830 Literaturen germanischer Sprachen; Deutsche Literatur
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Hans-Georg Soldat rezensiert für die Eßlinger Zeitung die 1997 im Carl Hanser Verlag erschiene Autobiographie "Erwachsenenspiele" von Günter Kunert. Das Buch ist übervoll von skurrilen Erlebnissen, Begegnungen, Gesprächen mit Prominenten und weniger Prominenten. Kunerts Reisen in Ost und West sind Fundgruben staunenswerter Geschehnisse, selbst seine Übersiedlung 1979 nach Westdeutschland ist bei der Schilderung der bürokratischen Abläufe, des Verhaltens der offiziellen Stellen eine Satire in sich. Günter Kunerts gelassene, humorvolle Erzählweise entlarvt das eigentliche Böse, nämlich die unglaubliche Mittelmäßigkeit der Funktionäre und Schreibtischtäter - Hermann Kant wird einmal so apostrophiert - fast wie von selbst. Ähnlich wie im Pointillismus entsteht aus Einzelbeobachtungen das klare Bild einer DDR, die sich auf nichts so gut verstand, wie ihre anfangs gutgläubigen Verteidiger immer neu zu enttäuschen und schließlich in die Opposition zu treiben. »So ein "Vaterland" wie die DDR kriege ich zum herabgesetzten Preis im nächsten Spermarkt«, schreibt Günter Kunert grimmig gegen Ende des Buches, wenn er die Bemühungen von Klaus Höpcke, des DDR-"Literaturministers", schildert, ihn mit einem Apell ans Vaterlandsbewußtsein im Lande zu halten.
Mehr als 65 Jahre lang setzte sich der Schriftsteller und Literaturkritiker Rudolf Gottschall (1823-1909) mit Heine auseinander - in Aufsätzen, Rezensionen, Literaturgeschichtsbüchern und sogar in Gedichten. Gottschall war mit Heine persönlich bekannt: er hatte ihn 1851 in Paris besucht und ging in seinen Memoiren davon aus, daß Heine "günstig über [ihn] dachte". Auch wenn Gottschall von Heines 'Charakter' mitunter enttäuscht war, so blieb er doch stets ein großer Verehrer von Heines 'Talent'. Daran änderte sich auch nichts, als aus dem liberalen Oppositionellen der 1840er Jahre ein Geheimer Hofrat mit Adelstitel geworden war, der Hymnen auf den deutschen Kaiser verfasste. Der alte Gottschall nahm Heine sogar gegen Angriffe von rechts in Schutz.
Was Wende ist, hat in der Literatur eine enorme Spanne. Wende als Aufhebung geographischer Trennungen (bei Christa Schmidt in "Rauhnächten") und noch mehr örtlicher Einschränkungen (Irina Liebmann in ihrem Roman "In Berlin"). Wende weiter als gewissermaßen "Vorher-Nacherher"-Betrachtungen, als Räsonnement, als verbale Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im gesellschaftlichen Geflecht der früheren DDR. Volker Braun hat diese Form in der >Unterhaltung< (wie er es selbst nennt) "Der Wendehals" vielleicht am reinsten dargestellt. Daniela Dahn wählt in ihren Essays eine Mischform aus beiden. Auch Marion Titze wäre zu nennen, die mit "Unbekannter Verlust" ebenfalls in diese Kategorie gehört. Natürlich ist es völlig unmöglich, die Fülle jener Bücher auch nur andeutungsweise zu behandeln, die sich unterdessen zum Thema Wende angehäuft haben. Hier kann es eigentlich nur darum gehen, ein paar Schneisen zu schlagen, ein paar Autoren zu Wort kommen zu lassen, die sich mit unterschiedlichsten Intentionen dem Thema genähert haben.
"Hi!" hat einer gesagt, "ist es okay, wenn wir dich duzen? Willst du lieber in Englisch lesen? Gut, bis hierhin bist du vorgedrungen durch das labyrinthische Netzwerk des WWW. War es Mundpropaganda oder ein Link, bist du wahllos oder zielgerichtet durchs WWW gereist? Egal, jetzt bist du hier, und wir freuen uns, dass du nicht sofort weitergesprungen bist". Wen kümmert's? Gleichgültig wie diese Passage zunächst zu werten ist - als paratextuelles Direkt-Marketing für den Internet-Roman Spielzeuglandoder als dessen erzählerischer Anfang - der geduzte Leser fühlt sich unwillkürlich an das Konzept postmoderner Klassiker erinnert. So notiert der Erfolgsautor Flannery, eine Schlüsselfigur aus Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht. "Bin auf den Gedanken gekommen, einen Roman zu schreiben, der nur aus lauter Romananfängen besteht. Der Held könnte ein Leser sein, der ständig beim Lesen unterbrochen wird. (...) Ich könnte das Ganze in der zweiten Person schreiben: du, Leser ..." (Calvino 1983: 237). Im Kontext der Internet-Literatur wird eben jenes Konzept, das Flannery als Romanhandlung entwirft, zum Strukturmerkmal des hypertextuell organisierten Diskurses. Hypertexte legen es darauf an, den Lesefluß durch untereinander vernetzte Verweise, sogenannte "Links", zu unterbrechen und den Leser in einen "Taumel der Möglichkeiten" zu stürzen. Die zentrale Organisationsidee des Hypertextes ist die Vernetzung der Links mit andern Links. Dieses Netz aus Verweisen hat eine zentrifugale Wirkung. Das Link ist die hypertextuelle Aufforderung an den Leser einen rezeptiven Sprung zwischen verschiedenen Fragmenten oder zwischen verschiedenen Ebenen zu vollziehen. Dabei läßt sich der Hypertext, der explizit als unabschließbarer "Text in Bewegung" konzipiert ist, nicht zuendelesen. Man hat einen Text vor sich, der im Grunde nur aus alternativen Textanfängen besteht.
So eingehend sich die deutsche Literaturwissenschaft mit Uwe Johnson im ganzen bislang beschäftigt hat - an einem seiner Werke ist sie dabei vorbeigegangen: an Zwei Ansichten. Bei seinem Erscheinen 1965 von immerhin einem halben Hundert Rezensionen begrüßt, ist sehr bald von dem Roman nicht mehr die Rede gewesen, nur ein paar Aufsätze und einige Besprechungen in Gesamtdarstellungen sind später zu ihm noch zu finden. Jüngere Materialien-Bände zu Johnson müssen deshalb auf seine Einbeziehung in ihre Rezeptions-Überblicke schon verzichten, oder sie greifen verlegen auf Beiträge zurück, die mehrfach anderweit schon gedruckt worden sind.
Goethe und die Renaissance
(1997)
Goethes Bewußtsein für die Modernität und Zeitbedingtheit des eigenen Ichentwurfes entsteht aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Nähe einer als Bildungsprinzip verstandenen, normativen Antike und der Ferne ihres Wiederauflebens am Beginn der neuzeitlichen Periode, in der Goethe nach einem modernen Ichprinzip sucht. Goethe antwortet darauf mit der subjektgeschichtlichen Orientierung seines autobiographisch orientierten Bildungsgedankens. Die Genese von Epochenbegriffen und die Verzeitlichung des Subjektverständnisses erscheinen in seinem Werk aus heutiger Sicht als komplementäre Prozesse.
"Der rote Sattel der Armut ist ein rätselhaftes Bild insofern, als hier nicht nur eine fremde Metapher aufgerufen wird, sondern auch noch für ihre Entschlüsselung auf den Talmud verwiesen wird. Der aber galt im 19. Jahrhundert als enigmatisches Buch. Sowohl der Traditionskritik der Aufklärung als auch den Emanzipationsbestrebungen des bürgerlichen Zeitalters war die Ablehnung des Talmuds gemeinsam, die Kenntnis seiner Bücher für die meisten Leser Bettine von Arnims nicht vorauszusetzen. Bestenfalls als historisches Dokument einer im Vergehen begriffenen Kulturstufe konnte der Talmud noch Aufmerksamkeit für sich beanspruchen. Warum also wird dann an dieser Stelle der Talmud bemüht, wo doch das Bild durch den Verweis noch zusätzlich verrätselt wird?"
Schüttelgedichte
(1997)
Die Schüttelgedichte von Harun Dolfs werden hier zur Feier der hundertsten Wiederkehr ihres Erstdrucks neu vorgelegt. "1896", schreibt Manfred Hanke in seinem Buch Die Schüttelreimer (Stuttgart 1968), "als noch der hurtige Allgemeine Deutsche Reimverein mit seinen Almanachen Schüttelreime in die Welt setzte, erschien in Berlin auch schon die erste Einzelschrift. ... Der Verfasser nannte sich Harun Dolfs - ganz offensichtlich ein Pseudonym; wer dahintersteckte, blieb im Dunkeln. Die Gedichte waren höchst beachtenswert. Hier bewies jemand - bei langem Atem - Formtalent und investierte Geist und Witz". ...
Die im Verlauf dieser Arbeit angestellten Überlegungen sollten versuchen, einige konstitutive Elemente der jüdischen Autobiographie nach dem Holocaust herauszuarbeiten. In einem ersten, allgemeinen Anlauf wurde dazu diese spezifische Ausprägung des literarischen Genres ,Autobiographie" in die Gattungstradition gestellt, mit dem Ziel, ihren spezifischen Charakter - oder, in anderen Worten: ihren Beitrag zur literarischen Evolution - deutlich hervortreten zu lassen. Es hat sich dabei gezeigt, daß die jüdische Autobiographie nach dem Holocaust sich der zentralen Erfahrung der Moderne, der Entfremdung von den ursprünglichen Lebenszusammenhängen, nicht verschließen kann. Die Erfahrung des sinnlosen, aber planvollen Völkermords ist die jüdische Variante der universalsten aller möglichen Entfremdungen: die Bestreitung des Lebensrechts. Infolge dieser Erfahrung ist den Überlebenden die Möglichkeit der entelechischen und teleologischen Autobiographie in der Tradition GOETHEs versagt; an ihre Stelle ist das Prinzip der Kontingenz, des bloßen Zufalls getreten, der allein das Überleben bestimmt hat. Im zweiten Hauptteil dieser Arbeit wurde dann versucht zu zeigen, wie sich das autobiographische Individuum dieser Erfahrung der lebensbestimmenden Kontingenz stellt, mit welchen literarischen Mittteln es in seiner Autobiographie diese Erfahrung bewältigt und welche Auswirkungen diese Erfahrung auf die Entwicklung und Erhaltung der eigenen Identität hat bzw. inwieweit sie diese überhaupt erst konstituiert. Zu diesem Zweck wurden die autobiographischen Texte von drei Autoren ausgewählt, die den Antisemitismus bis zum Massenmord im Dritten Reich als Kinder und Jugendliche auf verschiedenen Wegen überlebt haben und reflektiert darüber erzählen können. Allen ausgewählten Autoren ist gemeinsam, daß sie ihr autobiographisches Schreiben - teils in den Autobiographien selbst, teils in Reden und Aufsätzen - gründlich reflektieren und kommentieren. Daraus ergibt sich das Modell der Darstellung, nach dem in diesem interpretierenden Teil der Untersuchung vorgegangen wurde: Nach einer kurzen Einleitung, die einen kursorischen Uberblick über die zu besprechenden Texte sowie eine Einordnung in die Reihe der bereits untersuchten Werke enthält, folgt eine Darstellung der Einlassungen der Autoren zu ihrem autobiographischen Schreiben, die gefolgt wird von der eigentlichen Interpretation der autobiographischen Texte. Des besseren Kontrastes wegen wird den Autobiographien der Überlebenden GREVE, GOLDSCHMIDT und KLÜGER diejenige Werner KRAFTS gegenübergestellt, der - eine Generation früher geboren und bereits 1933 über Frankreich nach Palästina emigriert - noch ganz im Geist GOETHEs eine entelechische und teleologische Autobiographie zu schreiben vermag, die des Autors Selbstvollendung im deutschen Geist und in der deutschen Kultur nachvollzieht - freilich nicht ohne die theoretische Einsicht, daß diese Möglichkeit einer späteren Generation von Juden in Deutschland nicht mehr vergönnt sein wird. ...