehrung - Modi allesamt der Bemächtigung, der Rivalität oder der Unterwerfung?
Biographisch gehört Hofmannsthal zu jenen Autoren [...] der Jahrhundertwende, für die bildende Kunst selbstverständlicher Teil ihrer Umwelt und Erziehung war. [...] Hofmannsthal sucht, könnte man verallgemeinernd sagen, ästhetische Erfahrung nicht an die Wissensdiskurse seiner Zeit anzuschließen, sondern sie für eine Kommunikation über sinnliches Erleben fruchtbar zu machen. Es geht ihm nicht um eine Opsis, die neue Dinge sehen will, wie in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, sondern um ein Schauen, das Dinge neu sieht. Die bildende Kunst ist für Hofmannsthal das Medium, in dem er, mehr noch als im eigenen der Literatur, Bedingungen der Kreativität, der kulturellen Transformation mentaler Bilder und der Semiose bedenkt. Sie ist ein Lebensthema Hofmannsthals, das Freundschaften und Beziehungen, etwa zu dem Maler und späteren Schwager Hans Schlesinger, zu Richard Beer-Hofmann und Hermann Bahr, später zu Sammlern wie Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe oder eben zu Ludwig von Hofmann, prägt.
Ursula Renner rezensiert Waltraud Wiethölters Tübinger Habilitationsschrift "Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts", in der ein Zugang zu Hofmannsthals Erzählprosa erprobt wird, der über die Grenzen der abgeschlossenen Texte hinausgreift und sie als ein chronologisch sich entwickelndes Textkontinuum versteht. Neben den Erzählungen werden die essayistische Prosa und die Notizen aus dem Nachlaß einbezogen, welche in ihrem Umfang - und auch ihrer Bedeutung - erst nach und nach durch die Bände der kritischen Ausgabe ans Licht kommen. Die Verfasserin macht einen Zusammenhang sichtbar, der von dem frühen autobiographischen Fragment "Age of Innocence" und dem "Märchen der 672. Nacht" und den vieldiskutierten "Brief" des Lord Chandos, das Kunstmärchen "Frau ohne Schatten" bis hin zum "Andreas"-Fragment reicht, an dem Hofmannsthal seit 1907 bis zu seinen letzten Lebensjahren "laborierte". Die Anlayse dieses Romanentwurfs beansprucht den größten Raum - mehr als 100 Seiten - in Wiethölters Untersuchung.
Für die Literatur der Jahrhundertwende werden Werke der bildenden Kunst auf eine Weise bedeutsam, die sich wesentlich von der Kunstrezeption früherer Epochen unterscheidet: Im Zusammenhang mit den literarischen Neigungen zur Symbolisierung kommt dem Bild bzw. der BiIdhaftigkeit des Ausdrucks eine zentrale Rolle zu. Bildende Kunst als Medium visueller Vergegenwärtigung erhält einen neuen Stellenwert innerhalb des literarischen Produktionsprozesses. Am Beispiel Hofmannsthals läßt sich dies besonders gut verdeutlichen, da er sich zeitlebens intensiv mit der Kunsttradition auseinandersetzte und Bild"vorgaben" in hohem Maße in sein Werk einbezog. Diese "produktive Rezeption" (G. Grimm) der bildenden Kunst bei Hofmannsthal läßt sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen verfolgen. Sie ist nicht nur konkret faßbar in den lyrischen Dramen und den Kunstaufsätzen. Sie ist auch erkennbar in elementaren Erfahrungen (wie dem Van-Gogh-Erlebnis in den Briefen des "Zurückgekehrten" und dem Anblick der archaischen Koren im dritten Teil der "Augenblicke in Griechenland") und schlägt sich nieder in grundsätzlichen philosophischen und kunstästhetischen Fragestellungen.
Als der gerade frühpensionierte Lehrer und Reformpädagoge Ludwig Gurlitt (1855–1931) im Spätherbst 1907 nach Wien kommt, um die Festrede beim neugegründeten Österreichischen Verein für Schulreform zu halten, legt Hofmannsthal sich ins Zeug. Unter der Überschrift "Ludwig Gurlitt. (Gelegentlich seines heute stattfindenden Vortrages im Verein für Schulreform.)" erscheint am 19. November 1907 in der Wiener "Zeit" eines seiner schönsten Personenporträts (Anhang III). Anlass genug, den Festredner, einen 'geometrischen Ort' der Schulreformbewegung um 1900, und die Situation einmal genau in den Blick zu nehmen. Es soll darum gehen, Hofmannsthals Artikel im Hinblick auf Personen und Themen zu kontextualisieren, was, abgesehen von den notwendig knappen Hinweisen in der Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe, die Forschung bislang nicht weiter interessiert hat. Gurlitts Familiennetzwerk, seine Ausstrahlung, sein pädagogisches Programm und sein Auftritt in Wien können aber Hofmannsthals Faszination begreifbar machen und auch ein Supplement liefern zu den "Briefen des Zurückgekehrten" (1907) und zu Hofmannsthals kulturpolitischer Position am Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Anhang präsentiert ein Zeitschriftendokument und Zeitungsquellen; bei Else Gurlitts späten Erinnerungen an ihre Begegnungen mit Hofmannsthal handelt es sich um einen Erstdruck aus dem Privatarchiv der Familie Gurlitt.
Hofmannsthals Unkenntnis der Slawen vor der Zäsur des Großen Krieges ist trotz der Freundschaft, die ihn mit dem böhmisch-stämmigen Schriftsteller Robert Michel verbindet, der zeitlebens Österreichs eigenen Orient in der okkupierten und dann annektierten Provinz Bosnien-Herzegowina beschreibt, kaum zu überbieten. Die weitaus größte Sprachgruppe der Monarchie ist für ihn höchstens ein imperiales Kolorit; sie wirkt - wenn überhaupt - exotisierend, erotisierend und dämonisierend wie in der "Reitergeschichte" (1899), in welcher der Wachtmeister Anton Lerch auf dem Feldzug Radetzkys in Mailand Frau Vuic erliegt. Der Slawe bleibt vorab das Feindbild Nummer eins im Innern Österreichs, dessen kulturprägende Komponente im Selbstverständnis Hofmannsthals deutsch ist. Gerade seine herausgeberischen Tätigkeiten sind symptomatisch für seine zunächst bornierte Haltung. Die deutsche "Cultur" (denn eine andere gibt es in der Wahrnehmung Hofmannsthals lediglich marginal) sei zu fördern, hier habe der Dichter "Führerschaft" anzumelden - wie er es 1906 in seinem Essay "Der Dichter und diese Zeit" formuliert. In Anschluss an Goethe sieht er darum seine Aufgabe mitunter darin, kanonische Literatur in den beiden Bänden "Deutsche Erzähler" (1910) und "Deutsches Lesebuch" (1912) zu versammeln.
Man gelangt zu interessanten Ergebnissen, wenn man folgende Verse von Ludovico Ariosto genauer untersucht, die gleich zu Beginn des Werkes, fast als Auftakt des Romans, zitiert werden: "Oh quante sono incantatrici, oh quanti / incantator tra noi che non si sanno." Diese Verse stammen aus dem VIII. Gesang des Ritterepos "Orlando furioso", der besonders wichtig ist, da gerade hier der Held zum ersten Male vorgestellt wird. Eine weitere symbolische Bedeutung ist in diesem Gesang ebenfalls zu erkennen, denn gerade hier läßt der zitierte Zauber die Liebenden "la lor prima forma", d.h. ihr urprüngliches, wahres Antlitz zurückgewinnen. Berücksichtigt man auch die Tatsache, daß der Held bei seinem ersten Auftreten schon im Aufbruch begriffen ist, so kann behauptet werden, daß bereits an dieser Stelle das Thema der Bildungsreise eingeführt wird, die sich allmählich in Selbstsuche verwandeln wird. Parallelen zum "Andreas" beginnen somit schon ansatzweise sichtbar zu werden. Gerade bei seinem ersten Auftritt hat der Aufbruch des Helden Orlando nichts Zufälliges an sich, sondern weist schon auf die immanente Struktur des Werkes hin, wo jede einzelne Gestalt im Begriff ist, sich fortzubewegen, um vor jemandem zu fliehen oder um jemandem zu begegnen. Eine unaufhörliche Bewegung der Trennung und Vereinigung durchzieht das ganze Werk.
Jede Episode wird durch eine weitere aufgehoben; auf diese Weise erhält man den Eindruck einer unaufhaltsamen Mobilität, und während sich die ganze Darstellung ins Endlose ausweitet, weisen die einzelnen Geschehnisse einen fragmentarischen Charakter auf.
Ariosto selbst hat sein Werk nie als abgeschlossen betrachtet und daran immer wieder, bis zu seinem Tode - im Jahre 1533 - gearbeitet.
Auch hier beweget sich in reiner Luft
nachdenklich und ergriffene Gestalt:
allein sie hängt nicht bange am Bezirk
des Tempels, hebt den leichten Fuß hinweg
und wagt sich einsam in das starrende
befremdliche Gefilde und empor
und drängt tiefathmend, einsam, großen Strom
des schicksalvollen Aethers sich ins Herz.
H.H.
Im November 1992, vier Jahre nach dem Abschluß der Abteilung 'Gedichte' in der Kritischen Ausgabe Sämtlicher Werke Hugo von Hofmannsthals, erwarb das Freie Deutsche Hochstift ein Exemplar der Erstausgabe von Rudolf Alexander Schröders erstem Gedichtband: "Unmut. Ein Buch Gesänge", mit dem Druckvermerk: "Erschienen im Verlage der Insel bei Schuster & Loeffler. Berlin SW. 46 im Oktober 1899. Gedruckt in der Officin W. Drugulin in Leipzig". Auf das Vorsatzblatt schrieb Hofmannsthal das zitierte Gedicht und versah es mit seinen Initialen. Weitere Handschriften zu diesem Text sind nicht bekannt. Offenbar hat der Dichter Schröders Lyrikband verschenkt und ihn mit seinem eigenen Gedicht für den Empfänger kommentiert. Wer der Beschenkte gewesen ist, wissen wir nicht.
Am Anfang allen literarischen Sprechens steht eine Schwellenerfahrung: der Schritt aus der erlebten Welt, dem vorsprachlichen Ereignis, aber auch dem abgenutzten Alltagsdiskurs in den Raum des Textes, der zunächst ein Raum des Schweigens ist. Es scheint, als gewinne, je weiter der Prozeß der Moderne voran schreitet, diese Schwellenerfahrung zunehmend an Intensität und als wüchsen parallel hierzu die Schwierigkeiten auf seiten des Autors, den Raum des Schweigens mit der Sprache seines Textes zu füllen. Die Erfahrung der Schwelle kann so stark werden, daß der Schritt in den Text die Qualität eines mystischen Durchbruchserlebnisses gewinnt, so etwa bei Peter Handke: "da ist noch jedesmal neu und vielleicht sogar gesteigert, eine Schwelle zu überwinden, von der ich glaube, daß sie eine verbotene Pforte ist - nicht 'glaube', sondern von der ich empfinde. Was ich mir eigentlich nicht erklären kann." Wenn Handke im Fortgang des großen Gesprächs mit Herbert Gamper dennoch einen Eindruck von der Anstrengung zu vermitteln versucht, ...
Sehr geehrte Freunde des Varietés,
sehr geehrte Artisten und Claqueure,
es freut mich, daß Sie so zahlreich erschienen sind zu dieser Versammlung, und daß ein jeder von ihnen seinen Zehnt abgibt von seinem Herz, womit wir die Kosten des Mitleids mit Herrn Chandos tragen wollen. Von den Reden meiner zahlreichen Vorgänger kam viel Mitgefühl für sein Schicksal, daß der Tag davon nun bereits bis an den Rand gefüllt ist, und nur ein Seufzer noch fehlte, und schon schwappte etwas davon über und tropfte in mein Gemüt, und dann besitze auch ich ein paar Tränen. Damit will ich aber nun lieber mein Unglück beweinen. Es ist nicht so elegant gekleidet wie das des Herrn Chandos, der seinen Traum wie einen viel zu großen Anzug auf sich zurechtschneidern ließ, damit er ihm am Ende dann auch paßte. ...